EM-Tagebuch, Tag 18: Englischer Dusel

Am gestrigen Sonntag gab es zwei Favoritensiege zu bestaunen. Während die Spanier sich in der zweiten Halbzeit in einen Rausch spielten, kamen die Engländer erst in letzter Minute weiter. Die englische Mannschaft ist eine der größten Enttäuschungen dieses Turniers. Trotzdem steht sie nun im Viertelfinale. Wie passt das zusammen? Das und viel mehr gibt es im heutigen Tagebuch zu entdecken!

England: Keine Mannschaft, nur Dusel

Vor langer Zeit, in den dunklen Anfangstagen dieses EM-Tagebuchs, habe ich versucht, Gareth Southgate zu verteidigen. Ja, seine Engländer spielen schlecht, stellte ich fest. Doch vielleicht wird Southgate im Verlaufe des Turniers noch den zweiten Gang finden. Vielleicht straft er am Ende alle Kritiker Lügen.

Spätestens nach dem Achtelfinale ist klar: Es gibt keinen zweiten Gang. Diese englische Mannschaft spielte gegen die Slowakei genauso schlecht, wie sie es in den ersten drei Vorrunden-Spielen getan hat.

Southgate hat jedwedes Risiko aus dem eigenen Spiel verbannt. Das beginnt bei der Taktik. Im eigenen Spielaufbau wagen sich die Außenverteidiger kaum nach vorne. Sechser Declan Rice lässt sich zusätzlich fallen. Die Engländer bauen praktisch immer mit fünf oder sechs Mann in der eigenen Hälfte auf. Selbst die Angreifer kommen dem Ball lieber entgegen, als dass sie Tiefe schaffen und in Richtung Tor starten.

Mein alter Spielverlagerung-Kollege Martin Rafelt hat es auf Twitter passend ausgedrückt: Wenn der Gegner den Ball stets in die Füße der Mittelfeldspieler passt, wird das Verteidigen für den Gegner babyleicht. Die Slowaken mussten null Risiko wagen, um die Engländer unter Druck zu setzen. Die Achter konnten Rice daran hindern, nach vorne zu spielen, ohne wirklich ins Pressing gehen zu müssen. Je weniger Risiken die eigene Mannschaft eingeht, umso weniger muss auch der Gegner rausrücken.

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Southgate mag gute Gründe haben, so zu spielen. Er möchte nach mehreren Anläufen endlich einen Titel gewinnen. Aber wenn man schon jegliches Risiko vermissen lässt, sollte man diesen Ansatz wenigstens gut ausspielen. Das ist das Schockierendste an der englischen Mannschaft: Weder verfügt sie über eine offensive Idee, wie sie den eigenen Ballbesitz in die gegnerische Hälfte tragen wollen, noch verteidigen sie gemeinschaftlich. Die Slowakei fand riesige Räume auf den Flügeln, wenn sie selbst einmal in die Offensive kamen.

Die Engländer wirken wie eine Ansammlung an Individualisten. Jeder Spieler kocht sein eigenes Süppchen. Es gibt keine abgestimmten Bewegungen, die Akteure unterstützen sich nicht, sondern meckern sich gegenseitig an.

Southgates Versuch, möglichst viele Stars in eine Aufstellung zu quetschen, ist gescheitert. Englands vier Angreifer kommen in dieser Saison zusammen auf 162 Scorer-Punkte. 162!  Gegen Serbien, Dänemark, Slowenien und die Slowakei haben die vier Angreifer einen Expected-Goals-Wert von 3,39 erzielt. Alle ihre Pässe und Abschlüsse zusammengerechnet! Lamine Yamal allein liegt bei 3,1.

Es gilt der alte Grundsatz des internationalen Fußballs: Es geht nicht darum, die besten Spieler aufzustellen, sondern die beste Mannschaft. Die Angreifer verfügen über keinerlei Synergien, das Zusammenspiel hakt an allen Ecken und Enden. Linksaußen Phil Foden will ins Zentrum kommen, Linksverteidiger Kieran Trippier aber auch. Jude Bellingham und Harry Kane lassen sich beide fallen, ohne dass Bukayo Saka die Tiefe besetzt. Wie gesagt: Jeder kocht sein eigenes Süppchen. Doch Southgate wagt es nicht, einen seiner Superstars auf die Bank zu setzen.

