Heute steht das Tagebuch im Zeichen der fußballtaktischen Klischees! Es steht der vermeintlich wenig italienische Stil bei der Europameisterschaft im Vordergrund, der auf einen zweiten Blick jedoch sogar ziemlich italienisch ist.
Wie italienisch spielt Italien?
Herzlich Willkommen im Institut zur Analyse fußballtaktischer Klischees, kurz IzAfK! Das Dauerbrenner-Thema Taktik-Klischees soll uns auch am heutigen Tage beschäftigen. Viele wundern sich, welch spektakulären Offensivfußball die Italiener bei dieser Europameisterschaft zelebrieren. 3:0 gegen die Türkei, 3:0 gegen die Schweiz: Das will so gar nicht passen zum Klischee des italienischen Mauerfußballs. Was erlaube Roberto Mancini?
Als Vertreter der „Ja, aber…“-Philosophie muss ich an dieser Stelle sagen: Ja, die Italiener spielen begeisternden Offensivfußball. Aber das überrascht mich gar nicht so sehr. Einerseits, weil ich die Spielverlagerung EM-Vorschau gelesen habe und daher schon längst wusste, wie die Italiener spielen. Andererseits, weil ich schon seit längerer Zeit behaupte, der italienische Fußball wird falsch interpretiert.
Italien steht für Catenaccio. Dieser Gedanke hält sich seit den Sechziger Jahren hartnäckig. Damals mischte „La Grande Inter“ den Landesmeister-Pokal auf. Trainer Helenio Herrera hatte seiner Mannschaft ein System übergestulpt, das für die damalige Zeit äußerst defensiv war. Die Medien prägten den Begriff „Catenaccio“ für die Inter-Abwehr, übersetzt: „Türriegel“. Das Klischee des italienischen Fußballs war geboren. (Wer sich für das Thema interessiert: Es gibt Bücher zu dem Thema.)
Herrera wehrte sich zeitlebens gegen den Vorwurf, er sei der „Totengräber des Fußballs“ gewesen. (Ja, so bezeichneten ihn manche wirklich.) Sein Inter möge defensiver aufgestellt gewesen sein als viele Teams der Zeit. Es habe jedoch auch offensive Elemente in seinem Team gegeben: Giacinto Facchetti als vorstoßender Linksverteidiger etwa, oder das für damalige Verhältnisse schnelle Konterspiel. Doch die Taktiktafel war längst in den Brunnen gefallen. Herrera ging als Erfinder des Catenaccios in die Geschichte ein, Italien wurde zum Land des Mauerfußballs.
In den folgenden Jahrzehnten taten die Italiener wenig, um dieses Klischee zu entkräften. Stets begleitete sie der Ruf, im Zweifel defensiv zu spielen. Bzw. nicht nur im Zweifel, sondern eigentlich immer. 2006 feierten sie ihren letzten großen Triumph, als sie bei der Weltmeisterschaft gerade einmal zwei Gegentore kassierten; ein Eigentor nach einem Freistoß, ein Elfmeter im Finale.
Ganz so einfach ist die Geschichte jedoch nicht; aus diesem Grund mein „Ja, aber“. Immer hatten die italienischen Teams stets auch offensive Elemente in ihrem Spiel. Das war auch kaum anders möglich, wenn ein mehrfacher Weltmeister zu einem Turnier anreist und auf Gegner aus Amerika oder Australien trifft. Die defensive Stabilität war nur ein Teil der Geschichte. Wie Herrera bereits vor sechzig Jahren schimpfte: Die offensiven Aspekte werden vergessen. So etwa der Auftritt bei der Euro 2000.
Ich würde dem italienischen Fußball indes einen anderen Wesenskern zuordnen als den Catenaccio. Für mich steht der italienische Fußball in erster Linie für einen hohen Grad an Organisation. Kaum ein anderes Fußball-Land kann sich so in taktische Debatten vertiefen wie die Italiener. Als Antonio Conte Nationaltrainer wurde, lud er Journalisten zu einem mehrstündigen Vortrag ein. Thema: seine Taktik. Nicht nur italienische Journalisten, sondern auch die Spieler nehmen Taktikschulungen dankbar an. Herreras Catenaccio und später Arrigo Sacchis fußballerische Revolutionen passten zum italienischen Weltbild, dass Spieler sich einem System unterzuordnen haben. Eine raumorientierte Denkweise ist hier fest etabliert.
Italiens Fußball des Jahres 2021 steht in der Tradition dieses Organisations-Gedanken – nur eben in gänzlich anderer Ausführung. Früher wurde vor allem das Spiel gegen den Ball perfekt organisiert. Das galt nicht nur für die Italiener, sondern für praktisch alle Fußball-Nationen. Keine Nation indes verschiebt ihre Abwehrketten derart organisiert über den Rasen wie die Italiener. Das kann, muss aber nicht defensiv sein: Trainer wie Sacchi oder auch Massimiliano Allegri nutzten den hohen Grad an defensiver Organisation für ein hohes Pressing.
