Eschers EM-Tagebuch, Tag 26: Philosophie > Projekt

Nach dem ersten Halbfinale ist vor dem zweiten Halbfinale! In meinem heutigen Tagebuch-Eintrag blicke ich auf das großartige, phänomenale, technisch atemberaubende Spiel zwischen Spanien und Italien. Die Spanier beweisen, dass niemand so gut den Ballbesitzfußball beherrscht wie sie. Im zweiten Teil blicke ich voraus auf die Partie heute Abend: Dänemark gegen England dürfte kein halb so spektakuläres Spiel werden, dafür ist es aus formal-taktischer Sicht äußerst interessant.

Philosophie schlägt (fast) Projekt: Italien gegen Spanien

In einer berühmten Szene des Films „Dark Knight Rises“ erklärt Schurke Bane seinem Widersacher Batman, warum dieser keine Chance gegen ihn habe. Batman nutze die Dunkelheit nur als Waffe. Bane hingegen trage die Finsternis als Teil in sich. „Ich wurde in ihr geboren, in ihr geformt.“

Mit Spanien und Italien trafen im Halbfinale jene zwei Teams aufeinander, die bisher den besten Ballbesitzfußball dieser EM gezeigt hatten. Die Spanier sammelten bis zum Viertelfinale durchschnittlich 70% Ballbesitz, die Italiener kamen auf 60%. Trainer Roberto Mancini erklärte vor dem Spiel, er habe hohen Respekt vor dem spanischen Ballbesitzfußball. Doch seine Mannschaft wolle ihrem Stil dieser EM treu bleiben: hohes Pressing, flache Pässe, Dominanz über Raumbesetzung.

Italien bemühte sich, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen. In der Anfangsphase schoben sie weit nach vorne, störten die Spanier früh. Im Ballbesitz jagten sie die Kugel nicht direkt nach vorne, sondern versuchten, sich mit flachen Pässen auf ihre favorisierte linke Seite zu kombinieren.

Nur: So recht ging dieses Vorhaben nicht auf. Zugriff erzeugen zu wollen, ist die eine Geschichte, Zugriff zu erlangen eine andere. Oder wie es ein Trainer einst ausdrückte, dessen Mannschaft vom FC Barcelona abgeschossen wurde: „Unser Matchplan war auf dem Papier gut. Wir hatten nur nicht einkalkuliert, dass die Spanier den Ball mit einer Wucht passen, mit der normale Teams auf das Tor schießen.“

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In diesem Spiel sah man den deutlichen Unterschied zwischen Projekt und Philosophie. Italiens Trainer Roberto Mancini hat das Projekt Offensivfußball ausgerufen. Das Trainerteam hat sich ein cleveres Spielsystem ausgedacht, die Spieler führen es gewissenhaft aus. Die Spanier hingegen haben sich der Philosophie Ballbesitzfußball verschrieben. Passen, Freilaufen, Passen, Freilaufen: Das ist ihr Einmaleins. Von der U16 an jagen sich die Junioren-Nationalteams die Pässe um die Ohren. Sie haben, um Bane zu zitieren, den offensiven Ballbesitzfußball nicht übernommen, sie sind damit aufgewachsen. Die Italiener konnten damit nicht mithalten, und so kam am Ende Spanien wieder einmal auf 70% Ballbesitz.

Dass Spanien das Halbfinale nach Belieben dominierte, lag auch daran, dass sich Luis Enriques taktische Entscheidungen allesamt als richtig entpuppten. Dani Olmo entzog sich als zurückfallender Stürmer dem Zugriff der italienischen Innenverteidiger. Pedri brillierte auf der halblinken Angriffsseite. Er bereitete die Angriffe auf halbrechts vor und bediente den von rechts startenden Stürmer Mikel Oyarzabal. Auf halbrechts fiel Koke offensiv weit weniger auf. Defensiv jedoch steckte er Spielgestalter Marco Verratti in seine Westentasche; etwas, was in den vergangenen Jahren niemanden in dieser Form gelungen war.

Nun höre ich schon wieder die Kritiker des spanischen Fußballs unken: Ja, Ballbesitz und Pässe sind schön und gut, aber am Ende sei das nur brotlose Kunst. Fußball gehe ums Toreschießen, und da ist Ballbesitz egal! Was an sich ja schon einmal Quatsch ist, weil 70% Ballbesitz allein schon dafür sorgen, dass der Gegner gar nicht erst zu seinem Spiel findet. Wie schon gegen Österreich wirkten die Italiener an diesem Abend nicht wie die neuen Mancini-Italiener, sondern wie die alten Klischee-Italiener. Sie wären sicher froh gewesen, wenn sie nicht 120 Minuten hinter dem Ball hätten herlaufen müssen.

