Alle Augen auf Cristiano Ronaldo! Auch ich kann mich der Anziehungskraft des Superstars nicht entziehen. Er hat aber im Achtelfinale gegen Slowenien auch alles dafür getan, dass sich die Scheinwerfer auf ihn richten. Damit hilft er auch den Belgiern. Die schleichen sich nach dem erneut frühen Aus ihrer Goldenen Generation aus der medialen Schusslinie.
Die große Ronaldo-Show
Oops, he did it again. Cristiano Ronaldo ziert mal wieder die Titelspalten aller Zeitungen und Webseiten. Das portugiesische Achtelfinale gegen Slowenien war seine Show – nur dass der Abend nicht so verlaufen ist, wie es sich der fünfmalige Preisträger des Ballon d’Or ausgemalt hatte.
Sportlich gesehen ist die Debatte recht simpel: Portugals Trainer Roberto Martinez vertraut das Toreschießen einem 39 Jahre alten Angreifer aus der saudi-arabischen Liga an, anstatt auf einen 27-Jährigen Dribbler vom Dritten der Premier League oder auf einen 23 Jahre jungen Brachialstürmer vom französischen Meister zu setzen. Dass dieser 39-Jährige auch noch sämtliche Freistöße und Elfmeter schießen darf, obwohl einer seiner Mitspieler zu den derzeit besten Freistoßschützen der Welt gehört, ist das nächste Kuriosum.
Praktisch gesehen baut Portugal seine ganze Europameisterschaft darauf auf, dass ihr größter Fußballer aller Zeiten sich nicht der bitteren Wahrheit stellen muss, dass selbst die Zeit der Besten irgendwann abläuft.
Das finde ich als 36 Jahre alter Mann mit Haarausfall zugleich er- wie entmutigend. Es ermutigt mich, dass auch ich im Zweifel meine Midlife-Crisis offen ausleben darf. Zugleich bezweifle ich, dass irgendwelche talentierteren 23-Jährige zurückstecken werden, nur damit ich mich so fühlen darf, als hätte sich die Welt in den vergangenen fünf Jahren nicht weitergedreht. Andererseits: Hieße der 39 Jahre alte Mann nicht Cristiano Ronaldo, hätten seine Mitspieler längst interveniert. Spätestens beim dritten Freistoß hätte Bruno Fernandes rufen müssen: „Tomorrow, my friend.“
Ich habe jetzt mich dazu hinreißen lassen, viel zu viele Wörter für das Thema Ronaldo zu verschwenden. Das muss man ihm lassen: Man kann sich seiner Strahlkraft nicht entziehen. Ich möchte im Folgenden aber den Scheinwerfer in die andere Richtung drehen.
Slowenien gehört spätestens nach diesem knappen Aus zu den Überraschungen des Turniers. Sie blieben gegen Portugal und gegen England über 210 Minuten ohne Gegentor. Das kann man mit der offensiven Schwäche beider Favoriten erklären. Es wäre jedoch kaum möglich gewesen ohne das kompakte Auftreten des Außenseiters.
Gegen Portugal beeindruckten die Slowenen mich. Sie verbarrikadierten sich nicht am eigenen Strafraum, sondern rückten durchgehend geschlossen nach vorne. Interessant war ihre Art, wie sie den Dreieraufbau der Portugiesen anliefen. Nominell spielten sie ein 4-4-2. Ein Außenstürmer rückte aber stets nach vorne, wenn die Portugiesen den Ball in der letzten Linie hatten.
Nur selten übten die Slowenen Druck auf die gegnerischen Verteidiger aus. Stattdessen schlossen die drei Slowenen in der vordersten Linie die Passwege ins Mittelfeld. Die Slowenen achteten ebenso darauf, dass die Portugiesen nicht horizontal von einem Flügel zum anderen verlagern konnten. Oft sahen sich die Portugiesen gezwungen, den Flügel entlangzuspielen. 39 Flanken schlugen die Portugiesen in Richtung Ronaldo. Ich kann mich an keine Großchance erinnern, die durch solch eine Hereingabe entstanden ist.
