EM-Tagebuch, Tag 14: Tipps für Experten

Die Gruppenphase ist beendet. Am letzten Tag gab es noch einmal eine Sensation: Georgien besiegt Portugals B-Elf und landet somit im Achtelfinale der Europameisterschaft. Daher gibt es heute einen Blick auf die georgische Jugendarbeit. Außerdem habe ich Guidelines formuliert für einen guten Co-Kommentator.

Georgien: Von CR7-Fanboys zu CR7-Bezwingern

Vor elf Jahren unternahm Cristiano Ronaldo eine Reise nach Georgien. Der Portugiese bekam die Ehre zuteil, die frisch errichtete Akademie des FC Dinamo Tiflis zu eröffnen. Die jungen Talente aus der georgischen Hauptstadt durften anno 2013 ihr großes Idol aus nächster Nähe erleben. Unter ihnen: Giorgi Chakvetadze, Zuriko Davitashvili, Anzor Mekvabishvili und Khvicha Kvaratskhelia – allesamt georgische Nationalspieler des Jahres 2024.

Elf Jahre später trafen die georgischen Schüler erneut auf ihr Idol Ronaldo. Diesmal war von Ehranbietung wenig zu spüren. Einer der Jungs, Georgiens heutiger Superstar Kvaratskhelia, erzielte nach wenigen Minuten den Führungstreffer. In den folgenden 88 Spielminuten verbarrikadierte sich die georgische Elf am eigenen Strafraum. Sie warfen sich in jeden Zweikampf, hielten die Konzentration hoch, kämpften bis zur letzten Sekunde. Ihr Einsatz wurde belohnt: Dank des 2:0-Siegs erreicht Georgien bei seiner ersten EM-Teilnahme direkt die K.O.-Phase.

Die Akademie von Dinamo Tiflis spielt bei dieser Sensation eine nicht ganz unwichtige Rolle. Die Hälfte des georgischen Kaders stammt aus ihrer Jugendschmiede. Darunter findet sich auch Torhüter Giorgi Mamardashvili. Dass die Georgier weitergekommen sind, liegt zu einem Großteil an seinen Paraden. 21 Schüsse hat er in drei Spielen gehalten. Zum Vergleich: Der zweitplatzierte dieser Statistik, Albaniens Keeper Thomas Strakosha, hat gerade einmal 13 Versuche entschärft.

Die fußballerischen Defizite macht die Mannschaft durch Leidenschaft wett. Aus rein taktischer Sicht machen die Georgier wenig Innovatives. Sie verschanzen sich mit ihrer 5-3-2-Formation meist in der eigenen Hälfte. Aus dem Kollektiv heraus ragt vor allem das zentrale Mittelfeld mit seiner Lauf- wie Kampfstärke sowie die beiden Stürmer. Kvaratskhelia konnte bis zu seinem Treffer gegen Portugal zwar noch nicht überzeugen. Dafür trifft sein Nebenmann Georges Mikautadze am laufenden Band. Ausgebildet wurde Mikautadze im Übrigen nicht durch den georgischen, sondern durch den französischen Verband.

Schon vor der Europameisterschaft hat die Uefa versucht, den georgischen Erfolg in Teilen für sich zu reklamieren. Tatsächlich fließen die Millionen-Einnahmen des Verbands nicht nur in die Taschen der Funktionäre, sondern auch zurück in die Verbände. Georgien erhält seit Jahren Geld für seine Jugendförderung, im ganzen Land sprießen Fußballakademien aus dem Boden. Die meisten Nationalspieler brachte indes nicht der nationale Verband mit seinen von der Uefa geförderten Akademien hervor, sondern Dinamo Tiflis.

