Am heutigen Sonntag steht das große Finale der Europameisterschaft an. Die Meister des Kollektivs treffen auf das individuell stärkste Team dieser EM. Wer wird triumphieren, Spanien oder England? In meinem heutigen Tagebuch-Eintrag teile ich meine Gedanken zum großen Finale.
Strategische Überlegungen
„Nach dem Spiel ist vor dem Spiel“, soll Sepp Herberger einst gesagt haben. Wenn diese Floskel stimmt, dann gilt auch: „Vor dem Spiel ist nach dem Spiel!“ Als Journalist bin ich mit dem Gedanken bereits bei der Frage, wie es nach dem großen Finale am heutigen Sonntagabend weitergeht.
So habe ich mir bereits heute Morgen Gedanken gemacht, welche Spieler es in meine Elf des Turniers schaffen. Ohne die Elf spoilern zu wollen: Sie wird recht Spanien-lastig. Auf fast jeder Position haben es die Iberer geschafft, den stärksten Akteur hervorzubringen, dessen Leistung sowohl subjektiv wie auch objektiv heraussticht.
Bei den Engländern wiederum fällt es schwer, einzelne Spieler aus der Mannschaft herauszupicken. Kritiker würden sagen, das liege in erster Linie an ihren mageren Leistungen. England hat viel Los- und etwas Spielglück benötigt, um überhaupt das Finale zu erreichen.
Tatsächlich schreit die Leistung keines englischen Superstars „Elf des Turniers!!!“. Harry Kane wirkt angeknockt, Jude Bellingham taucht über weite Strecken der Partien ab, Phil Foden konnte nie zu einem seiner genialen Soli mit anschließendem Fernschuss ansetzen. Einzig Bukayo Saka ragt (zumindest etwas) aus einer mauen englischen Mannschaft heraus.
Stellt man die Philosophien der Finalteilnehmer gegenüber, würde man einen gegenteiligen Effekt vermuten. Spanien setzt auf ein einheitliches, eintrainiertes Spielsystem. Die Engländer hingegen stellen mithilfe einer möglichst risikofreien Taktik die individuelle Klasse der einzelnen Akteure in den Vordergrund.
Die Ironie des Ganzen: Den Engländern gelingt es mit ihrem Ansatz nicht, die individuellen Einzelkönner aufblühen zu lassen. Den Spaniern hingegen schon. Das Team von Trainer Luis de la Fuente hat klare Prinzipien, mit dessen Hilfe die einzelnen Akteure in vorteilhafte Situationen gelangen. Dazu gehört das Einrücken der Außenstürmer, das Vorrücken der Außenverteidiger sowie die vertikalen Bewegungen der zentralen Spieler. Spanien schafft es mit Geduld und Passschärfe, in die Räume vor der gegnerischen Abwehr einzudringen. Die Engländer hingegen haben ihre individuelle Brillanz nur selten zeigen können – und wenn, geschah dies über eine geniale Einzelaktion, die wenig mit der Taktik des Teams zu tun hatte.
Fußball ist eben kein Sport, in dem elf Individualisten miteinander antreten. Es ist ein Teamsport, bei dem es darum geht, aus den elf Individualisten ein größeres Ganzes zu formen. Keiner anderen Nation gelang dies bei dieser EM besser als Spanien.
Taktische Überlegungen
Nach diesen einführenden Gedanken sollte klar sein, welche Nation aus meiner Sicht als Favorit in das Finale geht. Spanien hat einen Halbfinalisten der WM 2022, den amtierenden Europameister, den Gastgeber sowie den amtierenden Vize-Weltmeister bezwungen. Englands größte Hürde war eine niederländische Mannschaft, die allenfalls gehobenen Durchschnitt repräsentiert.
Es braucht wenig Fantasie, um sich einen spanischen Sieg vorzustellen. Die Spanier übernehmen von der ersten Sekunde an die Initiative. Englands Abwehr und Mittelfeld sind überfordert mit den Flügelrochaden der Spanier. Nach dem Führungstreffer spielen die Spanier direkter, finden immer wieder im Umschaltmoment ihre Außenstürmer. Englands kopflose Angriffe stellen kein Problem dar für Spaniens 4-4-2-Verteidigung. Ein komfortabler Sieg.

Da sich der spanische Weg zum EM-Sieg von allein erzählt, will ich den Scheinwerfer drehen. So hoch die Favoritenrolle der Spanier einzuschätzen ist: Ein spanischer Erfolg ist nicht unvermeidlich. England hat durchaus das Potential, Spanien zu ärgern.
Englands Vorteile finden sich vor allem auf den Flügeln. Spaniens Außenverteidiger spielen äußerst offensiv: Cucurella und Carvajal rücken weit nach vorne, um Breite im Angriffsdrittel zu schaffen. Im Gegenpressing rücken sie weit ein, um zusammen mit den Sechsern das Zentrum zu sichern. Selbst im regulären Pressing lassen sie sich immer wieder aus ihrer Position ziehen.
Besonders Englands rechte Seite könnte Spanien vor massive Probleme stellen. Seit Southgate im Viertelfinale auf ein 3-4-3 umgestellt hat, spielt Saka als rechter Wing-Back. Er verfügt sowohl über die Geschwindigkeit als auch über die Fähigkeiten im Eins-gegen-Eins, um im Umschaltmoment die spanische Abwehr zu verwunden.