Anders als Georgien oder die Slowakei gelang es Slowenien, den eigenen Spielstil über die volle Spielzeit durchziehen. Selbst in der Verlängerung zogen sie sich nicht zurück, sondern rückten mit Abwehr und Mittelfeld immer wieder nach vorne. Man kann die Niederlage am Ende sogar als unglücklich bezeichnen. Benjamin Sesko hatte zweimal die Möglichkeit, das Spiel zugunsten der Slowenen zu entscheiden.
Am Ende triumphierten die Portugiesen. Der Held des Tages hieß nicht Ronaldo, sondern Diogo Costa mit seinen drei gehaltenenen Elfmetern. Für CR7 könnte es nach dem Spiel indes ungemütlich werden. Bislang erstickte Trainer Martinez jede Debatte um den Superstar im Keim. Das ist nach der Leistung gegen Slowenien kaum mehr möglich. Fußball ist keine Mathematik. Doch ein Stürmer, der kein Land sieht gegen Jaka Bijol und Vanja Drkusic, dürfte sich kaum gegen William Saliba und Dayot Upamecano durchsetzen.
Verteidigen will gelernt sein
Oops, they did it again. Frankreich hat gegen Belgien nicht brilliert. Die Zahl der Chancen auf beiden Seiten lässt sich an einer Hand abzählen. Am Ende siegten die Franzosen. Man bekam nicht das Gefühl, als wäre der Weltmeister von 2018 so richtig ins Schwitzen geraten.
Während Spanien und Deutschland neutrale Fans begeistern, spielt Frankreich seinen Stiefel herunter. Sie verfügen über eine gut sortierte Defensive, eine gut abgestimmte Raumaufteilung und schicken nicht mehr Spieler als nötig in den gegnerischen Strafraum. Mehr braucht es nicht, um den Gegner in Schach zu halten. Dass sie gegen Belgien ihren ersten Treffer aus dem Spiel erzielten, ist da fast schon eine Randnote.
Trainerveteran Didier Deschamps weiß, wie internationale Meisterschaften funktionieren. Am Ende gibt es keinen Preis für schönen Fußball, es gibt nur einen Gewinner und 23 Verlierer. Im Zweifel genügt es, bis zum Finale möglichst kein Gegentor einzufangen. Das machen die Franzosen besser als jedes andere Team bei diesem Turnier. Im Schnitt kommen sie bei dieser EM auf sieben zugelassene Torschüsse pro Spiel, ihre Gegner hatten im Schnitt 0,7 Expected Goals. Und anders als manch anderer Favorit hat Frankreich nicht gegen totaldefensive Außenseiter spielen müssen, sondern gegen Österreich, die Niederlande und Belgien.
Wobei ich letzteren Satz noch einmal überdenken muss. Auf dem Papier waren die Belgier keineswegs Außenseiter. Auf dem Feld spielten sie jedoch kaum anders, als dies die Slowakei oder Rumänien getan hätten. Domenico Tedesco ließ seine Elf in einem tiefen 4-4-2 verteidigen. Bei Ballbesitz entstand ein 3-4-3, wobei auch hier die Belgier nicht allzu riskant aufrückten.
Besonders gewundert hat mich die Maßnahme von Domenico Tedesco, Kevin de Bruyne ins zentrale Mittelfeld zurückzuziehen. Er hatte auf dieser Position mehr Gestaltungsspielraum. Zugleich beraubte sich Belgien damit jeglicher Kreativität im letzten Drittel. Gerade einmal einen einzigen Pass in die Spitze spielte de Bruyne über neunzig Minuten. Man müsste meinen, ein Trainer setzt den besten Vorlagengeber der Welt so ein, dass er Vorlagen geben kann.
Dass Tedesco seine Taktik selbst dann nicht anpasste, als Frankreichs Sechser Aurélien Tchouaméni früh die Gelbe Karte sah, schockierte mich. De Bruyne als Zehner gegen einen vorbelasteten Sechser: Das hätte für Frankreich schnell schiefgehen können. Tat es aber nicht. Belgien war gefangen im eigenen Defensivfokus.