Die größte Evolution des Fußballs in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren war hingegen die zuschreitende Organisation des Ballbesitzfußballs. Trainer tüftelten genaue Vorgaben aus, wie sich die Spieler bei Ballbesitz zu positionieren haben. Sie malten Linien auf Felder, führten Prinzipien ein, perfektionierten die Raumbesetzung. Was für die defensive Organisation schon lange gilt, hält nun auch im Ballbesitzspiel Einzug: nämlich die exakte Organisation der zehn individuellen Spieler, damit sie ein harmonisches Ganzes ergeben. Die optimale Raumnutzung steht auch hier im Vordergrund.
Wenn ich nun die italienische Mannschaft bei der Europameisterschaft bestaune, sehe ich ein perfekt organisiertes Team. Eine Mannschaft, bei der jeder Spieler genau weiß, wann er in welchem Raum zu stehen hat. Nur geht es nun nicht mehr ausschließlich um die defensive Phase des Spiels, sondern um die offensive Phase. Das Ballbesitzsystem der Italiener ist das wohl ausgefeilteste des Turniers: Aus einer nominellen Viererkette stellen die Italiener einen Dreier-Aufbau her. Durch ein asymmetrisches Aufrücken des Linksverteidiger entsteht ein dennoch gleichförmiges Gebilde. Das hilft dem Team nicht nur, Ball und Gegner laufen zu lassen. Zugleich halten die Spieler ihre Abstände so gut, dass sie nach Ballverlusten sofort mit zwei oder mehr Spielern zum Gegenpressing ansetzen zu können.
Besonders beeindruckt hat mich das Mittelfeld der Italiener. Die drei Mittelfeldspieler ordnen sich ganz dem Organisationsgedanken unter: Sie besetzen die Leerstellen im gegnerischen Systems, selbst wenn sie dadurch auch mal nicht anspielbar werden. Die Raumbesetzung steht hier über der individuellen Einbindung jedes Spielers. Es sei mir an der Stelle der kleine Seitenhieb erlaubt, dass man sich eine solch intelligente, selbstlose Raumbesetzung auch vom deutschen Mittelfeld wünschen würde.
Das größte Lob, das man den Italienern machen kann: Sie wirken weniger wie ein Nationalteam, sondern eher wie eine Klub-Mannschaft. Ihr hoher Grad an Organisation sorgt dafür, dass sie keine Probleme mit ihren bisherigen Gegnern hatten. Weder die totaldefensiven Türken noch die etwas offensiver auftretenden Schweizer fanden ein Gegenmittel. Vor allem aber ist es den Italienern gelungen, ihr Bild nach Außen zu wandeln: Plötzlich schwärmt alle Welt von der italienischen Spielfreude. Dabei sind sie sich im Herzen doch eigentlich treu geblieben.
Kurze Beobachtungen
- Wer die Italiener bereits auf dem Siegeszug zum Europameister-Titel wähnt, sei gewarnt: Statistisch gesehen haben sie keine Chance. Denn noch nie ist es einer Nation gelungen, das Escher-Double zu gewinnen. Bedeutet: Im selben Jahr Europa- bzw. Weltmeister werden und beim Eurovision Song Contest triumphieren! Die Italiener haben den ESC 2021 gewonnen, womit ihre Chancen auf den EM-Titel bei null liegen dürften. Schade.
- Wenige hatten Wales vor dem Turnier auf dem Schirm. Dabei hat sich seit dem Halbfinaleinzug bei der vergangenen Europameisterschaft gar nicht so viel verändert bei den Walisern. Ihre grundsätzliche Stärke, das raumorientierte Verteidigen, haben sie in den vergangenen fünf Jahren nicht verlernt, eher sogar perfektioniert. Gareth Bale scheint auf den Punkt fit zu sein. Die Waliser werden erste große Lackmustest für das Ballbesitzsystem der Italiener.
- Mein größter taktischer Kritikpunkt an vielen Teams dieser Europameisterschaft ist das biedere Auftreten vieler Mittelfeldspieler. Im Zweifel postieren diese sich eher tief, um das Spiel an sich zu reißen oder um Konter abzusichern. Die deutsche Mannschaft pachtet dieses Problem nicht exklusiv. Auch Kroatien, Belgien und viele Mittelklasse-Nationen wie die Schweiz oder Österreich müssen sich diesen Vorwurf gefallen lassen. Umso erstaunlicher, dass die Russen gegen Finnland nicht nur eine Mittelfeld-Raute ausgepackt haben, sondern diese auch noch offensiv interpretierten! Da rückten nicht nur die Mittelfeldspieler dynamisch nach vorne, sondern sogar die Innenverteidiger. Das hinterlässt zwar Lücken für Konter, aber wenn dann Aleksey Miranchuk so einen Sonntagsschuss abgibt, kann man sogar die defensivsten Finnen knacken.
Leseempfehlungen
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