EM-Tagebuch, Tag 17: Deutsch-dänisches Donnerwetter

Unerwartete Veränderungen bei Eingriffen in komplexe Systeme: Um diese Facette dreht sich heute das Tagebuch nach dem deutschen Sieg gegen Dänemark. Am Ende gibt es aber auch noch ein paar kleinere sportliche Analysen sowie einen längeren Absatz zum Spiel Schweiz gegen Italien.

Deutschland: Begünstigter eines komplexen Systems

Das Vehicle Assembly Building in Florida ist der ganze Stolz der Nasa. Als die Fertigungshalle für Weltraumraketen 1965 eingeweiht wurde, war sie das größte Gebäude der Welt. Man kann in dieser riesigen Lagerhalle die Spaceshuttle der Nasa aufrecht lagern.

Nach der Fertigstellung gab es nur ein Problem: Das Gebäude war so groß, dass ein eigenes Ökosystem entstand. An der Decke der Lagerhalle bildeten sich Wolken, die sich in heftigen Regenschauern ergossen. Die Nasa musste dem Gebäude einen weiteren Superlativ hinzufügen: Eine der größten Klimaanlagen der Welt wurde eingebaut, um der Bildung der Wolken vorzubeugen.

Ich beginne meinen Text zum Deutschland-Spiel mit dieser Anekdote nicht etwa, weil Wolken und Regenfälle auch beim gestrigen Achtelfinale eine entscheidende Rolle spielen. Viel eher demonstriert diese Geschichte, wie unvorhergesehene Wendungen die Planung komplexer Systeme erschwert. Kein Architekt hat sich zuvor Gedanken gemacht, dass in einer Lagerhalle Wolken entstehen könnten.

Damit wären wir beim Thema des Tages: der Videoassistent. Als dieser vor einigen Jahren eingeführt wurde, schien die Logik simpel: Ein Videoassistent kann helfen, den Schiedsrichter vor groben Fehlurteilen zu bewahren. Das passende Beispiel hierfür war Frankreichs Qualifikation zur WM 2010. Im entscheidenden Spiel gegen Irland hat sich Stürmer Thierry Henry mit der Hand beholfen, um einen Ball ins Tor zu bugsieren. Jeder im Stadion hat dieses Handspiel gesehen, spätestens als es auf den Bildschirmen der gerade in Mode gekommenen Smartphones aufploppte. Nur der Schiedsrichter durfte diese Bilder nicht anschauen. Das erschien nicht mehr zeitgemäß.

Die Hoffnung der Regelhüter lautete: Der VAR kann helfen, solche Fehler zu vermeiden. Er würde den Fußball gerechter machen. Ob er dies am Ende getan hat, darüber können Gelehrte und Nicht-ganz-so-Gelehrte stundenlange Vorträge halten. Ich würde argumentieren, dass sich die Zahl der groben Fehlentscheidungen massiv reduziert hat, seit ein weiterer Schiedsrichter auf diese Geschehnisse per Video draufschaut.

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Wie es nun einmal ist bei Eingriffen in komplexe Systeme, gibt es am Ende jede Menge Nebenwirkungen, die zuvor niemand bedacht hat. Beim Spiel Deutschland gegen Dänemark konnte man im Abstand von nicht einmal 120 Sekunden die beiden größten Änderungen betrachten, mit denen der VAR das gesamte Spiel verändert hat.

Zunächst erzielte Dänemark einen Treffer nach einem Freistoß, ehe sich der VAR zu Wort meldete. Abseits. Dank modernster Technologie ließ sich nachweisen: Thomas Delaney war eine Schuhgröße vor dem vorletzten Gegenspieler. Es war ein Tor, dessen Anerkennung ohne VAR niemand ein Frage gestellt hätte.

Nur wenig später folgte der nächste VAR-Eingriff. Joachim Andersen, kurze Zeit zuvor noch Schütze des aberkannten Tors, fährt im eigenen Strafraum den Arm aus. Der Ball touchiert die ausgestreckte Hand. Ob sich die Flugkurve dadurch wirklich verändert, lässt sich nicht rekonstruieren. Ein Chip im Ball konnte jedoch einwandfrei auflösen, dass der Arm den Ball berührt. Der VAR ruft den Schiedsrichter an den Spielfeldrand, der entscheidet: Elfmeter. Deutschland geht in Führung.

Beide Entscheidungen sind regeltechnisch korrekt. Die Abseitsregel kennt keine Klausel, nach der ein Stürmer mindestens eine Schuhlänge im Abseits stehen muss. Die Handregel sieht vor, dass grob fahrlässiges Handspiel genauso bestraft gehört wie bewusst-absichtliches.

