EM-Tagebuch, Tag 10: Gratis-Upgrade dank KI?

Auf taktische Analysen und Gehversuche im politischen Philosophieren folgt heute mal ein Bericht aus der Praxis. Wie waren meine Erlebnisse im Volksparkstadion? Außerdem sinniere ich über Domenico Tedescos Strategie als Belgien-Trainer und es gibt ein paar kurze Worte zum unvermeidlichen Cristiano Ronaldo.

Uefa-Tickets: Funktionabel, aber vollkommen intransparent

Ich hatte das Glück, Tickets für gleich zwei Spiele der Europameisterschaft zu ergattern. Den niederländischen 2:1-Sieg gegen Polen habe ich zusammen mit meinem Sohn besucht. Gestern war ich allein beim Spiel Georgien gegen Tschechien. Beide Male habe ich die Tickets auf legalem wie offiziellem Weg erworben: über die Ticketseite der Uefa. Die Tickets für das erste Spiel habe ich bereits in der zweiten Verkaufsphase geschossen. Mein Besuch beim gestrigen Spiel war eher spontan: Vorgestern gab es noch Tickets für Georgien gegen Tschechien im Uefa-Ticketportal, von denen ich eins gekauft habe.

Zunächst einmal zur Organisation: Ich kann nur von den Verhältnissen in Hamburg sprechen, aber hier hat bei beiden Stadionbesuchen alles wunderbar funktioniert. Die Anreise verlief ohne Probleme, und wenn jemand nicht weiterwusste, half ihm sofort einer der zahllosen Freiwilligen. Um das Stadion war die Stimmung ausgelassen, auch der Einlass an den Drehkreuzen ging zügig. Von der An- und Abreise in den Öffentlichen Verkehrsmitteln kann ich ebenfalls keine Schauergeschichten erzählen.

Was mich beeindruckt hat, war die Tatsache, dass das Stadion zu einem großen Teil mit Fans der jeweiligen Nation besetzt war. Das ist keine Selbstverständlichkeit bei so einem Turnier. Gerade die Fifa gibt immer mehr Karten an neutrale Zuschauende, Sponsoren und Freunde des Hauses raus. Bei beiden Spielen im Volksparkstadion war die Stimmung herausragend, gerade weil Fans im gesamten Rund die Gesänge ihrer Nation anstimmten.

Bei meinem zweiten Stadionbesuch kam ich in den Genuss eines Phänomens, das mir die fehlende Transparenz der Ticketvergabe vor Augen geführt hat. Zur Erläuterung: Man darf sich bei der Ticketauswahl seine Plätze nicht selbst aussuchen. Stattdessen kauft man Tickets für eine Kategorie; es gibt „Prime Seats“, die besten Plätze im Stadion, die Kategorie „Fans First“ für Plätze hinter den Toren sowie die Kategorien 1 bis 3, die sich über das Stadion verteilen. Auf der Seite der Uefa kann man sehen, an welchen Flecken des Stadions die Ticketbesitzer welcher Kategorie sitzen. Wenige Tage vor dem Spiel erhält man dann seine endgültigen Tickets auf dem Handy, inklusive Platznummer und genauer Anweisung, wie man zu diesem Platz kommt. Ich nehme an, die Uefa hat einen digitalen Algorithmus entwickelt, der die Fans auf das Stadion aufteilt.

Der Hamburger Stadionplan laut Uefa. Die von mir erworbenen Karten der Kategorie 2 hätten eigentlich einen Platz im blauen Bereich bedeuten sollen. Stattdessen saß ich an der Grenze zwischen Prime Seat (dunkelrot) und Kategorie 1 (hellrot). Die Grafik stammt von der Seite der Uefa.

Dank der Seite der Uefa kann ich genau nachverfolgen, dass ich bei meinem zweiten Besuch enormes Glück hatte. Ich hatte ein Kategorie-Zwei-Ticket gebucht. Die dazu gehörigen Plätze finden sich in den Ecken und auf den obersten Rängen. Am Ende saß ich aber auf der Gegengerade zentral im Unterrang; der Grafik zufolge lag mein Platz genau an der Grenze zwischen Prime Seats und Kategorie 1. Je nachdem, wo genau mein Platz war, bedeutete dies ein Upgrade, das zwischen 50€ und 250€ wert war.

Dadurch, dass die Plätz automatisch von der Uefa zugeteilt werden, ist für mich nicht nachzuvollziehen, wieso ich in den Genuss dieses Upgrades kam. Meine Vermutung lautet: Auf der Gegengerade war schlicht noch ein Platz frei. Das Spiel Tschechien gegen Georgien war nahezu ausverkauft – aber eben nur nahezu. 46.524 Zuschauer saßen laut Kicker im Stadion, die Kapazität des Volksparkstadions bei dieser EM beträgt 48.117.

Die leeren Stühle fanden sich vor allem im Oberrang hinter den Toren – dort, wo ich laut meinem Kategorie-Zwei-Ticket eigentlich hätte sitzen sollen. Es sind Plätze, die man im TV praktisch nie zu Gesicht bekommt. Stattdessen saß ich exakt auf jener Tribüne, die in der Hauptkamera ständig zu erkennen ist. Zufall? Höchstwahrscheinlich nicht. Die Uefa dürfte ihre Tricks haben, damit die Stadien voller aussehen, als sie eigentlich sind.

Aus rechtlicher Sicht muss ich jedoch anmerken: Das sind alles nur Mutmaßungen meinerseits. Vielleicht mag die Uefa mich auch einfach.

Belgien: Wie viel Tedesco steckt in diesem Team?

