Eschers EM-Tagebuch, Tag 7: Die Wahrheit erfahren wir ab der KO-Runde

Der erste Spieltag der Europameisterschaft ist gespielt, die erste Woche ist vorüber. Trotzdem ist nicht an der Zeit zurückzublicken, sondern nach vorne. Die Niederländer dürften im weiteren Turnierverlauf Probleme bekommen, da sie zu sehr an einem taktischen Dogma hängen – und das ist nicht das 4-3-3! Die Belgier haben ebenfalls eine Problemzone, die spätestens ab dem Achtelfinale zum Tragen kommen dürfte.

Das wahre niederländische Dogma

Du weißt, dass Fußballtaktik im Mainstream angekommen ist, wenn jemand ein Flugzeug chartert und eine fußballtaktische Botschaft per Schleppbanner verbreitet. So geschehen in den Niederlanden, als Fans Nationaltrainer Frank de Boer von einer Rückkehr zum 4-3-3-System überzeugen wollten. „Frank, das gewohnte 4-3-3!“, schwebte über dem Trainingsgrund der Niederländer. Ich muss gestehen, dass ich eine kleine Freudenträne nicht zurückhalten konnte. Fußballtaktik, du bist ja so groß geworden!

Inhaltlich ist die Nachricht hingegen völliger Unsinn. Die dogmatische Affenliebe, die die Niederländer zum 4-3-3 hegen, entbehrt im Jahr 2021 jedweder Logik. Klar, mit dem 4-3-3 feierten die Niederländer große Erfolg. Das geschah aber vor rund dreißig Jahren, als die Wörter Gegenpressing und Restverteidigung noch nicht erfunden waren. Selbst in den glorreichen Neunziger Jahren setzten die großen niederländischen Vordenker Johan Cruyff und Louis van Gaal auch mal auf ein 3-4-3 oder gar auf ein 3-5-2. Letzterer feierte den letzten großen Erfolg der niederländischen Nationalmannschaft, als er die Niederländer 2014 mit einem defensiven 5-3-2 bis ins Halbfinale der Weltmeisterschaft führte.

Nun ist das 5-3-2 zurückgekehrt – und es funktioniert. Kein Wunder: Den Niederländern gelingt es, viele Spieler auf optimalen Positionen einzubinden. Das geht los beim offensiven Rechtsverteidiger Denzel Dumfries, funktioniert ebenso bei Ballschlepper Frenkie de Jong wie auch bei Pressing-Vollstrecker Georginio Wijnaldum und sogar Wout Weghorst passt (irgendwie) in die Mannschaft.

„Zu defensiv“ sei das System, brüllen die niederländischen 4-3-3-Dogmatiker. Auch das ist eigentlich Quatsch. Eine defensive Ausrichtung kann man den Holländern bei dieser EM wahrlich nicht vorwerfen. Sie lassen typisch-holländisch den Ball laufen, rücken wild nach vorne und sind auch im Umschalten wuchtig wie spielstark. Die niederländische Offensive gehört zu den absoluten Glanzlichtern dieser Europameisterschaft.

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Das wahre Dogma des niederländischen Fußballs ist ein anderes. Die Niederländer agieren nämlich mannorientierter als jedes andere Fußballnation der heutigen Zeit. Das hat sich tief in die Seele der niederländischen Spieler eingebrannt: Es gibt praktisch kein niederländisches Vereinsteam, das sich nicht dem Duell Mann-gegen-Mann verschrieben hat. In der Defensive müssen klare Zuordnungen herrschen, besonders im Mittelfeld.

Die niederländische Nationalmannschaft hört aber mit den Mannorientierungen im Mittelfeld nicht auf. Auch die Innenverteidiger verfolgen ihre Gegenspieler, und zwar nicht nur ein paar Meter, sondern im Zweifel sogar weit in die gegnerische Hälfte. Das ist der wahre Grund, warum man mit dieser Elf fast gar nicht anders kann, als mit einer Fünferkette aufzutreten. Nur so können sie die mannorientierten Bewegungen ihrer Verteidiger halbwegs absichern.

Diese Spielweise sorgt dafür, dass die niederländische Defensivstaffelung unsauber und teilweise extrem chaotisch wirkt. Solange die Spieler ihre Eins-gegen-Eins-Duelle gewinnen, geht es aber auf. Die Österreicher hatten ihnen jedenfalls wenig entgegenzusetzen.

Problematisch dürfte diese Mannorientierung erst werden, wenn die Niederländer auf individuell stärkere Gegner treffen. Die Gruppe wiegt sie in falsche Sicherheit: Keine Nation hat derart leichte Gegner wie die Niederländer. Hier kann das Team mit seiner offensiven Klasse punkten. Ob das auch gegen größere Nationen funktioniert? Ab der K.O.-Runde dürften wir mehr wissen. Im schlimmsten Fall treffen die Niederländer hier auf den Drittplatzierten der deutschen Gruppe F.