England spielt Heldenfußball der alten Schule. Zum Glück verfügt die Mannschaft über Helden. Bellingham, 94 Minuten lang einfalls- wie lustlos, packt plötzlich in der 95. Minute einen Fallrückzieher aus, als würde er vorsprechen für eine Live-Action-Adaption der Anime-Serie Tsubasa. In der Verlängerung köpft Harry Kane ein Harry-Kane-Tor. Das genügt gegen eine slowakische Mannschaft, die aufopferungsvoll verteidigt hat – aber eben nicht mehr.

Ob das auch gegen die überraschend starken Schweizer genügt? Alle rationalen Argumente schreien: Nein! Doch ich fürchte, die Engländer sind individuell einfach zu gut, um über die Schwächen ihres Trainerteams zu stolpern.

Spanien: Ein Favorit mit System

Ein Satz, der mich in meinem Blick auf Fußball geprägt hat, fiel einst in einem privaten Gespräch mit René Maric. Wir unterhielten uns über Hansi Flicks Bayern. Ich bemerkte, ihr Spiel sei doch allzu simpel: Einfach zu dechiffrierende Pressingmuster, klares Positionsspiel – nichts, was den Taktikfuchs in Erregung versetzt. Worauf René nur trocken antwortete: „Alles, was nicht einfach ist, ist nur Kompensation für mangelnde Qualität.“

Womit wir bei Spanien wären. Auf dem Papier macht die spanische Nationalmannschaft nichts Revolutionäres. Sie spielen ein klassisches 4-3-3, das gegen den Ball zum 4-2-3-1 werden kann. Entscheidend ist die breite Position der Außenstürmer: Die Spanier wollen Nico Williams und Lamine Yamal in Eins-gegen-Eins-Situationen schicken. Dazu halten die beiden Dribbelkünstler ihre Position auf dem Flügel. Die Außenverteidiger bewegen sich klassisch nach vorne. Mal hinterlaufen sie die Außenstürmer, mal vorderlaufen sie. Sechser Rodri lässt sich fallen, um das Vorrücken der Außenverteidiger aufzufangen.

Das ist alte Schule, tausendmal gesehen, tausendmal verteidigt. Doch die Spanier füllen dieses 4-3-3 mit derart viel Dynamik, mit Passschärfe und -genauigkeit, dass es eine wahre Freude ist, ihnen zuzuschauen. Es ist kein komplexes Spielsystem, aber genau das macht es so schwer zu verteidigen. Jeder Spanier kennt zu hundert Prozent seine Rolle.

Das ist kein Zufall. Der internationale Fußball ist austauschbar geworden. Die kleinen Nationen verteidigen alle im ewigglichen 5-3-2 oder 4-1-4-1, je nachdem, welche Variante der Trainer bevorzugt. Die Favoriten bedienen sich bei Pep Guardiola oder Mikel Arteta und basteln 3-2- oder 2-3-Aufbauvarianten. Würde man die Trikots schwärzen, könnte man die portugiesische Nationalmannschaft kaum von der belgischen unterscheiden. Nichts am Spielstil von Rumänien ist dezidiert rumänisch. Taktik ist längst globalisiert.

Die Spanier sind die einzige Nation, bei der ich mit Sicherheit sagen würde: Die würde ich auch erkennen, wenn sie in neutralen Trikots auflaufen und wenn ich kein einziges ihrer Testspiele gesehen hätte. Auch wenn sie bei dieser EM schneller in die Spitze spielen und weniger Ballbesitz sammeln: das 4-3-3, die Bewegungen der Achter, das Vorrücken der Außenverteidiger: All das machen die Spanier seit fünfzehn Jahren exakt so, von der U16 bis zum A-Team.

Daher wirkt diese spanische Mannschaft so viel eingespielter als jedes andere Team dieser EM. Nicht etwa, weil sie häufiger zusammengespielt haben. Sondern weil jeder Spieler seit Jahren seine Rolle kennt. Das ist der Unterschied zu anderen Nationen wie England, Belgien oder auch Deutschland. Und das ist der Grund, warum Spanien auch nach dem Achtelfinale mein Europameister-Tipp bleibt.

