Als ich im vergangenen Herbst erstmals eine Fernreise geplant habe, überkam mich für einen kurzen Moment das Phänomen der Flugscham. Ist eine solche Flugreise vertretbar in Zeiten, in denen die Wälder brennen und der Starkregen auch in Deutschland Landstriche verwüstet?
Das Gefühl dauerte an, bis ich ein Spiegel-Interview mit dem Sternekoch Tim Raue in die Finger bekam. Eigentlich sollte es um Work-Life-Balance und die Arbeitsbelastung in modernen Sterneküchen gehen. Ich blieb an einem anderen Satz hängen. „Im vergangenen Jahr war ich 220 Tage unterwegs und hatte 171 Flüge.“ Einhunderteinundsiebzig Flüge! Selbst wenn ich fortan jährlich eine Fernreise unternehmen würde, wäre mein lebenslanger Schadstoffausstoß niedriger als der von Raue in einem Monat.
An dieser Stelle könnte man jetzt eine Abzweigung nehmen hin zum Thema Moral und zur Frage, wie viel Verzicht man von einem kleinen Fisch verlangen darf, wenn der große Hai so viel Platz im Aquarium beansprucht. Ich möchte eine andere Abzweigung nehmen. Raues unbedarfter Nebensatz hat meine Sinne geschärft, was eine der großen Trennlinien unserer Zeit darstellt: die Freiheit des Individuums, Raum für sich zu beanspruchen.
Die Welt ist in den vergangenen Jahrzehnten geschrumpft. Es braucht keine große Argumentationskraft, um diese These zu belegen. Im 19. Jahrhundert dauerte es Wochen, wenn nicht sogar Monate, um sich von einem Land in ein anderes zu bewegen. Der Wilde Westen der amerikanischen Staaten war für westliche Siedler noch nicht erschlossen, genauso wenig das östliche Russland oder Zentralafrika.
Die Globalisierung hat die Welt kleiner werden lassen – zumindest gefühlt. Zunächst wurde die Wildnis domestiziert. Erfindungen wie das Flugzeug und Automobile vereinfachten Reisen. Zugleich intensivierte sich durch die neue Form der Mobilität der Handel zwischen den Ländern. Wurde früher nahezu alles, was man zum Leben gebraucht hat, im näheren Umfeld produziert, importieren und exportieren die Länder der Welt heute zahlreiche Waren. Die neue Mobilität zementierte ein Phänomen, was wir heute als Globalisierung kennen.
Die Globalisierung funktioniert dabei auf wirtschaftliche, kulturelle, aber auch auf ganz private Weise. Wir Deutsche verfügen über einen der mächtigsten Pässe der Erde. Wir können (fast) überallhin reisen, wo wir möchten. Auch bei der Arbeit sind wir flexibler geworden. In Europa herrscht Arbeitnehmerfreizügigkeit. Wer die entsprechende Qualifikation mitbringt, wird auch außerhalb des europäischen Auslands mit offenen Armen empfangen. Während sich das Leben vor 150 Jahren noch in der Regel in engen Bahnen um den Geburtsort abgespielt hat, steht uns heute die ganze Welt offen.
Wir vergessen dabei aber gerne, dass die Globalisierung nicht auf die gleiche Art für alle Menschen wirkt. Von der Mobilität der Deutschen können viele Menschen auf der Welt nur träumen. Es fängt an beim Faktor Armut: Knapp ein Zehntel der Weltbevölkerung leidet an Hunger. Die Menschen in den ärmsten Ländern der Welt sind nicht mobiler als die Europäer des 19. Jahrhunderts.
Die große Mehrheit der Weltbevölkerung muss bei der Einreise nach Europa, Amerika oder Australien strenge Visaregularien durchlaufen. Wer schon einmal versucht hat, einen Verwandten oder Bekannten aus Afrika oder Asien nach Deutschland einzuladen, weiß, wie hoch die Hürden sind. Es werden Gehaltsnachweise erfordert, beglaubigte Einladungen durch einen deutschen Gastgeber und polizeiliche Führungszeugnisse. Niemand, der diesen Prozess nicht unbedingt durchlaufen muss, entscheidet sich zweimal dafür.
Die Globalisierung der Welt ist damit vor allem eins: nämlich relativ. Klar, auch in armen Ländern sind Mobiltelefone mittlerweile die Norm. Aber Digitalisierung befördert immer auch eine Form der Scheinrealität. (Mehr dazu in noch nicht veröffentlichten Aufsatz zur „Realität“). Der reale Raum auf der Welt ist für die Armen etwas kleiner geworden, für die Reichen jedoch sehr. Die Globalisierung ist relativ.