Das ist die Krux an dieser Partie: Beide Mannschaften setzten voll und ganz auf Defensive, doch nur eine hatte das richtige Personal dafür. Ich bekam nie das Gefühl, als brächten die Belgier Saliba und Upamecano ins Schwitzen. Auf der anderen Seite verweigerte die komplette belgische Elf vor dem 0:1 den Zweikampf, sodass sich Frankreich unbedrängt in den Strafraum kombinieren konnte. Auch das tiefe Verteidigen will gelernt sein.
Die großartige Generation der Belgier hat bei einem großen Turnier enttäuscht. Mal wieder. Sicher: Gegen Frankreich kann jede Nation verlieren. Ob Belgien sich mit einer offensiveren Strategie besser verkauft hätte, bleibt eine Frage für die Götter. Vor allem muss man spätestens jetzt die belgischen Auftritte in der Vorrunde kritisieren. Denn das Los Frankreich hätten die Belgier leicht umgehen können.
Kurze Beobachtungen
- Heute folgen die letzten beiden Achtelfinals. Es trifft jeweils ein überraschender Gruppensieger auf einen individuell stark besetzten Gegner, der aber im Verlauf des Turniers noch nicht zu einer Einheit gefunden hat. Deutlich zu erkennen ist dies bei den Niederländern. Sie werden sich mit ihrem biederen Fußball schwer tun gegen disziplinierte Rumänen. Auch die Türkei braucht eine Leistungssteigerung, um nicht von den energetischen Österreichern überrollt zu werden.
- Zum Schluss möchte ich kurz Werbung in eigener Sache machen: Ich freue mich über jeden, der das Tagebuch über Ko-Fi unterstützt hat. Noch mehr freue ich mich aber, wenn ihr mein Buch „Die Weltmeister von Bern“ kauft. Es steckt viel Schweiß und Herzblut in diesem Projekt. Bislang haben mich viele positive Reaktionen zum Buch erreicht, auf Goodreads und Amazon erreicht es eine höhere Wertung als alle meine bisherigen Bücher. Und damit endet auch der Werbeblock, bevor Lukas Podolski hier angezeckt kommt und für einen seiner drölfzehn Partner wirbt.
Das Titelbild zeigt Cristiano Ronaldo und stammt von dinesh von der Seite hdwallpapers.net. Lizenz: CC BY-SA 3.0.
so schön, hier noch ein „Tomorrow, my friend“ HSV-Zitat einzubauen 🤩
Sehe ich das falsch, oder haben die Slowenen Pepe als einzigen Verteidiger im Aufbau nicht gepresst. Sobald Pepe den Ball zu einem seiner Verteidigerkollegen gespielt hat, wurde dieser angelaufen. Hatte Pepe wieder den Ball, zogen sich die Slowenen wieder ein wenig zurück. Kann das damit zu haben, dass sie Pepe nicht zugetraut haben, einen langen gefährlichen Pass in die Tiefe spielen zu können (was u. a. im Spiel gegen die Tschechen mehrmals deutlich wurde)?
„Dass sie gegen Belgien ihren ersten Treffer aus dem Spiel erzielten, ist da fast schon eine Randnote.“
Haben sie ja gar nicht, das Tor wird richtigerweise als Eigentor von Verthongen gewertet. 😉
Was mich als neutraler Beobachter bei dem Spiel wirklich zur Weißglut getrieben hat, war wie es beide Mannschaften – und die Belgier noch mehr als die Franzosen – im Aufbau vermieden haben nur ja nicht in die gegnerische Formation zu spielen. War der Raum zwischen den Linien auch noch so groß, aber da wurde lieber umständlich und sinnfrei heraus- und abgekippt um ja kein My an Risiko einzugehen. Zugegeben, die Staffelungen waren nicht ganz so bescheuert wie bei England, aber mir geht nicht ein wie das auf diesem Niveau möglich ist.
Wie darf man sich denn bitte die Trainings und Analysen vorstellen, wenn das nach Jahren unter demselben Trainer so daherkommt?