EM-Tagebuch, Tag 27: Der Glanz des alten Tiki Taka

Der König ist tot, lang lebe der König! Spanien kehrt an die Spitze des internationalen Fußballs zurück, während Frankreich erstmals seit 2014 ein K.O.-Spiel in neunzig Minuten verliert. Die für ihren offensiven Fußball so gefeierten Spanier zeigten in der zweiten Halbzeit eine andere Facette ihres Spiels. Ich analysiere die Partie in meinem Tagebuch!

Spanien im Finale

München. Halbfinale Europameisterschaft. In der 73. Minute erobert Spanien den Ball nach einer französischen Ecke zurück. Der eingewechselte Vivian setzt zum Sprint in die gegnerische Hälfte an und verlagert den Ball zu Alvaro Morata. Der macht sich aber keine Mühe, weiter in die gegnerische Hälfte zu spielen. Der spanische Stürmer bricht den Angriff ab.

Es folgen zwei Minuten, in denen die Spanier nicht einmal den Ball hergeben. 30 Pässe spielen sie in dieser Zeit, jeder spanische Spieler erhält mindestens einen Ballkontakt. Immer wenn sie die Franzosen nach hinten gedrängt haben, treten Lamine Yamal oder Nico Williams auf den Ball. Sie schauen sich kurz um und spielen dann die Kugel zurück zum Innenverteidiger. So geht es wieder und wieder. Erst ein (unnötiger) langer Ball von Vivian beendet die spanische Ballbesitzorgie.

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Diese Szene fasst die zweite Halbzeit des Halbfinals Spanien gegen Frankreich treffend zusammen. Viel wurde während dieser Europameisterschaft über die „neuen Spanier“ gesprochen, auch von mir. Sie haben sich von den Fesseln des tiki taka befreit, spielen nun aufregenden wie offensiven Fußball!

Doch in der Not kehrt der Mensch zu seinen Urinstinkten zurück. Und der spanische Urinstinkt heißt: Ball und Gegner laufen lassen. Mit der 2:1-Führung im Rücken gab Spanien nach der Pause einen einzigen Schuss ab, sammelte aber über 60% Ballbesitz. Spanischer kann ein Spiel kaum laufen.

Das ist die eine Facette, die ich aus diesem Spiel mitnehme: Kein Team beherrscht defensives Ballbesitzspiel besser als die Spanier. Denn das ist es ja im Endeffekt: Ballbesitz als defensive Strategie, um kein Gegentor zu fangen. Der Gegner braucht schließlich das Spielgerät, um ein Tor zu erzielen.

Das Positionsspiel der Spanier ist über sämtlichen anderen Teilnehmern anzusiedeln. Die Innenverteidiger wissen genau, wie sie sich bewegen müssen, um ein Pressing des Gegners auszuhebeln. Yamal und Williams gehen im richtigen Moment ins Zentrum, Olmo und Morata kommen passend entgegen. Das lässt sich nicht binnen weniger Tage trainieren. Bei den Spaniern ist es integraler Teil der Jugendausbildung – und das spürt man.

Die andere These zum Spiel handelt von den Franzosen. Dass die Spanier derart lange den Ball halten konnten, lag letztlich auch am laschen französischen Pressing. Kolo Muani lief vorne drei Spieler allein an, Mbappé und Dembélé machten allenfalls halbherzig mit. Fast schon komödienhaft spielten die Spanier einfach um Muani herum. Sie warteten, bis Kanté nach vorne schob und so ein spanischer Mittelfeldspieler frei wurde. Später, als Mbappé ins offensive Zentrum wechselte, fiel ihnen das Ausspielen des französischen „Pressings“ noch leichter.

Muani stand in vorderster Linie gegen zwei Innenverteidiger und einen Torwart. Da Dembele und Mbappe zentral nicht mithalfen, blieb Frankreich nur eine Lösung, um den Druck zu erhöhen: Kante musste mit in die vorderste Linie rücken. Dadurch konnte sich Williams in dessen Rücken wegschleichen.