Für einen weiteren Punkt klopft sich die Uefa selbst auf die Schulter: Durch ihre Erfindung der Nations League wurde es Nationen wie Georgien überhaupt erst ermöglicht, an einer Europameisterschaft teilzunehmen. Dagegen kann man schwerlich argumentieren, schließlich qualifizierte sich Georgien über den Nations-Playoff-Weg C für das Turnier in Deutschland. Zudem erlaubt es die Nations League Ländern wie Georgien, Gegner auf Augenhöhe zu finden. Bei den zuvor üblichen Freundschaftsspielen fiel dies schwerer. Punkt für die Uefa.

Für die Uefa ist es ein Glücksfall, dass sich die Georgier für das Achtelfinale qualifiziert haben. Sie bestätigen den Weg, die Qualifikation breiter zu streuen und kleinere Verbände mit Förderungen für den Nachwuchsfußball zu belohnen. Für die georgischen Spieler dürfte der Erfolg eine Genugtuung sein. Sie haben es ihrem großen Idol Cristiano Ronaldo gezeigt.

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Guideline für Co-Kommentatoren

Man mag von Dazn halten, was man will: Sie haben die Sportberichterstattung verändert. Dazn importierte die Vorgehensweise nach Deutschland, bei jedem Spiel einen Experten als Co-Kommentator einzusetzen. Mittlerweile haben auch die Öffentlich-Rechtlichen Kanäle diese Praxis übernommen. Jedes EM-Spiel im TV wird von mindestens zwei Stimmen begleitet.

Ich möchte an dieser Stelle keinen Experten persönlich an den Pranger stellen. Aber die Qualität dieser Kommentare schwankt beträchtlich.

Ich selbst durfte den Job des Co-Kommentators in meinem Leben bereits dreimal ausführen. Ich verfüge also über nicht allzu viel Praxiserfahrung. Das hindert mich aber auch beim Fußballspielen nicht daran, theoretische Ratschläge zu geben. Also versuche ich mich mal an ein paar Tipps für etablierte und angehende Co-Kommentatoren.

  • Weniger ist mehr. Ich brauche nicht jede Minute eine neue Einschätzung, ob eine Mannschaft nun mit Vierer- oder Fünferkette agiert. Schau dir das Spiel in Ruhe an, sammle dich und gebe dann eine kurze, prägnante Analyse des Spiels. Je seltener ich den Co-Kommentator höre, umso eher bleiben mir seine Aussagen im Gedächtnis.
  • Lass den Kommentator kommentieren. Es gibt eine klare Aufgabenteilung: Der Kommentator beschreibt, was auf dem Feld passiert. Der Experte analysiert, warum etwas geschehen ist. Wenn jemand einen feinen Pass spielt oder einen Ball in den Winkel schlenzt, ist es Aufgabe des Kommentators, das Ganze mit „Oh“ und „Ah“ zu garnieren. Nicht die des Experten.
  • Rede nicht in Angriffe rein. Dieser Punkt fiel mir bei meinen wenigen Auftritten als Co-Kommentator besonders schwer. Man muss ein Spiel lesen können, um zu sehen, wann ein gefährlicher Angriff ansteht. Denn niemand will den Experten über kompakte Abwehrketten philosophieren hören, wenn der Stürmer im Strafraum zum Schuss ansetzt.
  • Lass Szenen wirken. Wenn ein Tor fällt, benötige ich nicht sofort eine Analyse des Geschehen. Es folgen ohnehin mindestens drei Zeitlupen, die das Tor aus allen Winkeln wiederholen. Zunächst braucht es Platz, die Emotionen des Tors zu verarbeiten. Dann erst wird es Zeit für eine Analyse.
  • Konzentrier dich auf deine Expertise. Es ist eine Unsitte überraschend vieler Experten, dass sie meinen, zu jeder Situation eine Einschätzung abgeben zu müssen. Gerade bei Schiedsrichter-Entscheidungen tut das selten Not – es wird ohnehin zehn Sekunden später der Schiedsrichter-Experte hinzugeschaltet. Konzentrier dich auf die Ebenen des Spiels, über die du Expertise verfügst. Nicht wenige Co-Kommentatoren-Einschätzungen zu Schiedsrichter-Entscheidungen sind schlichtweg falsch.
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Kurze Beobachtungen

