EM-Tagebuch, Tag 3: Relativierung des Relationismus

Am zweiten Tag der Europameisterschaft folgten gleich drei Favoritensiege. Spanien gewann überraschend hoch gegen Kroatien, während Italien gegen Albanien nur in den ersten und den letzten Minuten leicht zittern musste. Der Schweizer 3:1-Erfolg über Ungarn war bei den Buchmachern fest eingepreist. Ich hatte mich jedoch blenden lassen von der ungarischen Taktik.

Ungarn: Fußball ist mehr als Offensivtaktik

Vor der Europameisterschaft habe ich keine Gelegenheit ausgelassen, die ungarische Mannschaft zu loben. Ihre Ergebnisse gaben das her. In der Nations League hatten sie in einer schweren Gruppe mit Deutschland, England und Italien überraschend Rang zwei erreicht. Seit der WM 2022 waren sie ungeschlagen, erst in der Vorbereitung endete diese Serie mit einer 1:2-Niederlage gegen Irland.

Ich schätzte die Ungarn jedoch aus einem anderen Grund: Sie brechen aus dem taktischen Einerlei dieser Europameisterschaft aus. Manche Autoren dichteten ihnen sogar an, Teil einer neuerlichen Revolution der Fußballtaktik zu sein.

„Relationismus“ heißt der Trend, der aktuell aus Südamerika nach Europa herüberschwappt. Es ist eine Art Gegenentwurf zum starren Positionsspiel, das sich in den europäischen Ligen durchgesetzt hat. Im Positionsspiel sollen die Akteure die Räume auf dem Feld gleichmäßig besetzen. Im Relationismus hingegen gesteht ihnen der Trainer mehr Freiheiten zu. Die Spieler dürfen ihre Positionen verlassen, um in der Nähe des Balls Überzahlen herzustellen. Ganz ohne Regeln und Vorgaben kommt auch diese Spielweise nicht aus; die Spieler müssen Dreiecke und Rauten in Ballnähe bilden, sie sollen sich der relativen Position zueinander bewusst sein; daher der Name „Relativismus“. Durch das freiere Spiel ist ein Überladen einzelner Flügel und ein flüssigeres Passspiel möglich.

Relationismus am Beispiel Ungarns. Das Bild stammt aus dem empfehlenswerten Spielverlagerung.com-Artikel „Protagonists Of The Game – Between Absolutism and Relativism“

Wer das Spiel Ungarn gegen die Schweiz verfolgt hat, konnte gerade in der zweiten Halbzeit diese theoretischen Ansätze in der Praxis erkennen. Die beiden Außenstürmer im 3-4-3 – Dominick Szoboszlai und Roland Sallai – bewegten sich frei über den Platz. Häufig wichen sie nach links aus. Die Ungarn schufen hier Überzahlen.

Wie dieses Konzept aufgehen kann, zeigte sich beim Tor zum 1:2: Die Ungarn starteten den Angriff auf rechts und lockten die Schweiz auf diese Seite. Auf links hatten sie jedoch bereits eine Überzahl hergestellt. Diese spielten sie nach einer Verlagerung gewissenhaft aus. Relationismus olé!

Fußball besteht aber nicht nur aus Offensivtaktik. So schön die Innovation der Ungarn in der Theorie war: In der Praxis hat sie ihnen nicht geholfen. Ich hatte bei meiner Vorschau den Bereich „Relationismus“ groß markiert und dabei die vielen Defizite der Mannschaft übersehen. Im Mittelfeld fehlt individuelle Klasse, die Defensive ist nicht mehr auf dem Niveau vergangener Tage, das Pressing funktionierte bereits im Testspiel gegen Irland mehr schlecht als recht. Ich habe mich von der innovativen Taktik blenden lassen und die Basics übersehen.

Schweiz: Den Gegner mit den eigenen Waffen geschlagen

Mindestens so schockierend wie der schwache Auftritt der Ungarn war der taktisch clevere Spielansatz der Schweiz. Trainer Murat Yakin hat mit seinen Schweizern in der Qualifikation geschwächelt. Sie konnten keins ihrer zwei Spiele gegen Rumänien und den Kosovo gewinnen, auch gegen Israel und Belarus spielten sie Remis. Entsprechend niedrig waren die Erwartungen der Schweizer Fans – und auch meine.

Gegen Ungarn überraschte Yakin mit einer neuen Aufstellung. Das 3-4-3-System war in den Testspielen vor dem Turnier erprobt wurden – die personelle Aufstellung jedoch nicht. Im Sturm kam Kwadwo Duah zu seinem erst zweiten Länderspiel. Aus taktischer Sicht spannender war der nicht minder überraschende Einsatz von Michel Aebischer. Er lief als linker Wing-Back auf. Dan Ndoye rückte dafür auf die Rechtsaußen-Position.

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Der Schachzug sollte sich bezahlt machen. Aebischer interpretierte seine Position als linker Wing-Back äußerst frei. Einige Male lief er in klassischer Manier den linken Flügel entlang. Öfter jedoch suchte er den Weg ins Zentrum. Aebischer rückte diagonal ein, während Ruben Vargas auf links die Breite hielt.

Besonders am Einrücken von Aebischer war die Tatsache, dass er das normale Positionsspiel-Schema der Schweizer sprengte. Aebischer ging nicht nur in den halblinken Halbraum, sondern bewegte sich in manchen Situationen in Richtung des rechten Flügels. Die Schweizer taten das, was die Ungarn vergeblich versuchten: Sie schufen auf einer Seite eine Überzahl. „Relationismus“ würde ich das Schweizer Spiel indes nicht nennen: Die Spieler besetzten mustergültig die Positionen. Einzig Aebischer durfte als freies Radikal die Seiten tauschen.