Vor allem aber ist dieses Argument Quatsch, weil die Spanier durchaus Chancen hatten. Fbref.com weist einen Expected-Goals-Wert von 1,6 aus für die Spanier, wobei einige ihrer besten Angriffe in diesem Wert gar nicht mitinbegriffen sind (siehe Kurzbeobachtungen). Italien hingegen kam auf 0,4.

Überhaupt, Expected Goals. Keine Mannschaft hat einen so hohen Expected-Goals-Wert pro neunzig Minuten wie die Spanier. 17 Tore hätte ein durchschnittliches Team mit ihren Chancen erzielt. Anders gesagt: Die Mannschaft, die mit 13 Treffern ohnehin die meisten Tore dieses Turniers erzielt hat, hätte sogar noch deutlich mehr erzielen können. Ein Problem mit dem Herausspielen von Torchancen haben die Spanier sicher nicht. Der Vorwurf, sie spielen nur Querpässe, trifft kaum zu. Sie spielen genauso viele Querpässe, wie sie spielen müssen, ehe sich eine Lücke beim Gegner auftut.

Viel eher könnte man den Spaniern ein Stürmerproblem attestieren. So großartig Olmos Auftritt gegen Italien war: Ein Tor erzielte er genauso wenig wie Strafraumsprinter Oyarzabal. Da half es auch wenig, dass Alvaro Morata den wichtigen Ausgleichstreffer erzielte.

Ich würde Spanien noch eine andere Problemzone attestieren: die Verteidigung. Schaut man auf die Gegentore, die sie in der K.O.-Runde kassiert haben, war keines wirklich zwingend. Gegen die Schweiz legten die Innenverteidiger selbst das 1:1 auf. Gegen Italien grätschte Aymeric Laporte seinen Nebenmann Eric García an und öffnete damit Chiesa den Weg zum Tor. Ohne Abwehrfehler hätte Spanien beide Partien nach regulärer Spielzeit gewonnen.

Das ist aus meiner Sicht der große Unterschied zwischen den Jahren 2008 bis 2012 und dem Jahr 2021: Damals verteidigten Sergio Ramos, Gerard Pique und Carles Puyol alles weg, was es zu verteidigen gab. Heute sind die Innenverteidiger (noch) nicht auf diesem Niveau angelangt. Dem Gegner genügen die wenigen Angriffe, die sie bekommen, um mindestens ein Tor zu erzielen. In dieser Hinsicht agierten die Italiener typisch italienisch.

So unnötig das spanische Aus gegen Italien gewesen sein mag: Zum Einen gewann am Ende das Team, das vielleicht nicht an diesem Abend stärker war, dafür aber ein konstantes Turnier abliefert. Die Italiener sind ein würdiger Finalist. Zum Anderen traue ich den Spaniern zu, in achtzehn Monaten bei der Weltmeisterschaft noch stärker aufzutreten. Mancini mag mit seinem Offensivfußball ein großartiges Projekt geschaffen haben. Spanien verfolgt eine Philosophie.

Duell der Stabilität: England gegen Dänemark

Das erste Halbfinale verzauberte mich mit hohem Tempo und irrem technischen Können. Ich glaube nicht, dass das zweite Halbfinale damit wird mithalten können. Stattdessen erwarte ich ein Spiel, das Nicht-Taktikliebhaber als „Spiel für Taktikliebhaber“ bezeichnen würden.

England ist die mit Abstand stabilste Mannschaft des Turniers. In fünf Spielen haben sie kein einziges Gegentor kassiert. Besser noch: In fünf Spielen haben sie so gut wie keinen Fehler begangen, weder auf individueller noch auf taktischer Ebene. Gareth Southgates Matchpläne haben stets dafür gesorgt, dass die Engländer die Offensive des Gegners neutralisierten.

Die Dänen brauchen sich jedoch nicht zu verstecken. Ihr Halbfinaleinzug basiert nicht einzig auf ihrer emotionalen Vorgeschichte, sondern resultierte aus fußballerisch starken Leistungen. In jeder Partie hatten sie deutlich mehr Torchancen als der Gegner, nach Spanien weisen sie die zweitbeste Expected-Goals-Differenz aller Viertelfinalisten auf. Die dänische Offensive ist ein echter Prüfstein für die englische Defensive.

Aus taktischer Sicht stellt sich die Frage, wie beide Trainer ihre Mannschaft auf- und einstellen. Gestern habe ich in meiner Vorschau die Formationen beider Teams sowie 20 von 22 Spielern richtig vorhergesagt. Heute wird mir das wohl nicht gelingen. Die Trainer haben sowohl personelle wie formative Alternativen.

