Eschers EM-Tagebuch, Tag 8: Vorbereitung auf Portugal!

Herzlich Willkommen zu meinem EM-Tagebuch! Vor dem zweiten deutschen Gruppenspiel stellt sich die Frage: Wie kann Joachim Löws Elf Portugal schlagen? Diese Frage führt wiederum zu der allgemeinen Frage: Wie bereite ich mich auf solche Partien vor? Außerdem im Tagebuch: Patrik Schicks wahre Klasse und die englische Trantütigkeit gegen Schottland.

Deutschland – Portugal: Eine Vorschau über Vorschauen

Heute gilt es. Deutschland trifft im zweiten Gruppenspiel auf Portugal – und ist zum Punkten verdammt. Ja, auch mit einer Niederlage wäre ein Weiterkommen theoretisch noch möglich. Allerdings müsste man dann auf die Konstellationen in den anderen Gruppen starren. Ich persönlich liebe zwar komplexe Fußballturnier-Arithmetik. Was gibt es schließlich Schöneres als „Mannschaft X kommt weiter, wenn sie mit zwei Toren Unentschieden gewinnt, aber nur, wenn sie selbst mindestens drei Tore schießt und höchstens vier kassiert.“ Ich fürchte aber, ein Land, das schon seine eigenen Corona-Regeln kaum verstanden hat, stürzt in heilloses Chaos, wenn auch noch die Nationalmannschaft mit sechs Gruppen und zig Variablen jonglieren muss. Umso wichtiger für uns alle, dass die deutsche Mannschaft heute mindestens einen Punkt holt und die Chance auf Gruppenrang zwei wahrt.

Was uns zur heutigen Frage führt: Wie gehe ich vor, wenn ich taktische Vorschauen für solche Spiele anfertige, wie ich es beispielsweise für die 11Freunde und für das Redaktionsnetzwerk Deutschland tue? Auf dem Papier unterscheidet sich mein Job nicht von dem eines Spielanalysten. Ich schaue mir die Partien der beteiligten Teams an, analysiere, wie sie in der Vergangenheit gespielt haben, und leite mir her, wie sie gegeneinander spielen könnten. Schritt 1: Was sind die individual- und gruppentaktischen Stärken und Schwächen der Teams? Schritt 2: Wie könnte der Gegner die Stärken kontern und die Schwächen ausnutzen? „Wechselwirkung der Taktiken beider Teams“ hieß das bei Spielverlagerung früher so schön, und genau diese Wechselwirkungen gilt es zu beschreiben.

Nun bin ich aber kein Spielanalyst, der journalistische Texte schreibt, sondern ein Journalist, der Spielanalysen anfertigt. (Shoutout an Stieber Twins: Prioritäten lenken Leben!) Meine Aufgabe ist es nicht, ein Sechs-Seiten-Dossier über alle Details beider Teams anzufertigen in der Hoffnung, dass sich der Cheftrainer erbarmt und das Ding liest. Die Kollegen vom Redaktionsnetzwerk Deutschland würden da auch ganz schön schief schauen, wenn ich Ihnen schriebe: „Räumt mal den Sportteil eurer Zeitungen frei, ich brauche heute sechs Seiten für die Analyse!“

.

Ich interpretiere meine Aufgabe viel eher so, dass ich die Schlaglichter einer Analyse herausfiltere. Die Geschichten, die das Spiel entscheiden könnten oder besonders wertvoll für die Leserschaft sind. Der Auswahlprozess ist daher aus meiner Sicht mindestens ebenso wichtig wie der Analyseprozess. Ich habe 800 Wörter im Text, fünf Minuten im Radio oder zehn Minuten bei Bohndesliga. Wie nutze ich sie?

Beim Spiel Deutschland gegen Frankreich war das simpel. Es war relativ klar, wie die Teams spielen. Beide hatten offensichtliche Lücken in ihrem System; die Deutschen im Zentrum, die Franzosen auf den Flügeln. Dass Mbappe ein Problem für die deutsche Dreierkette darstellt war ebenso vorhersehbar wie die Tatsache, dass sich die Franzosen im Fall einer Führung weit zurückziehen. Deutschland gegen Frankreich war berechenbar.

Bei Deutschland gegen Portugal fällt dieser Filterprozess ungleich schwieriger aus. Das liegt an der Ausgangslage: Deutschland benötigt einen Sieg, Portugal nicht. Das verkompliziert die strategische Frage, denn ob beide Teams gleichermaßen den Ball haben und hoch pressen wollen, ist nicht hausgemacht. Die Portugiesen pressen eigentlich früh. Werden sie das aber auch jetzt tun, da sie drei Punkte gegen Ungarn im Rücken haben?