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Kurze Beobachtungen

  • Dass Spanien als einziger EM-Teilnehmer auch im neutralen Trikot zu erkennen wäre, war natürlich eine rhetorische Übertreibung. Zumindest auf ein weiteres Team trifft dies auch zu: Georgien. Als einziges Team dieser EM haben sie konsequent tief im 5-3-2 verteidigt. Die Ausbildung der Spieler ist darauf ausgelegt, sich in der eigenen Hälfte in die Zweikämpfe zu werfen. Offensiv soll über Konter Gefahr erzeugt werden. Gegen Spanien zeigten sie ein großartiges Spiel, das sie nur verloren, weil die Spanier noch großartiger waren. Man muss festhalten: Georgien bereicherte dieses Turnier ungemein.
  • Irgendwann hat sich im Mainstream die Meinung eingeschlichen, Stars dürfen gerne besondere Talente mitbringen, sollen aber ansonsten so bescheiden und respektvoll auftreten wie jeder hundsgemeine Schrebergartenbesitzer auch. Diese Meinung teilte ich nie, denn ich verfolge die Leben von Billy Eilish, Knossi oder Jude Bellingham ja nicht, weil sie talentfrei-normal drauf sind wie ich. Wer etwas leistet, darf sich auch mehr leisten – in dem Punkt denke ich altmodisch. Und wann bitte hat sich jemand einen arroganten Ausfall mehr verdient, als wenn er in der 95. Minute eines K.O.-Spiels per Fallrückzieher ein wichtiges Tor erzielt? Eben. Da finde ich es fast schon erfrischend, dass Jude Bellingham „Who else?“ schreit anstatt an die Eckfahne zu rennen und den neuesten Fortnite-Jubel auszupacken. Wer so ein Tor schießt, darf ruhig arrogant sein. Aber wie gesagt, ich denke da vielleicht zu altmodisch.

Das Titelbild zeigt den englischen Nationaltrainer Gareth Southgate und stammt von Kiril Venediktov, Lizenz: CC BY-SA 3.0.

6 thoughts on “EM-Tagebuch, Tag 18: Englischer Dusel

  1. „Gegen Spanien zeigten sie ein großartiges Spiel, das sie nur verloren, weil die Spanier noch großartiger waren.“

    Absolute Zustimmung – und wenn ich darf, zitiere ich dich damit im Bekanntenkreis 😀 Ich war als neutraler Zuschauer kurzfristig im Stadion (noch mal vielen Dank für deine Empfehlung der kurzfristigen Tickets in der Ticketbörse) und es war großartig. Fantastische Fans und gigantische Stimmung auf beiden Seiten, großer Kampf und großes Spiel der Georgier und die Spanier in fantastischer Form. Georgien gehört damit für mich mit zu den absoluten highlights des Turniers.

  2. Tobi kannst du vllt. noch ein bisschen mehr auf den Satz von René Maric eingehen (vor allem da er so wichtig erscheint). Mit Blick auf Real Madrid, die ja immer als Beispiel genannt werden für ein größtenteils nicht komplexes System welches aber von der Qualität der Spieler getragen wird, würde ich dem zustimmen. Aber wenn man Abstiegskandidaten (meistens nach Trainerwechseln) anschaut, dann wird ja häufig ein ‚back to the basics‘ ausgerufen und ein einfacher zu spielender kompakter Sean-Dyche-Defensivfußball gespielt. Ich versteh noch nicht ganz wie das zusammenpasst..

  3. Da du gestern dass Thema VAR nochmal angesprochen hattest: Wie bewertest du die Szene beim Tor von Rodri?
    Dass Morata sich bei seinem Schuss in einer klaren Abseitsposition befand, ist ja nicht von der Hand zu weisen. Und wenn man sich das Standbild kurz vor dem Schuss von Rodri anschaut, dann sieht man auch ganz klar wie Mamardashvili an Morata ‚vorbeischauen‘ muss.

    Die beiden Kommentator*innen beim ARD haben das Thema gleich abgewatscht, ich war mir live (auch wegen FRA vs NED) ziemlich sicher dass das Tor nicht gegeben wird… aber dann wurde ich eines Besseren belehrt.

  4. „Doch ich fürchte, die Engländer sind individuell einfach zu gut, um über die Schwächen ihres Trainerteams zu stolpern.“

    Während einer Trainerausbildung rezitierte ein ebenso zynischer wie brillanter Verbandssportlehrer immer dann sein Lieblingsbonmot, wenn wir nicht verstanden, wie es sein könne, dass Mannschaften mit schlechten Trainer erfolgreich sind. ‚Erfolg kann man nicht verhindern.‘

    1. Oder wie es ein Spieler mir gegenüber formuliert hat, der einst Deutscher Meister wurde: „Der Trainer hat alles dafür getan, damit wir nicht Meister werden, aber der Kader war einfach zu gut.“

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