  • Gestern Abend habe ich mich auf Twitter kritisch zu den Türken geäußert. Die Reaktionen waren erwartbar: viel ehrliche sportliche Debatte, aber auch die üblichen Beleidigungen und Kommentare der Marke: „Was hast du gegen die Türkei?“ Heute Morgen war mein Postfach auf jeden Fall voller als sonst – und das nicht mit netten Nachrichten. Ich verstehe, dass es schwer ist, sich als Mensch mit Migrationsgeschichte in unserer Gesellschaft zu bewegen. Gerade Mitbürger mit türkischen Wurzeln erleben häufig offenen wie verdeckten Rassismus. Es gibt nicht wenige in Deutschland, die sich heimlich oder offen über einen türkischen Misserfolg im Fußball freuen. Da triggert solch ein Tweet vielleicht. Ich muss aber auch sagen: Es geht hier um Fußball. Ich lobe Nationalteams, deren Fußball mir gefällt, und kritisiere Teams, die mir nicht gefallen. So werde ich es auch weiterhin halten. Die türkische Mannschaft bekleckert sich nun einmal nicht mit Ruhm in diesem Turnier. Knappe Siege gegen Georgien und gegen dezimierte Tschechen sind kein Maßstab. Ihr Mittelfeld stand in allen Gruppenspielen sperrangelweit offen. Das sollten sie schnellstens abstellen, wenn sie nicht wie im März mit 1:6 gegen Österreich untergehen wollen.
  • Leider habe ich das Finale der Gruppe E nur halb verfolgen können. Was ich gesehen habe, hat mich nicht überzeugt, Belgien ein erfolgreiches Turnier zuzutrauen. Die Mannschaft wirkt seltsam unausbalanciert. Mal laufen sie früh an, dann stehen sie wieder tief. Mal suchen sie zielstrebig den Weg zum Tor, mal brechen sie Angriffe ab. Keine Facette ihres Spiels können sie länger als zehn Minuten am Stück durchziehen. Die Mannschaft hat keinen strategischen Kern. Vielleicht schält sich der aber auch erst bei Spielen wie gegen Frankreich heraus, wenn die Belgier stärker auf Konter spielen können.
  • Ich weiß, ich klinge wie eine Schallplatte mit Sprung. Aber das 24er-Format ist für solch ein Turnier nicht optimal. Ungarn musste drei Tage warten, nur um zu erfahren, dass sie ausgeschieden sind. Rumänien und die Slowakei haben zwar alles dafür getan, den Eindruck einer Absprache zu vermeiden. Am Ende gingen sie trotzdem nicht mehr das letzte Risiko. Und die Ukraine muss nach Hause fahren, obwohl sie mehr Punkte gesammelt haben als drei der besten Gruppendritten. Das kann doch alles nicht im Sinne des Fußballs sein. Das Format sorgte bei mir in den ersten zwei Wochen für den Gedanken: „Naja, so wichtig war das Spiel nun auch wieder nicht, es scheiden eh nur acht Teams aus.“ Eine Aufstockung der EM auf 32 Teilnehmer würde das Niveau auch nicht stärker verwässern, als es der seltsame Vorrunden-Modus tut.

Das Titelbild zeigt Ralf Rangnick im Gespräch mit Matthias Opdenhövel und stammt von Steffen Prößdorf. Lizenz: CC BY-SA 4.0.