Und dennoch haben beide Entscheidungen einen bitteren Nachgeschmack. In einer Welt ohne VAR hätte niemand diese Szenen nach dem Spiel diskutiert. Niemand hätte sich um sie geschert. Erst der VAR brachte diese Themen auf das Feld. Seit sich die Schiedsrichter Handspiele am Spielfeldrand anschauen dürfen, ist die Zahl der Handelfmeter massiv gestiegen. Das Gleiche gilt für zentimetergenaue Abseitsentscheidungen. Sie sorgen dafür, dass sich die Stürmer im Zweifel einen halben Meter weiter hinten aufhalten.

Das alles sind Eingriffe in die Art, wie Fußball gespielt wird. Wiegt das Mehr an Gerechtigkeit diese deutliche Veränderung des Spiels auf? Ich würde sagen: ja. Man muss sich jedoch bewusst machen, dass der VAR bestimmte Schwächen der Fußballregeln noch deutlicher zum Vorschein treten lässt; etwa die schwammigen Regeln zum Handspiel oder eine Abseitsregel, deren Feinheiten Menschen mit bloßem Auge gar nicht wahrnehmen können.

An diesem Abend war die deutsche Mannschaft der Nutznießer des VAR. Denn ob die deutsche Elf einen Rückstand noch aufgeholt hätte – das bleibt genauso eine Spekulation wie die Frage, wie der Fußball heute ohne VAR aussehen würde.

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Die Schweizer Garde

Ich werde in den kurzen Beobachtungen noch ein, zwei Absätze zum deutschen Spiel schreiben. Zunächst einmal möchte ich aber auf die erste Sensation des Achtelfinals stürzen. Italien bleibt chancenlos gegen die Schweiz. Der amtierende Europameister scheidet aus, während die Eidgenossen das Viertelfinale buchen dürfen.

Die Schweizer sind für mich die größte Überraschung des Turniers. Nach einer himmelsschreiend schwachen Qualifikation und ein paar grottig-langweiligen Testkicks spielen die Schweizer im Turnier plötzlich auf, als hätte der Fußballgott sie höchstpersönlich vor dem Turnier trainiert.

Ihr Trainer ist zwar nicht der Fußballgott, dafür aber Murat Yakin. Aus taktischer Sicht hat er in diesem Turnier einen guten Riecher bewiesen. Die Rochaden der Schweizer auf den Flügeln ärgern jeden Gegner. Hinzu kommt eine Manndeckung, der sich bislang kein Gegner entziehen konnte, weder Ungarn noch Deutschland noch Italien.

Dass die Italiener jedoch derart hilflos wirken gegen ein simples Mann-gegen-Mann-Pressing, hat mich letztlich doch schockiert. Trainer Luciano Spalletti hatte seine Elf auf fünf Positionen umgebaut, selbst Jorginho musste auf der Bank Platz nehmen. Diese Wechselspiele halfen dem Team nicht: Die Mannschaft wirkte nicht eingespielt, kombinierte kaum, wusste sich nur mit langen Bällen und tiefem Verteidigen zu helfen.

Spalletti betonte seit dem Beginn des Turniers, die Europameisterschaft sei nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zur WM 2026. Es werde Zeit in Anspruch nehmen, seinen offensiven Spielstil zu implementieren. Von Spallettis Ballbesitzfußball war im Verlauf des Turniers aber so wenig zu erkennen, dass man die EM nicht einmal als Mini-Step verkaufen kann.

Napolis Meistertrainer hatte keine feste Startelf, keine klare Formation, keine Idee, wie das eigene Team zu Toren kommen soll. Am Ende besannen sich die Italiener auf das, was sie eigentlich können sollten: das Verteidigen. Doch Tiefstehen und auf die Unfähigkeit des Gegners hoffen, genügt im Jahr 2024 nicht mehr. Zumal dieses Turnier bislang deutlich von jenen Teams dominiert wird, die im Pressing etwas riskieren und den Gegner stressen. Stichwort: Spanien, Deutschland, Österreich – und nun auch die Schweiz.

Murat Yakin: 2. Luciano Spalletti: 0. Das hätte ich vor dem Turnier auch nicht erwartet.