Frankreichs zweite Halbzeit gegen Spanien bot eine Antwort auf die Frage, warum Didier Deschamps seine Franzosen nicht pressen lässt: Sie können es einfach nicht. Vielleicht würde es ein besserer Trainer schaffen, die fehlende Teilnahme seiner Stürmer am Pressing durch ein tolles System wettzumachen. Deschamps ist aber nicht dieser Trainer.

Die Schlussoffensive der Franzosen fiel am Ende nicht aufgrund mangelnden Talents aus – sondern weil sie den Ball nicht mehr sahen. So lautete die defensive Strategie der Spanier. Denn im Spielverlauf war auch deutlich geworden, dass ihre Defensive keineswegs unbezwingbar ist. Jesus Navas hatte seine liebe Mühe mit Mbappé, Cucurella gewann nicht jeden Zweikampf gegen Dembélé. Die Franzosen kamen zu 30 Flanken. Gerade einmal ein Viertel der Luftduelle gewannen die Spanier. Hier sind sie verwundbar.

Das ist eine Kritik auf hohem Niveau, wenn man bedenkt, wie offensivstark die Spanier auftreten. Dass sie die Partie in der zweiten Halbzeit über defensiven Ballbesitz abkochen konnten, lag auch an ihrer starken ersten Halbzeit. Wohl der Nation, die über eine Flügelzange aus Nico Williams und Lamine Yamal verfügt. Wenn der 21-Jährige Linksaußen einen ruhigen Tag erwischt, knallt der 16 Jahre junge Rechtsaußen die Kugel einfach in den Winkel. Fußball kann so simpel sein.

Die Spanier sind das beste Team in diesem Turnier. Ob sie am Sonntag auch als Sieger aus dem Finale hervorgehen, ist wiederum eine andere Frage.

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Kurze Beobachtungen

  • Auf wen treffen die Spanier am Sonntag? Ich wage keine Prognose. Über die enttäuschenden Engländer wurde alles gesagt. Die Niederlande konnte mich im Turnierverlauf ebenfalls nicht restlos überzeugen. Auch vor dem Halbfinale wirkt es nicht so, als hätte Ronald Koeman bereits seine beste Elf gefunden. Beide Teams fallen bisher nicht durch systematischen Angriffsfußball auf. Am Ende könnten die Einzelspieler über den Sieg entscheiden – und hier sehe ich England leicht vorne. Aber warten wir ab.
  • Ich habe gestern – ausnahmsweise – in die Vorberichterstattung zum Halbfinale hereingeschaut. Es ist schon spannend zu beobachten, wie viel fachlicher und taktischer die Berichterstattung in den vergangenen Jahren geworden ist. Christoph Kramer und Per Mertesacker verstehen mindestens so viel vom taktischen Geschehen wie jeder Spielverlagerung-Autor, höchstwahrscheinlich sogar mehr. Sie können ihre Expertise gleichzeitig mit Erfahrung auf allerhöchstem Niveau würzen. Öfter werde ich mir die Berichterstattung trotzdem nicht geben. Bei den Öffentlich-Rechtlichen setzt sich der Trend von Sky und Dazn fort: Frotzeleien, Insider-Gags, schlechte Witze – all das gehört mittlerweile zur Fußballberichterstattung dazu, als säßen die Beteiligten in einem Laberpodcast mit Tommi Schmitt oder Klaas Heufer-Umlauf. Es findet eine schleichende „Bro-isierung“ der Berichterstattung statt. Es ist wie bei vielen dieser Formate: Witzig wird es erst, wenn man so richtig in der Welt der Protagonisten drinsteckt und all die Insider versteht. Was ich aber nicht tue, weil ich es zu selten schaue. Wie immer gilt aber: Der Erfolg gibt den Beteiligten Recht.
  • Man kann die Tatsache, dass mit ARD und ZDF gleich zwei Öffentlich-Rechtliche Sender die EM übertragen, mit dem historisch gewachsenen Unterschieden beider Sender erklären. Von mir aus. Dass beide Sender die Spiele jeweils eigenständig auf ihre Internet-Kanäle hochladen, kann man aber nur als riesige Verschwendung von Ressourcen betrachten. Man muss sich das einmal vor Augen führen: Die Partie Spanien gegen Frankreich wurde vom ZDF im Fernsehen übertragen, es existiert eine Aufnahme mit dem Kommentar von Oliver Schmidt. Dennoch lässt sich auf der Seite der Sportschau ebenfalls das gesamte Spiel nachschauen – und zwar mit einem eigens aufgezeichneten Kommentar von Florian Eckl. Wieso? Was ist der Zweck dahinter, einen weiteren Kommentator einzusetzen und damit auch weitere Zuflüsterer, technische Angestellte etc.? Dass die Öffentlich-Rechtlichen sich im Jahr 2024 zusammentun, um eine gemeinsame Internetseite mit den Aufnahmen der EM 2024 eröffnen, sollte das Mindeste sein, was man an Kooperation erwarten kann.