Belgiens Mittelfeld-Desaster

Eine ähnliche Fragestellung provoziert die belgische Nationalmannschaft. Ja, die Belgier sind mit zwei Siegen in die Europameisterschaft gestartet. Doch was sind diese Siege wert? Wie sattelfest präsentiert sich die Defensive, wenn sie erst einmal auf einen absoluten Top-Gegner trifft?

Der knappe 2:1-Sieg gegen Dänemark lässt in dieser Hinsicht nichts Gutes vermuten. Die Dänen legten die Schwachstellen des belgischen Spielsystems offen: Dänemark wechselte flexibel zwischen einem hohen 3-4-3-Pressing und einem tiefen 5-4-1. Entweder sie liefen die belgischen Innenverteidiger an – oder sie stellten ihnen die Anspielstationen im Spielaufbau zu. Die Innenverteidiger bleiben individuell die große Schwachstelle des belgischen Teams.

Ich möchte an dieser Stelle indes über die belgische Doppelsechs schreiben. Diese war mit der Aufgabe überfordert, sowohl den Spielaufbau in der eigenen Hälfte zu unterstützen als auch für Stabilität nach Ballverlusten zu sorgen. Man könnte das Thema individualtaktisch angehen und sagen: Youri Tielemans und Leander Dendoncker bilden einfach nicht die ideale Doppelsechs. Ich komme – wie immer – eher über den mannschaftstatischen Aspekt.

Ich bin ja grundsätzlich als Fan des 3-4-3- respektive 5-2-3-Systems bekannt. Optimal ausgeführt verbindet es die Stärken eines hohen Pressings mit einer enorm schwer zu knackenden Maueranordnung in der eigenen Hälfte. Man kann das Zentrum kontrollieren mit der 2-3-Staffelung vorne, ohne wie beim 5-3-2 die Kontergefahr über die Halbräume aufzugeben.

Die Belgier führen dieses System aber nicht optimal aus. Eine hohe Kompaktheit, ein ständiges Nachschieben der Außenspieler, ein waches Auge der Innenverteidiger: All das ist Pflicht, um die theoretische Schwachstelle des 3-4-3/5-2-3 zu kompensieren, nämlich die numerische Unterzahl im Zentrum. Eine Doppelsechs sichert nun einmal weniger Raum ab als eine Dreifachsechs (4-3-3 oder 5-3-2) bzw. eine Anordnung aus Doppelsechs und Zehn (4-2-3-1).

Nun kenne ich das 3-4-3/5-2-3 hauptsächlich aus der Bundesliga. Hier sind die Mannschaften defensivtaktisch so perfekt eingespielt, dass diese Schwachstelle praktisch nie zum Tragen kommt: Bei Frankfurt, Freiburg oder Mainz spielen Akteure auf der Doppelsechs, die lauf- wie kampfstark sind, die zugleich aber stets abgesichert werden von ihren Teamkollegen.

Bei den Belgiern ist das jedoch nicht der Fall. Sowohl im Spielaufbau als auch in der Verteidigung müssen die beiden Sechser einen großen Raum zu zweit sichern. Erschwerend hinzu kommt, dass Belgiens Abwehr im Zweifel eher nach hinten als nach vorne rückt; kein Wunder, sind die alten Recken in der Dreierkette doch keineswegs mehr die Schnellsten. Das vergrößert den Raum, den die belgische Doppelsechs schließen muss. Dänemark gelang es einige Male wirklich sehenswert, diese Räume auszunutzen.

Wie schon bei den Niederländern gilt: In der Gruppenphase werden die defensiven Schwächen noch aufgewogen von der schieren offensiven Klasse. In der K.O.-Runde ist das kaum mehr möglich. Im Gegensatz zu den Niederländern können die Belgier einen Joker ziehen: Ihre Spielweise ist keineswegs in Stein gemeißelt. Die mannorientierte Denkweise werden die niederländischen Spieler nicht aus den Köpfen bekommen. Belgiens Trainer Roberto Martinez kann seine Mannschaft hingegen anders auf- und einstellen. Vielleicht löst sich das Problem von allein: Spieler wie Yannick Carrasco oder Dries Mertens werden ihre defensiven Aufgaben gegen Frankreich oder Italien ernster nehmen als gegen Russland und Dänemark.