Kurze Beobachtungen

  • Viel Aufregung gab es vor dem deutschen Spiel über Julian Nagelsmanns Aufstellung. Dass Nico Schlotterbeck und David Raum in die erste Elf rutschen, hatten viele erwartet. Die große Überraschung war die Aufstellung von Leroy Sané. Er sollte mehr Breite und Tiefe ins deutsche Spiel bringen. Das hat er aus meiner Sicht getan. Der zuletzt blutleer wirkende Florian Wirtz hat in den deutschen Gruppenspielen weniger kreiert, als Sané an diesem Abend gelungen war. Nur manchmal hätte Sané den Ball ruhig früher abspielen dürfen. Insgesamt ging Nagelsmanns Umstellung auf mehr Breite gut auf.
  • Apropos Umstellungen: Die Fünferkette bleibt eine wichtige Variante für das deutsche Team. Als Robert Andrich sich nach der Pause in die Abwehr fallenließ, verteidigte das deutsche Team gleich viel stabiler. Schon gegen die Schweiz hat die DFB-Elf diese Variante erfolgreich erprobt. Ich hatte in den vergangenen Tagen sogar das Gefühl, dass Julian Nagelsmann etwas beleidigt war, dass so wenige Journalisten ihn auf den Taktikkniff ansprachen. Daher hier noch einmal die klare Aussage: Der Wechsel zwischen Vierer- und Fünferkette funktioniert bei diesem Turnier überraschend gut, und Nagelsmann setzt ihn gut ein. Auch wenn in der Donnerschlacht von Dortmund eher die Primärtugenden Kampf und Laufstärke gefragt waren.
  • Am heutigen Tag warten zwei Duelle mit klar verteilten Rollen. Die Slowakei und Georgien gehen als Außenseiter in die Partien. England und Spanien müssen zwei massierte Abwehrreihen knacken. Die Slowaken pressen dabei noch etwas wuchtiger, während Georgien ganz auf die Kompaktheit des 5-3-2 setzt. Nach den bisher gezeigten Leistungen würde man glauben, Spanien sei klarer Favorit und England ein Kandidat für einen Stolperer. Ich sehe aber mehr Gefahren für Spanien. Während England sich mit individueller Klasse gegen einen defensiv nicht immer sattelfesten Gegner durchwurschteln könnte, müssen die Spanier einen defensiven Block knacken. Diese Facette wurde ihnen in der Vorrunde nicht abverlangt. Ob es ihnen gegen aufopferungsvoll kämpfende Georgier gelingt? Ich freue mich auf Tag zwei des EM-Achtelfinals!

Das Titelbild zeigt das Vehicle Assembly Building der Nasa und stammt von Torsten Bolten. Lizenz: CC BY-SA 3.0.

6 thoughts on “EM-Tagebuch, Tag 17: Deutsch-dänisches Donnerwetter

  1. „In einer Welt ohne VAR hätte niemand diese Szenen nach dem Spiel diskutiert. Niemand hätte sich um sie geschert.“

    Das genau würde ich in Frage stellen: Es ist doch in den Jahren vor Einführung des VAR im Studio, bei den Experten und auch in den sozialen Medien, dank immer besserer Technik, Superzeitlupe und ein Dutzend Perspektiven, immer intensiver über winzigste Fehlentscheidungen diskutiert worden und den Schiedsrichtern Vorwürfe dafür gemacht worden, dass sie Dinge nicht gesehen haben, die klar Abseits oder Hand waren: Klar nach fünf Minuten Studium von ein Dutzend Perspektiven. Genau deswegen wurde der VAR dann ja eingeführt: Um den Schiris die Möglichkeiten der Technik zu geben.

    Dass das nun manchmal absurd anmutet liegt dann, wie Du richtig schreibst, an schwammigen Regeln, gerade beim Handspiel. Beim Abseits liegt es denke ich etwas anders, es muss ja eine Linie geben, egal wo man sie anlegt und dann gibt es dank oder wegen der Technik eben immer Milimeterentscheidungen.

    Anders gesagt: Gemeckert wurde und wird immer über die Schiris, vor und nach VAR.

  2. Was bei der aktuellen Handspielregel immer deutlicher wird: Das Vergehen steht in keinem Verhältnis mehr zur Bestrafung. Aus einem mittelmäßigen Angriff wird plötzlich eine hochkarätige Torchance.

  3. Brieflichst mal so als Gefanke: Man sollte zwischen Kritik an der Regel und Fehlern unterscheiden. Ja, bei beiden Situationen kann man gerne über den Sinn der Regel diskutieren und ich bin mir nicht sicher, ob ich diese Regeln gut finde – aber am Ende wurden zwei Richtige Entscheidungen getroffen. Das ist eine ganz andere Diskussion, als wenn ein Tor wegen Abseits abgepfiffen wird, dass sich später als falsch herausstellt- dafür wurde der VAR eingeführt.
    Es ist qualitativ etwas anderes, wenn sich hinterher Dänemark über die Regel beschwert, als wenn sich Deutschland hinterher darüber beschwert, dass das Tor wegen abseits eigentlich nicht zählen hätte dürfen.

  4. Schöner theoretischer Gedanke bzgl. VAR.

    (Regeln können verbessert werden, um mit den anderen Entwicklungen Schritt zu halten. Spiel mit/ohne Ball, Taktik haben sich schließlich auch angepasst.)
    „durchwurschteln könnte“ – der ist gut… (als hättest du es geahnt).

  5. > Doch Tiefstehen und auf die Unfähigkeit des Gegners hoffen, genügt im Jahr 2024 nicht mehr.

    Fairerweise: Doch, aber man braucht dafür eine absurd hohe individuelle Qualität. Wie Frankreich.

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