Das Artikelbild zeigt die große spanische Nationalmannschaft aus dem Jahr 2009 und stammt von Steindy. Lizenz: CC BY-SA 3.0.

5 thoughts on “EM-Tagebuch, Tag 27: Der Glanz des alten Tiki Taka

  1. Hier hat sich das Französische „Wir brauchen den Ball nicht“-Spiel deutlich gerächt. Wenn der Gegner erst einmal vorne liegt, muss man eben kommen. Und das klappte dann nicht. Keinen Angriffsplan außer Mbappe reicht eben nicht, wenn man doch mal hinten liegt. Das lief bei der WM zumindest noch etwas besser (auch weil Mbappe dort besser lief).
    Ich hoffe auf Holland, nicht weil die bisher so überzeugt hätten, sondern weil Englands Spielweise einfach nicht belohnt werden sollte….

    Und was anderes – und ich weiß, dass ich hier in deine Freizeit vorschlage: Dein Ranking der Deutschen WM-Mannschaften fand ich super, falls Du mal Zeit und Lust und Langeweile hast: Wie wäre es mit einem Ranking der Mannschaften, die mal die EM (oder WM, aber das wird für die 30er Jahre schwer) gewonnen haben? Also quer über die Nationen hinweg.
    „Deutsche EM-Mannschaften“ ginge natürlich auch.

    1. Hi Peer, vielen Dank für die Idee! Ein Ranking der deutschen Euro-Teams scheitert (bislang) an meiner fehlenden Kenntniss aller Teams. Ich kann mit viel Stolz behaupten, sämtliche K.O.-Spiele der deutschen Mannschaft seit dem Halbfinale 1958 gesehen zu haben. Bei Europameisterschaften ist die Luft aber dünner. Aber vielleicht habe ich ja mal ein bisschen Zeit übrig!

    2. Ich denke, England hat das Frankreich-Spiel gesehen und sich gedacht, dass man diese Spielverweigerung nicht weiter aufrecht erhalten sollte, weil man sonst irgendwann einfach nicht mehr weiß, wie man offensiv spielt. Frankreich war schlicht unfähig, was anderes als nur eine gute Defensive und eine sehr kontrollierte Offensive zu spielen. Da war keinerlei Powerplay, kein Risiko, nur ein paar Einzelaktionen.

      England hat das dann gegen die Niederlande schon besser gemacht, das Spiel kontrolliert und – bei durchaus ähnlicher Spielanlage zu Frankreich – auch auf Tore zu gehen.

      Gerade in der Nachbetrachtung muss man wirklich sagen, dass Deutschland schon ziemlich stark war. In der Kürze der Zeit hat man eine schlagkräftige Einheit geformt. Mit etwas mehr Glück (und etwas weniger Pech) hätte man Spanien besiegt. In Bedrängnis kamen die zumindest schon lange nicht mehr so.

  2. Gute Bemerkung zu den Mediatheken. Noch absurder finde ich, dass die ARD-Mediathek die Hörfunkprogramme nicht zum stream enthält.
    Allerdings kann es sein, dass das Rundfunk- oder Kartellrecht den öR-Anstalten Schranken für die Zusammenarbeit auferlegt, die zu solch unsinnigen Ergebnissen führen.

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