Auch innerhalb der westlichen Gesellschaften gibt es höchst unterschiedliche Grade an Mobilität. Die Globalisierung kennt vor allem einen Sieger: Menschen, die bereit sind, sich in die multinationale Welt zu stürzen. Für Manager, Prominente, Wissenschaftler und viele andere Berufsgruppen ist die Welt in der Tat kleiner geworden: Sie können sich nicht nur ihren Urlaubsort frei aussuchen, sondern auch ihre Heimat. Berlin oder Oslo? Paris oder New York? Es macht keinen großen Unterschied.
Diese Einstellung kann, muss aber nicht immer mit finanziellem Erfolg zu tun haben. Zu den Menschen, denen die Verkleinerung der Welt wichtig ist, gehören Großstadtliberale und New-Work-Enthusiasten, Crypto-Bros und Otaku. Geld ist hier weniger entscheidend als das Mindset. Diese Menschen verfolgen nicht mehr die lokalen Nachrichten ihres Heimatraums, sondern sind unterwegs im globalen Netz. Die US-Wahl ist ihnen näher als ihre lokale Bürgermeisterwahl. Es passt, dass Luisa Neubauer im US-Wahlkampf an Häusertüren klingelt oder Greta Thunberg plötzlich mehr über Palästina spricht als über die norwegische Klimapolitik. Die Milieus, die ihnen zujubeln, verstehen sich als Teil einer globalen, geeinten Welt.
Hier verläuft für mich eine der großen Trennlinien unserer Gesellschaft. Sie wird gerne zwischen Stadt- und Landbevölkerung gezogen. Ich würde sie leicht anders ziehen: Es gibt Menschen, für die Heimat ein abstraktes Konstrukt ist: „Home is where your heart is!“ Sie identifizieren sich nicht mehr vorrangig mit ihrer Region, sondern sehen sich als „Weltenbürger“ oder Europäer. Auf der anderen Seite gibt es Menschen, für die ist Heimat der Ort, an dem sie aufgewachsen sind. Punkt.
So werde ich nie den Raue-Lifestyle leben. Selbst wenn ich alle umwelttechnischen Bedenken über den Haufen würfe, ginge mir spätestens nach der vierten Flugreise das Geld aus. Das ist der wirtschaftliche Aspekt. Doch selbst wenn ich – aus welchen Grund auch immer – dieses Lebensmodell wählen könnte, würde ich mich dagegen entscheiden. Ich habe fast mein gesamtes Leben im Osten von Hamburg gelebt. Ich möchte meine Heimat schlicht nicht verlassen.

Nach einer Umfrage aus dem Jahr 2017 leben 26% der Deutschen am selben Ort, in dem sie geboren sind, und 30% nur wenige Kilometer davon entfernt. Die andere Hälfte lebt weiter von ihrem Geburtsort entfernt. Das muss nicht bedeuten, dass diese andere Hälfte nicht verwurzelt ist an ihrem neuen Wohnort. Ich würde aber argumentieren, dass es für die Einstellung zur eigenen Heimat einen Unterschied macht, ob man sagt: „Ich könnte auch woanders wohnen“ – oder eben nicht.
Diese Menschen gehen höchst unterschiedlich um mit Veränderungen an ihrem Heimatraum. Was für die einen notwendige Modernisierung ist, ist für die anderen Menschen äußerst schmerzhaft. Für sie ist Heimat kein abstrakter Ort, sondern ganz konkret erlebbar: im Supermarkt nebenan, am Marktplatz der Stadt, im Schwimmbad um die Ecke.
Menschen, die tief in ihrem Raum verwurzelt sind, tun sich naturgemäß schwerer mit Veränderungen. Die „Nimby“-Bewegungen unserer Zeit sind Zeuge davon. Wer versucht, einen Ort räumlich zu verändern, kann sich dem Protest der Anwohner gewiss sind. Das kann eine neue Fabrik sein, eine ICE-Strecke oder auch nur ein Windrad. An jedem Ort formiert sich sofort eine Protestbewegung, die den Leitsatz von Frauentausch-Andreas verfolgt: „Halt Stopp! Das bleibt alles so, wie’s hier ist.“ Dass diese Bewegungen nicht auf den ländlichen Raum beschränkt sind, weiß ich aus meinem Heimatort: Im Osten Hamburgs formieren sich immer stärker Proteste gegen einen geplanten neuen Stadtteil.
Zugleich nehmen viele Menschen auch eine Vernachlässigung ihres Raums wahr: Öffentliche Einrichtungen wie Schwimmbäder schließen, Immobilien altern und schimmeln, Straßen und Radwege befinden sich in einem schlechten Zustand. Die wenigsten Menschen nehmen Veränderung noch positiv wahr.