Das 1:0 der Schweiz. Zuvor hat die Schweiz auf der rechten Seite kombiniert, ehe der Rückpass zu Akanji folgte. Die Ungarn reagieren nicht auf die Überzahl der Schweizer auf der (halb-)rechten Seite. Erst als Aebischer den Ball bekommt, rückt die gesamte ungarische Elf panisch Richtung Überzahlseite. Das wiederum verschafft Duah den nötigen Meter Vorsprung.

Der Kniff ging voll auf. Vor dem 1:0 spielte die Schweiz Aebischer frei, er spielte den entscheidenden Pass auf Duah. Das 2:0 erzielte Aebischer direkt selbst – mit freundlicher Unterstützung einer ungarischen Abwehr, die ihn am gegnerischen Strafraum gewähren ließ. Da sind wir wieder beim Klassiker: Die Taktik einer Mannschaft kann noch so ausgefuchst sein. Wenn ich den Gegner am eigenen Strafraum frei schießen lasse, sind alle taktischen Überlegungen nichts wert.

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Kurze Beobachtungen

  • Ich mache mir ein bisschen Sorgen um meinen Europameister-Tipp Spanien. Auf den ersten Blick mutet dies seltsam an: Die Spanier haben doch 3:0 gewonnen! Und das gegen gar nicht so schwach aufspielende Kroaten! Allerdings folgen die spanischen Turniere der vergangenen zwanzig Jahre einem klaren Muster: Auf eine Gala zum Auftakt folgte meist das frühe Aus. 2006, 4:0-Auftaktsieg gegen Ukraine: Viertelfinal-Aus! 2022, 7:0-Auftaktsieg gegen Costa Rica: Achtelfinal-Aus! Bei den besonders guten spanischen Turnieren ging der Auftakt hingegen schief. 2010: 0:1-Niederlage gegen die Schweiz. 2012: 1:1 gegen Italien. 2021: 0:0 gegen Schweden. Da bleibt für mich nur zu hoffen, dass der spanische Stern nicht zu früh verglüht!
  • Die Italiener haben mich beeindruckt. Das frühe 0:1 gegen Albanien konnten sie schnell egalisieren. Ihr Ballbesitzspiel ist nicht weniger ausgefuchst als das deutsche. Imponiert haben mir vor allem die Rochaden auf dem linken Flügel. Federico Dimarco rückte als linker Verteidiger häufig mit nach vorne, ging jedoch manches Mal auch diagonal ins Zentrum. Rochaden zwischen Außenverteidiger und Außenstürmer sind bisher eins der am stärksten genutzten taktischen Mittel dieser EM; sowohl Deutschland als auch die Schweiz, Ungarn, Italien und (in kleinerem Maße) Spanien wandten dieses Mittel an. Mal sehen, ob wir diese Rochaden auch am dritten Tag der EM sehen werden.
  • Manuel Gräfe ist ein Mann auf einer Mission. Nachdem Felix Zwayer zu seinem ersten EM-Einsatz kam, twitterte Ex-Schiri Gräfe: „Dieses Match wird als große Schande in die glorreiche Geschichte der deutschen Schiedsrichterei eingehen.“ Er bezieht sich dabei auf Zwayers Rolle im Skandal um Robert Hoyzer, an dessen Seite Zwayer einige Zeit gepfiffen hatte. Ich halte Gräfes Kreuzzug für schwierig. Resozialisierung ist ein wichtiger Teil unseres Rechtssystems. Zwayer hat damals eine Strafe erhalten und abgesessen. Zwar kann man durchaus die Frage aufwerfen, ob ein solcher Schiedsrichter danach weiter gefördert werden sollte. Gräfes Absolutismus, ein Schiedsrichter mit Jugendsünden habe auf diesem Niveau nichts verloren, halte ich für übertrieben. Es ist dieser Absolutismus, der die Wiedereingliederung von Straftätern in unsere Gesellschaft erschwert. Sepp Herberger selbst hat sich mit seiner Stiftung für die Resozialisierung eingesetzt, der DFB nutzt dessen Stiftung noch heute für diesen Zweck. Gerade Gräfes Verweis auf die Geschichte des deutschen Verbandes ist daher enorm kurzsichtig. (Ob Zwayer leistungstechnisch zu den besten Schiedsrichtern gehört, ist wiederum eine ganz andere Diskussion.)

Das Titelbild zeigt das Schweizer Nationalteam bei der WM 2018 und stammt von Kiril Venediktov, Lizenz: CC BY-SA 3.0.

2 thoughts on “EM-Tagebuch, Tag 3: Relativierung des Relationismus

  1. Lieber Tobias
    Für die Schweizer Nati hättest Du gerne ein aktuelles Bild nehmen können. Drmic, Behrami sind doch längst in Rente. Ansonsten alles sehr spannend! Beste Grüsse aus der Schweiz
    Tobias

    1. Hallo Tobias! Ich verstehe deinen Punkt. Allerdings bin ich bei den Bildern immer etwas beschränkt in der Auswahl. Ich habe nicht das Budget, für Bilder zu zahlen. Daher muss ich lizenzfreie Bilder nehmen, die auch noch im kommerziellen Kontext erlaubt sind. Die Auswahl ist da sehr beschränkt. Es gab schlicht kein neueres Bild der Schweizer Nati. Aber Xhaka ist drauf, das hat mir genügt 😉

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