7 thoughts on “EM-Tagebuch, Tag 14: Tipps für Experten

  1. Insgesamt fehlt’s da oft an ehrlichem Coaching, glaube ich. Wer sagt es den großen Namen Ballack oder Matthäus, wenn sie nerven? (Als Beispiel – nicht weil die jetzt außergewöhnlich schlecht sind)

    Aber noch viel schlimmer als Experten, die kommentieren sind Kommentatoren, die experten und dem Co damit den Raum nehmen. Das nervt unheimlich, weil es dann auch so ein Ego-Wettbewerb wird. Da kann man aus der Anglosphere, wo das bei der BBC oder auch in der NBA viel besser läuft, gern noch mehr lernen.

  2. Aus österreichischer Sicht halte ich das „Rückspiel“ gegen die Türkei sowie ein möglicherweise weiteres gegen die Niederlande für unangenehm und schwierig.

    Ich hoffe, dass wir da früh anschreiben können und uns ein allzu langer Abnützungskampf erspart bleibt.

  3. Wegen dem Kommentieren: Ich fand Marcel Reiff eigentlich immer ziemlich gut. Dem hat man oft nachgesagt, dass er harter Bayern-Fan ist. Bis er sie, bei einem schlechten Spiel, in die Pfanne haute. Reiff kommentierte als Fan des Fußballs, nicht eines Vereins. Spielte jemand schlecht mit dem „Material“ (seufz), was sie hatten, dann lies er das durchblicken. Und umgekehrt. Fand ich eigentlich immer sehr gut.

  4. Bei der Kritik am 24er Format gehe ich generell mit. Einzig den Punkt mit der Ukraine kann ich nicht ganz nachvollziehen. Es ist zwar skurril, dass die Ukraine mit 4 Punkten rausfliegt, aber sie haben ja auch mehr Punkte als Gruppenzweiter Dänemark aus Gruppe C und ist deshalb ja eher ein generelles Ding von Gruppen, dass man nur die Teams jeweils in der 4er Konstellation vergleicht. Im klassischen Format, dass nur 1. und 2. weiterkommen, wird es das ja auch immer mal wieder geben, dass man mit mehr Punkten als Teams mit weniger Punkten aus anderen Gruppen rausfliegt.

  5. Ja, ich hadere auch mit dieser Tabelle der Gruppendritten. In 1. Linie aus spieltheoretischer Sicht. Die späten Teilnehmer haben ein unschätzbaren Vorteil gegenüber den frühen Teilnehmer. Auch ich habe mich darüber aufgeregt, dass die Ukraine mit 4 Punkten ausscheidet, aber Solwenien mit 3 Punkten weiterkommt. Allerdings gibt es diesen Umstand auch beim klassischen Format mit 16 Mannschaften. Dänemark wäre mit 3 Punkten in ihrer Gruppe auf Platz 2 weitergekommen, Ukraine mit 4 Punkten auf Platz 4 ausgeschieden. Die Gruppen können einfach nicht untereinander verglichen werden. Dafür sind die Gruppen zu heterogen.
    Daher bin ich, nach anfänglicher Skepsis, doch einigermaßen gespannt, wie sich das neue Format in der Champions League bewährt. Eben weil es keine Gruppen sondern einen randomisierten Ligabetrieb gibt.

  6. Ich bin ein bisschen erstaunt, dass erst DAZN den Experten als Ko-Kommentator in Deutschland eingeführt haben soll. Soweit ich mich erinnere, war bereits bei der WM 1990 regelmäßig das Duo Faßbender/Rummenigge live aus dem Stadion im Einsatz (bei der ARD, das ZDF hatte möglicherweise ebenfalls eine solche Lösung). In meiner Erinnerung hat das recht ordentlich funktioniert.

    1. Erfunden hat es Dazn sicher nicht. Bei wichtigen Spielen gab es das ab und an, etwa bei der WM 1990 oder auch bei Sky bei Champions League Finals. Dazn hat aber die Praktik nach Deutschland gebracht, bei jedem Spiel konsequent auf Kommentator und Experte zu setzen. Dass dies zum neuen Normal in der TV-Berichterstattung wurde, liegt maßgeblich an Dazn.

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