Entsprechend globalisierungskritisch ist diese Gruppe von Menschen; spätestens dann, wenn Globalisierung auch eine Veränderung ihres Heimatraums bedeutet. Globalisierung wird hier nicht als bereicherndes Element wahrgenommen, sondern als zerstörerisches. Der Brexit wurde nicht nur im ländlichen Raum durchgewunken, sondern in den heruntergewirtschafteten Industriestädten. Die AfD wird gerne als rein ostdeutsches Phänomen abgetan. Doch auch in anderen Gebieten hat sie viel Zulauf: in den abgehängten Teilen des Ruhrgebiets genauso wie in der ländlichen Gegenden Süddeutschlands. Diese haben nicht viel gemeinsam, außer einer geringen sozialen Mobilität.
Dieses Phänomen spiegelt sich auch an der Wahlurne wider: Je stärker in Westdeutschland Räume vom Strukturwandel betroffen sind, umso größer ist der Wahlanteil der AfD. Autoritäre Kräfte sind dort besonders stark, wo sich Menschen gegen die Veränderungen durch die Globalisierung wehren – sei es die räumlichen oder gesellschaftspolitischen Veränderungen. „Make america great AGAIN“ bedeutet auch immer die Rückkehr zu einer Welt, die sich verändert hat.
Bevor mich an dieser Stelle jemand falsch versteht: Ich möchte die Ergebnisse der AfD keineswegs schönreden, indem ich ihren Wählern nur lautere Motive wie „Heimatliebe“ und „Globalisierungskritik“ zuschreibe. Dass die AfD aus meiner Sicht vom tief verwurzelten Rassismus in unserer Gesellschaft profitiert, werde ich in einem der folgenden Essays aufgreifen.
Für eine gesellschaftlich enorm einflussreiche Gruppe spielt Raum praktisch keinerlei Rolle mehr: für multinationale Unternehmen. Sie arbeiten längst global. Das hat nicht immer nur einen ideellen Grund. Amazon, Facebook, Google: Sie alle suchen aktiv nach Steuerschlupflöchern, um ihre Steuerbelastung möglichst geringzuhalten. Aber auch so manch eine Privatperson versteuert das eigene Einkommen nicht mehr in der Heimat, sondern verschifft es elegant in die Karibik oder schafft das verdiente Geld in die Schweiz.
Dabei geht es nicht nur um Finanzfragen. Wie sich Konzerne entwickeln und nach welchen Regeln sie handeln, unterliegt nur noch selten der Kontrolle eines einzelnen Staates. Wenn Microsoft einen KI-Assistenten ausspielt, unterliegt dieser in der Theorie deutschem Recht. In der Praxis wird er mit Daten gefüttert, auf die Deutschland keinen Einfluss hat. Digitale Prozesse zu regulieren, nachdem sie bereits in der Welt sind, fällt Staaten zunehmend schwer. Hier wären wir weiter beim Thema aus dem ersten Aufsatz: In einer globalen Welt, in der die Länder vernetzt sind, verliert der einzelne Staat an Macht.
Zugleich ist Raum für die Ordnung der Welt noch immer ein wesentlicher Faktor. Die Welt teilt sich in Nationalstaaten auf. Diese Staaten erheben den Anspruch, auf ihrem Territorium eigenes Recht umzusetzen. Manche nutzen dazu demokratische Strukturen, in anderen ist Recht das Wort des Diktators. Immer gilt aber: Mein Haus, meine Regeln.

Die Durchsetzbarkeit von nationalem Recht kommt aber in einer globalisierten Welt immer mehr einem Irrgarten gleich. Steuerflucht etwa lässt sich kaum bekämpfen, wenn die betroffenen Staaten die Zusammenarbeit verweigern. Schon eine einfache Erhöhung der Unternehmenssteuer kann dazu führen, dass zahllose internationale Unternehmen ins nahe oder ferne Ausland abwandern. Während für die Ärmsten der Armen Raum ein limitierender Faktor ist, gilt das nicht für die Reichsten der Reichen – und schon gar nicht für multinationale Unternehmen, die in der ganzen Welt zu Hause sind.
Diese Relativität ist auch ein großer Faktor der Ungleichheit. Die Reichen werden immer reicher, weil sie in einer globalisierten Welt die Nationalstaaten gegeneinander ausspielen können. Wer Kapitalflucht befürchten muss, ist weniger geneigt, den Spitzensteuersatz anzuheben oder Vermögenssteuern einzuführen. Nicht nur multinationale Unternehmen, sondern auch reiche Einzelpersonen zahlen prozentual deutlich weniger Steuern als der Durchschnittsverdiener. Auch das birgt Zündstoff für Gesellschaften.