Gleichzeitig könnte sich im Finale der riskanteste Schachzug von Southgate bezahlt machen. Er nominierte Linksverteidiger Luke Shaw, obwohl dieser zu Beginn des Turniers nicht einsatzbereit war. Mittlerweile hat er seine Verletzung auskuriert. Gegen die Niederlande hat er bereits eine ganze Halbzeit absolvieren können. Gegen Spanien könnte er in die Startelf rutschen – und damit für die nötige Breite auf links sorgen.
Hier lag im Turnierverlauf eine Schwäche der Engländer: Trippier zog von seiner linken Außenposition immer wieder in die Mitte. Es fehlte die Breite auf dieser Seite. Gegen Spanien ist die Breite auf beiden Flügeln entscheidend.
Shaw könnte nicht nur mit seiner Geradlinigkeit, sondern auch seinen Flanken Spanien ärgern. Sowohl gegen Frankreich als auch gegen Deutschland bekamen die Spanier Probleme, sobald der Gegner den Ball häufiger hoch in den Strafraum jagte. England könnte diese Strategie verfolgen. Bellingham und Kane wissen, wie man eine Flanke in das gegnerische Tor befördert – und sei es mit einem Seitfallrückzieher.
In einem Punkt werden sich die Engländer steigern müssen: Ihre Defensive gefällt mir in diesem Turnier noch nicht. Nur wenige Gegner stellten sie vor ernsthafte Probleme; das lag aber nicht zuletzt an den Gegnern. Gerade das Mittefeld der Engländer lässt sich leicht aus der Position ziehen.
Spanien hatte im Ballbesitzspiel in diesem Turnier nur einmal Probleme: gegen die deutsche Mannschaft. Diese spielte eine Manndeckung über das gesamte Feld. Ich fürchte aus englischer Sicht, dass sie die deutsche Strategie nicht kopieren werden. Dann sehe ich schwarz für die Engländer: Spanien wird immer wieder die Räume hinter dem gegnerischen Mittelfeld attackieren.
Andererseits: Finals werden selten an der Taktiktafel entschieden. Die wenigsten Trainer wagen es, im Endspiel plötzlich eine überraschende Taktik oder ein neues System auszupacken. Meist entscheidet sich ein Finale an der Frage, welches Team das bestehende System besser umsetzt und wer mit dem Druck besser umgehen kann. Auch in diesem Punkt sehe ich Spanien vorne. Doch man weiß nie, was passiert.

Kurze Beobachtungen
- Apropos nicht wissen, was passiert: Die meisten meiner Voraussagen vor dem Turnier haben sich nicht bewahrheitet. Wisst ihr noch, als ich behauptet habe, Ungarn wird uns alle mit ihrem neuartigen Spielstil begeistern? Oder als ich die Türken nach den ersten Spielen für untauglich befunden habe? Tja. Nur mit einer einzigen Prognose lag ich richtig: Mein vor dem Turnier vorausgesagtes Finale Spanien gegen England findet tatsächlich statt. Da ich auf Spanien als Turniersieger getippt habe, kann dies angesichts meiner sonstigen Fehlschlägen bei diesem Turnier nur eins bedeuten: England wird Europameister.
- Dieses Tagebuch nähert sich seinem Ende. Morgen oder übermorgen wird es noch meine Elf des Turniers sowie ein kleines Fazit geben. Damit käme ich auf 18 Tagebuch-Einträge zur EM. Das ist ein kleiner Abwärtstrend im Vergleich zu den vergangenen Turnieren, als ich nahezu jeden Tag auf Sendung war. Ich werde eben nicht jünger. Wer das Tagebuch genossen hat und mir ein kleines Trinkgeld schenken möchte, kann dies über den Dienst Ko-Fi tun. Einfach den Button unterhalb des Tagebuch-Eintrags klicken. An dieser Stelle sei allen gedankt, die dies bereits getan haben: Insgesamt haben bisher 84 Leute gespendet, es sind 655€ auf diese Art zusammengekommen. Ich danke jedem Einzelnen, der mich mit einem Beitrag unterstützt hat!
Das Artikelbild zeigt das Finalstadion, das Olympiastadion in Berlin, und stammt von Marcin Szala. Lizenz: CC BY-SA 3.0.
Schonmal vor dem ersten Artikel: Danke für deine Artikel dazu. Immer lesenswert und spannend. 🙂