Drei deutsche Trainer stehen bei dieser Europameisterschaft an der Seitenlinie. Die Teams von DFB-Coach Julian Nagelsmann und ÖFB-Chef Ralf Rangnick habe ich bereits analysiert. Es fehlt noch der dritte Trainer im Bunde: Domenico Tedesco.

Bundesliga-Fans kennen Tedesco als vorsichtigen Zauderer. Schalke führte er mit einem defensiven 5-3-2 erst zum Vizemeister-Titel und danach fast zum Abstieg. In dieser Zeit hatte ich das Glück, ihn interviewen zu dürfen. In Leipzig wurde er bereits nach einem Jahr entlassen; dort hatten sie schnell genug vom defensiven Ansatz ihres Trainers.

Tedescos Fußball in Schalke und Leipzig unterschied sich in den Details deutlich voneinander: Schalke überließ dem Gegner den Ball, Leipzig versuchte, aus tiefem Ballbesitz den Gegner zu locken. Bei beiden Trainerstationen gab es jedoch eine Konstante: Tedesco schicke so wenig Leute wie nötig nach vorne. Die meisten Spieler hatten defensiv zu denken. Das führte dazu, dass Spiele mit Tedesco-Beteiligung stets wenig Chancen zu bieten hatten – auf beiden Seiten.

Einerseits bleibt Tedesco seiner Linie auch mit Belgien treu. Schon in den Spielen vor der EM verzichteten die Belgier im Zweifel auf Ballbesitz. Die Struktur im Spiel gegen den Ball ist durch eine hohe Raumorientierung und Kompaktheit geprägt. Ja, die Belgier rücken im Pressing heraus, allerdings hauptsächlich, um den Gegner zu leiten. In tieferen Phasen verteidigen sie eher passiv.

Andererseits tun die Belgier etwas, das man so von Tedesco-Teams eher selten gesehen hat: Sie greifen mit zahlreichen Spielern an. Gegen Rumänien entstand nach dem 1:0 eine interessante Dynamik: Belgien verteidigte etwas tiefer – und konterte. Und zwar nicht zaghaft, sondern stets mit vier oder fünf Mann. Gerade Kevin de Bruyne sprintete ständig nach vorne, suchte die Tiefe, verschärfte das Tempo.

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So entstand nach der Pause ein fast schon fieberhaftes Spiel. Es wogte von Strafraum zu Strafraum. 34 Schüsse durften die Zuschauer bestaunen. Nur die Partien zwischen Kroatien und Albanien (2:2, 37 Schüsse) und Türkei gegen Georgien (3:1, 35 Schüsse) boten mehr Abschlüsse. Das ist durchaus beachtenswert für einen Trainer, der eigentlich dafür bekannt ist, das Risiko und damit die Chancen auf beiden Seiten zu minimieren.

Wie viel hängt am Trainer, wie viel an den Spielern, wie viel an den Gegnern? Belgiens Nationalmannschaft konterte schon vor Tedesco gern, mit ihren vielen schnellen Spielern suchen sie das Tempo. Das kann auch Tedesco nicht bremsen. Die Spielverläufe der beiden ersten belgischen Spiele sorgten zudem dafür, dass die Belgier mehr riskieren mussten, als sie das vielleicht bei locker-flockigen 2:0-Führungen getan hätten. Gegen die Slowakei liefen sie einem Rückstand hinterher, gegen Rumänien wollten sie ihr Torverhältnis verbessern.

Es bleibt abzuwarten, ob wir den zögerlichen Tedesco noch erleben werden. Die K.O.-Phase haben die Belgier noch nicht gebucht.

Kurze Beobachtungen

  • Man kann zu Cristiano Ronaldo stehen, wie man mag. Fakt ist: Er ist eine der schillerndsten Figuren des Fußballs. Wenn er an einem Spiel beteiligt ist, drehen sich die Schlagzeilen um ihn. So auch nach dem portugiesischen 3:0-Sieg über die Türkei. Was war geschehen? Cristiano Ronaldo hatte sich vor dem dritten Treffer generös gezeigt und den Ball dem freistehenden Bruno Fernandes überlassen. Schon sinnieren die Gazetten darüber, ob wir bei dieser EM einen neuen Ronaldo erleben. Der Superstar dient der Mannschaft! Dafür das 3:0 als Beleg zu nehmen, grenzt schon an geistiger Faulheit. Selbst der egoistischste Spieler der Welt hätte hier den Pass nicht übersehen können, ohne Gefahr zu laufen, von seinen Mitspielern und der ganzen Welt gegrillt zu werden. Aber ich verstehe das: Wenn man eine Schlagzeile mit Ronaldo machen kann, muss man sie mitnehmen.

Das Beitragsbild stammt von mir und wurde im Rahmen meines Stadionbesuchs des Spiels Georgien gegen Tschechien geschossen.

2 thoughts on “EM-Tagebuch, Tag 10: Gratis-Upgrade dank KI?

  1. denke die UEFA ist „dein“ Ticket für den Prime/Kat1 Preis einfach nicht losgeworden für das Spiel, und hat es deshalb zu einer niedrigeren verkauft, der Platz bleibt aber der selbe

  2. Ich war ebenfalls beim Georgien-Spiel in Hamburg. Für uns gab es noch zwei Tickets der Kategorie 2, also ebenfalls aus dem blauben Bereich. Die Plätze selbst waren dann aber die absolute Mitte der Gegentribüne, also „tiefrot“. So etwas kam dann doch sehr überraschend, aber wir hatten die gleiche Vermutung: Das Stadion soll bestimmt voll aussehen, oder es handelt sich um irgendwelche zurückgegebenen Sponsorenkarten. Es war auf jeden Fall ein tolles Spiel.

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