Raum ist noch in einer anderen Dimension ein Faktor: Er ist begrenzt. Der Mensch hat in den vergangenen 100 Jahren immer mehr Raum beansprucht für Siedlungen, für Landwirtschaft, für den Abbau von Rohstoffen. Es war nötig, weil die Spezies Mensch exponentiell gewachsen ist. Zu Jesus Zeiten haben noch rund 300 Millionen Menschen den gesamten Erdball bevölkert. Die Milliardengrenze übersprangen wir erst im 19. Jahrhundert. Mittlerweile leben über acht Milliarden Menschen auf dem Planeten. Seit den Siebzigern hat sich die Zahl der Erdenbewohner verdoppelt – binnen nicht einmal fünfzig Jahren.
Das Bevölkerungswachstum wird selten wahrgenommen, schließlich passiert es im Verborgenen. Es ist wie so häufig mit den großen Entwicklungen einer Zeit: Terroranschläge lassen sich in Bildern einfangen, man kann sie wieder und wieder in Nachrichten zeigen und als Mensch wahrnehmen, als wäre man selbst dabei gewesen. Für Entwicklungen wie das Bevölkerungswachstum gilt das nicht.
Überraschend häufig ist Bevölkerungswachstum jedoch die Antwort auf konkrete Fragen unserer Zeit. So wuchs die US-amerikanische Wirtschaft im 21. Jahrhundert auch deshalb schneller als die europäische, weil die Zahl der Menschen in den USA um zwei Millionen pro Jahr zunimmt. Die EU-Bevölkerung hingegen schrumpft Jahr für Jahr. Es gibt eine direkte Kausalität zwischen Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum, wenn man die USA und die EU miteinander vergleicht.
Das Bevölkerungswachstum findet vor allem in Regionen statt, die uns hierzulande eher fremd sind: Afrika und Asien. Wir unterschätzen manchmal, wie viel Raum auf diesen Kontinenten noch verfügbar ist. Die Bevölkerung des Nigers, das Land mit dem aktuell schnellsten Bevölkerungswachstum der Welt, müsste sich verzehnfachen, ehe das Land so dicht besiedelt ist wie Deutschland.
Das Problem: Raum ist nicht gleich Raum. Niger besteht zu einem großen Teil aus Wüste. Dieser Anteil droht noch zu steigen: Desertifikation ist für viele Staaten in Nordafrika ein großes Problem. Die Landstriche, die durch Flüsse und Savannenlandschaften bewohnbar sind, werden für die Menschen indes immer gefährlicher: Extremwetterereignisse nehmen zu.
Damit wären wir beim Elefanten im Raum angelangt: dem Klimawandel. Während die Zahl der Menschen weiter zunimmt, schrumpft der bewohnbare Raum. Man muss dafür nicht nach Afrika reisen: Auch in Deutschland gibt es Gegenden, die über kurz oder lang unbewohnbar werden, sei es in der Nähe von Flüssen oder in den deutschen Küstengebieten. Sturmfluten etwa, die früher als Jahrhundertfluten bezeichnet wurden, könnten künftig jährlich auftreten.
Das ist selbstredend nichts im Vergleich zu dem, was auf andere Regionen zukommt. Spanien droht binnen weniger Jahre zur Wüste zu werden. Trockene Gebiete wie Kalifornien und Australien müssen sich auf Waldbrände einstellen. Städte, die wie Jakarta oder New Orleans unter dem Meeresspiegel liegen, kämpfen mit Überflutungen. All diese Phänomene werden noch schlimmer.
Kurz gesagt: Die Zahl der Menschen nimmt zu. Doch der Raum, auf dem sie leben können, auf dem Lebensmittel angebaut und aus dem Trinkwasser geschöpft werden kann, schrumpft.
Eins ist klar: In dieser Gemengelage wird Migration nicht ab-, sondern zunehmen. Vielen Menschen wird schlicht nichts anderes übrigbleiben, als ihre Heimat zu verlassen. Das ist letztlich auch Segen und Fluch der Globalisierung zugleich. Für die reichsten zehn Prozent der Weltbevölkerung – zu denen ein Großteil der Deutschen gehört – ist die Welt durch die Globalisierung längst kleiner geworden. Für die ärmsten wird die Welt ebenfalls kleiner, wenn auch auf andere Weise. Die Migrationsströme sind nicht zuletzt auch eine Folgeerscheinung der Globalisierung.
Die westliche Welt ist für die Umkehr der Globalisierung jedoch nicht bereit. Autoritäre Kräfte machen sich dies zunutze: Sie demonstrieren Stärke, indem sie die Globalisierung zurückdrehen. Dass diese vielen Menschen, besonders in den westlichen Staaten, Wohlstand gebracht hat, kehren sie unter den Tisch. Trumps außenpolitische Handlungen in den ersten Wochen seiner Präsidentschaft lassen sich unter dem Mantra verstehen: Wir wollen die Öffnung des Raums der vergangenen 100 Jahre wieder zurückdrehen.
Das Bild von Tim Raue stammt von City Foodsters. Das Bild von Elon Musk stammt von Marla Aufmuth. Sie sind lizensiert nach CC BY-NC 2.0.