Die Gretchenfrage dürfte lauten: Vierer- oder Fünferkette? Sowohl die Engländer als auch die Dänen haben beide Varianten im Turnierverlauf erprobt. Die Dänen haben seit dem Finnland-Spiel jede Partie mit einer Fünferkette begonnen. Erst im Verlaufe der Spiele rückte Andreas Christensen aus der Abwehr ins Mittelfeld. Gegen England dürfte er das tun, sobald die Dänen etwas Kontrolle über das Spiel erlangt haben und ein zusätzlicher Spieler im Zentrum benötigt wird.

England wiederum dürfte ebenfalls mit einer Fünferkette beginnen, allein um die dänische Fünferkette zu neutralisieren. Deren Außenverteidiger nehmen eine wichtige Rolle im Spielaufbau ein. Gerade Joakim Maehle brilliert in seiner Rolle als offensiver Linksverteidiger. Southgate dürfte nur für ihn einen zusätzlichen Verteidiger abstellen.

Trifft ein englisches 5-2-3 auf ein dänisches 5-2-3, dürfte Christensen recht bald ins Mittelfeld rücken. Das wäre eine gefährliche Variante für England: Deren Doppelsechs agiert in diesem Turnier recht mannorientiert, würde also Pierre-Emile Hojbjerg und Thomas Delaney decken. Christensen könnte dahinter als freies Radikal das Spiel an sich reißen. Mikkel Damsgaard wiederum dürfte in den Raum hinter der englischen Doppelsechs stoßen.

Gegen einen dänischen Wechsel von Fünfer- auf Viererkette spricht die Klasse der englischen Außenstürmer. Dass die Engländer vergleichsweise konservativ gespielt haben, lag nicht zuletzt an den Gegnern. Kein Team erlaubte den Engländern, mit Tempo über die Halbräume zu kontern. Selbst Deutschland ordnete alles der Stabilität unter. Obwohl Raheem Sterling bislang kaum Raum zur Entfaltung bekam, hat er bereits vier direkte Torbeteiligungen vorzuweisen. Nicht auszudenken, wozu er fähig wäre, bekäme er tatsächlich mal mehr als fünfzig Zentimeter Freiraum.

Das größte Fragezeichen vor der Partie: Was passiert, sobald eine Mannschaft in Führung geht? Die Engländer mussten noch keinen einzigen Rückstand aufholen. Die Dänen konnten noch kein Spiel nach Rückstand drehen. (Der Fairness halber: Sie lagen nur gegen Belgien und Finnland zurück, und das Spiel gegen Finnland kann man kaum bewerten.) Um eine klassische Phrasenschwein-Aussage zu treffen: Der erste Treffer könnte diese Partie bereits entscheiden. Allein aus diesem Grund werden beide Trainer kein allzu hohes Risiko eingehen.

Ich persönlich tippe auf England, allerdings weder aus taktischen noch aus personellen Gründen. Sie gehen schlicht ausgeruhter ins Spiel. Ihr Viertelfinale war bereits nach 50 Minuten entschieden. Southgate konnte wichtige Spieler auswechseln und damit schonen. Dänemark musste beim 2:1 gegen Tschechien bis zum Schluss bangen, einige Spieler erlitten auf dem Feld Krämpfe. Als wäre das nicht anstrengend genug, mussten sie auch noch einen ganzen Tag von Baku nach London reisen. Englands Spiel fand in Rom statt. Flugzeit nach London: zweieinhalb Stunden.

Lange Reise, Auswärtsspiel, Gegner noch ohne Gegentor: Kaum ein Faktor spricht für einen dänischen Finaleinzug. Abgeschrieben wurden sie jedoch bereits nach dem vermaledeiten Vorfall gegen Finnland. Die Dänen können nur gewinnen.