Kurze Beobachtungen

  • Gestern habe ich an dieser Stelle bemerkt, ein Titelgewinn Italiens sei bei dieser Europameisterschaft ausgeschlossen. Immerhin habe noch nie eine Nation ein großes Fußballturnier und den Eurovision Song Contest im selben Jahr gewonnen. Einige bemerkten im Nachhinein, dass die Uefa das Turnier offiziell nicht als Euro 2021, sondern als Euro 2020 bezeichne. Ergo: Meine Logik gelte nicht. Das wiederum finde ich unlogisch. Für mich gibt es einen einzigen Grund, warum die Uefa das Turnier konsequent als Euro 2020 vermarktet: Sie wollten das Geld sparen, all die Logos, Bandenwerbungen und Merchandise-Artikel neu zu gestalten. Die Jahreszahlen hinter dem Turnier sollten aber doch eigentlich nur dazu dienen, die Turniere auseinanderzuhalten. Es ist die Fußball-Europameisterschaft, ausgetragen im Jahr 2021. Wenn wir jetzt damit anfängen, Turniere nicht mehr nach ihrem Austragungsjahr zu benennen, bekämen wir flugs chaotische Zustände. Niemand könnte mich davon abhalten, im Sommer 2024 eine Parallel-Europameisterschaft auszurichten: nämlich die Euro 2023. Wobei: Die Idee klingt gar nicht so schlecht…
  • Man gilt dieser Tage ja schnell als Spaßbremse, wenn man auf die einfache Tatsache verweist, dass die Corona-Pandemie noch nicht vorbei ist. Irgendwo hinter dem Horizont lauert die Deltavariante. Diese trifft nun auch die Europameisterschaft: Weil die britische Regierung wegen der Deltavariante Lockerungen verschoben hat und Einreisende weiterhin zur Quarantäne verpflichtet, droht die Uefa mit einem Entzug von Halbfinals wie Finale. Diese Partien sollen eigentlich in London stattfinden. Die Uefa sieht aber nicht ein, dass Sponsoren oder Funktionäre wie normale Menschen behandelt werden sollen. Sie fordert: Keine Quarantäne für die Uefa-Bosse und Coca-Colas Vertreter – sonst findet das Finale in Budapest statt! Die britsche Regierung wird mit großer Wahrscheinlichkeit einknicken, da Boris Johnson auf große Bilder steht. Und was könnte mehr die Richtigkeit seiner Corona-Politik darstellen als Bilder eines Uefa-Finals! Aber: Solange solche Geschichten passieren, sollten sich Christian Seifert und seine Bundesliga-Kollegen vor der Behauptung hüten, der Fußball beanspruche in der Pandemie keine Sonderrolle.
  • Wo wir schon in Großbritannien sind: Heute kommt es zum Duell der britischen Teilnationen England und Schottland. Die älteste Länderspiel-Paarung der Fußballgeschichte ruft normalerweise Extase hervor im Königsreich. Hier leben die alten Rivalitäten so richtig hoch! Dieses Jahr halten sich die Frontseiten der britischen Tageszeitungen überraschend bedeckt. Eine echte Vorfreude ist nicht spürbar. Das mag an der Gruppenkonstellation liegen, nach der selbst eine englische Niederlage gegen den Nachbarn kein Drama wäre. (Manche Fans denken sogar, dass es besser wäre, wenn England das Spiel verliert und als Gruppenzweiter ins Ziel käme. Der Zweite der Gruppe trifft nämlich auf den Zweiten der holländischen Gruppe C, während der Gruppensieger eventuell gegen den Dritten der Deutschland-Gruppe ran muss.) Die fehlende Begeisterung dürfte aber auch handfeste politische Gründe haben. Denn während früher Fußball als Katalysator für die schottisch-englische Rivalität galt, wird der Konflikt um die schottische Unabhängigkeit mittlerweile auf der politischen Bühne ausgefochten. Wer sich für das Thema interessiert: Ich empfehle den Guardian-Text aus den Leseempfehlungen.

Leseempfehlungen

The Guardian: England v Scotland will reflect how both have changed, on and off field

11Freunde: Eine Mannschaft wie die CDU.

The Athletic: Struggling Low under pressure to move away from his ill-fitting 3-4-3 system

Das Titelbild stammt von tomekwalecki auf Pixabay.

6 thoughts on “Eschers EM-Tagebuch, Tag 7: Die Wahrheit erfahren wir ab der KO-Runde

  1. Danke! Die durchgängig wiederholte Behauptung, dass die Niederlande quasi seit den 90ern das 4-3-3 nicht angerührt haben, konnte ich gestern kaum ertragen. 2010 sind sie mit einem 4-2-3-1 Zweiter geworden, 2014 mit einem 5-3-2 Dritter.
    Unschön, dass Journalisten – im öffentlich-rechtlichen TV und zur besten Sendezeit – genau das machen, was man mit journalistischem Output nicht machen sollte – Aussagen als wahr annehmen, ohne sie zu überprüfen, und an andere weiter verbreiten.

    1. Man muss hier dazu sagen, dass die Niederländer auch das 4-2-3-1 dem 4-3-3 zuordnen. In ihrer Rechnung geht es darum, dass drei Mittelfeldspieler im Zentrum spielen und die Außen jeweils doppelt besetzt sind. Ob das Zentrum nun 2-1 oder 1-2 steht und wie tief die Außenstürmer sind, ist ihnen egal. 4-1-2-3, 4-3-2-1, 4-2-3-1 – in den Augen der Niederländer ist das alles 4-3-3.

  2. Kleine Korrektur zum Achtelfinale: Der Sieger der England-Gruppe D spielt gegen den Zweiten der Gruppe F (DE-Gruppe), der Zweite gegen den Zweiten der Gruppe E (Spanien-Gruppe). Von daher ist es nachvollziehbar, dass manche England-Fans ihre Mannschaft lieber als Zweitplatzierten sehen würden…
    Danke für die wie immer gute und ausführliche Analyse!

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