Kurze Beobachtungen

  • Ich schätze Expected-Goal-Werte. Sie helfen, das Potential einer Mannschaft zu entschlüsseln. Je mehr Torchancen ein Team herausspielt und umso weniger es zulässt, umso wahrscheinlicher sind Erfolge. Glück und Pech vor dem Tor tarieren sich auf lange Sicht aus. Deshalb nutze ich Expected-Goals-Werte, um langfristige Entwicklungen nachzuverfolgen. Auf Matchebene funktioniert dieser Wert für mich schlechter. Spanien gegen Italien bot in dieser Hinsicht Argumentationsmaterial: Die zwei besten spanischen Pässe hinter die Abwehr führten nur nicht zu Torschüssen, da Oyarzabal das Timing vermasselte; einmal bei der Ballannahme, einmal beim Kopfball. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Spieler auf dem Niveau diese Situationen normalerweise besser löst, dürfte recht hoch sein. Somit gibt der letztliche Expected-Goals-Wert von 1,6 den Spielverlauf unzureichend wieder. Ein Wert, der rein auf Schüssen beruht, stellt nun einmal Halbchancen und starke Angriffe ohne Abschlüsse nicht dar.
  • Individual-Awards sind in einem Mannschaftssport wie Fußball ohnehin fehl am Platz. Man gewinnt als Team, man verliert als Team. Möchte man sie dennoch vergeben, sollte man wenigstens versuchen zu bewerten, welcher Spieler seiner Mannschaft am meisten geholfen hat. Im Spiel Spanien gegen Italien haben sich einige Spieler den Award „Star of the Match“ verdient. Olmo etwa, der an sechs Torchancen und einem Tor direkt beteiligt war. Oder Pedri, der seinen ersten Fehlpass in der 102. Minute gespielt hat. Oder Jorginho, der nicht nur den entscheidenden Elfmeter eiskalt verwandelte, sondern im Spiel acht gegnerische Pässe abfing. Und wer wurde nun Star of the Match? Chiesa. Tolles Tor, keine Frage. Aber in der ersten Halbzeit blieb er so unter dem Radar, dass sein Trainer bereits nach wenigen Minuten Ersatzmann Domenico Berardi zum Aufwärmen geschickt hatte. Wenn ich wissen will, wer das schönste Tor geschossen oder die meisten Elfmeter gehalten hat, brauche ich keinen Sponsoren-finanzierten „Star of the Match“-Award.

Leseempfehlungen

Spox: Auswärtsspiel – die SPOX-Kolumne: Wie Italien und Spanien aufdecken, dass Deutschland kein Top-Team mehr ist.

SZ: Dänemarks Offensivspieler Damsgaard. Damsinho stößt in die größte Lücke des Landes.

Financial Times: England need to play without fear to end long wait for success

The Athletic: It’s Coming Home: Dream, boast or way of life?

Das Titelbild stammt aus der Hochzeit des tiki takas: Spaniens Spiel bei der WM 2010 gegen die Schweiz. Das Bild stammt von jit bag, Lizenz: CC BY 2.0.

2 thoughts on “Eschers EM-Tagebuch, Tag 26: Philosophie > Projekt

  1. Hallo,

    „Ich schätze Expected-Goal-Werte. Sie helfen, das Potential einer Mannschaft zu entschlüsseln. Je mehr Torchancen ein Team herausspielt und umso weniger es zulässt, umso wahrscheinlicher sind Erfolge. Glück und Pech vor dem Tor tarieren sich auf lange Sicht aus.“

    Hast du eine statistische Auswertung dazu gefunden (erstellt)?
    Das hieße ja, dass sich die Anzahl der Tore und Gegentore dem XG-Wert nähern oder?

    Problematisch wäre dann ja noch, dass es nicht „DEN“ XG-Wert gibt, sondern verschiedene Anbieter mit unterschiedlichen Algorithmen (Blackbox für Außenstehende). So eine Auswertung wäre also insbesondere interessant, wenn sie mehrere Anbieter berücksichtigt. Dann hätten wir aber trotzdem noch das Problem, dass die Anbieter ihre Algorithmen laufend anpassen.

    Nichtsdestotrotz wäre so eine Auswertung interessant. „Glück und Pech gleichen sich langfristig aus“, würde man intuitiv wahrscheinlich bejahen. Aber mir vielen spontan auch ein paar Gründe ein, warum „langfristig“ (mit Hilfe solche Auswertungen) genauer definiert werden sollte. Vielleicht ist es länger, als man glaubt?

    Ansonsten stimme ich den Bemerkungen zu XG zu: XG-Werte sind mit Vorsicht zu genießen und daher aus meiner Sicht auch nicht so gut geeignet für den Mainstream.

    Grüße
    PeterVincent

  2. Hallo,
    „Wir hatten nur nicht einkalkuliert, dass die Spanier den Ball mit einer Wucht passen, mit der normale Teams auf das Tor schießen.“ Guter Satz. Gestern war es wohl eher so, dass die Pässe der Italiener kaum ankamen, weil die extrem laufbereiten Spanier sie oft relativ leicht erreichen konnten. Wir nannten solche Pässe „Kullerbälle“. Sonst habe ich vieles ähnlich gesehen.

    Beste Grüße
    Olli

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