Auch individual- wie mannschaftstaktisch erscheint mir die Partie viel diffuser als das deutsche Eröffnungsspiel. Bei den Deutschen ist es keineswegs ausgemacht, dass sie erneut im 5-2-3 auflaufen. Ein 4-2-3-1 oder ein 4-3-3 erscheint genauso möglich. Und wer spielt vorne drin? Es gibt deutlich mehr Variablen, deutlich mehr „Wenn, dann…“-Konstruktionen.

Plus: Es gibt nicht dieses eine, offensichtliche taktische Duell wie „Mbappe gegen Deutschlands rechte Seite“. Klar, Cristiano Ronaldo muss man immer auf der Rechnung haben. Er wird genau wie Mbappe die halbrechte Seite der Deutschen beschäftigen. Aber daneben gibt es noch viele weitere Sollbruchstellen. Portugal etwa schwächelt auf den Außenbahnen individuell in der Defensive. Können Gosens und Kimmich das nutzen? Oder würde ein zu hohes Aufrücken bedeuten, dass Diego Jota und Bernardo Silva die Lücken hinter ihnen finden? Wie weit rücken diese im Angriffsverlauf ein? Und wie verhält sich Portugal im Zentrum? Abwartend oder herausrückend?

Es ist keineswegs hausgemacht, wie diese Partie verläuft. Vieles wird sich erst anhand der Aufstellungen beider Trainer abmessen lassen. Eine Abwehrschlacht der Portugiesen erscheint genauso möglich wie ein Schlagabtausch beider Teams. Ich bin auf alle Fälle gespannt.

Patrik Schick: Besser eingebunden als im Klub

Superstars in mittelgroßen Nationalmannschaften sind ein Lieblingsthema von mir. Seit knapp zehn Jahren veröffentlichen meine Kollegen von Spielverlagerung und ich unsere Vorschauhefte. In dieser Zeit habe ich zu viele Starspieler gesehen, die in ihren Nationalmannschaften fast schon omnipräsent sein wollten, mindestens aber wesentlich präsenter als in ihren Klubteams, wo sie meist in klar definierten taktischen Rollen geglänzt haben. Doch nur wenige Spieler haben die Klasse, ein ansonsten durchschnittliches Team im Alleingang zu tragen.

Meistens geht es aber eher schief: Der Star kommt in seiner präsenteren Rolle nicht so zur Geltung wie in der definierteren Rolle im Klub. Gerade eher biederen Teams fehlt es dazu schlicht an Klasse: Die Mitspieler sind den offensivtaktischen Ansprüchen ihres Stars nicht gewachsen, sei es was Kombinationen, Läufe in den freien Raum oder schlicht Passgenauigkeit angeht.

Ich nenne es das Zlatan-Paradox. Es ist nämlich genau jener Grund, aus dem Schweden seine besten Turniere ohne und nicht etwa mit Ibrahimovic gespielt hat. Er neigte in der Nationalmannschaft dazu, sich in zu viele Situation einzuschalten und zugleich seine Defensivarbeit zu vernachlässigen. Ohne den Superstar kann Schweden hingegen einen klareren strategischen Fokus verfolgen, nämlich das konsequente Schließen der Räume im 4-4-2 inklusive Kontern über die Flügel.

Nicht für möglich gehalten hätte ich, dass die Ausnahme von der Zlatan-Regel bei dieser Europameisterschaft nicht etwa Robert Lewandowski oder Hakan Calhanoglu heißt – sondern Patrik Schick. Viel schockierender ist noch die Tatsache, dass Schick in der tschechien Nationalmannschaft aktuell besser eingesetzt wird als in seinem Heimatklub Bayer Leverkusen.

Schick mag zwar von der Statur wirken wie ein Strafraum- oder Wandstürmer. Immerhin misst er 1,87 Meter. Seine Statur ist jedoch eher schmächtig, sodass er sich im direkten Duell mit breitschultrigen Innenverteidigern gar nicht so wohl fühlt. Er ist dafür ein richtig guter Kombinationsspieler: Er schirmt den Ball ab, kann dribbeln und hat das Auge für den freien Mitspieler. Schick will ins Spiel einbezogen werden – und zwar nicht mit dem Rücken, sondern dem Gesicht zum Tor.

Genau das tun die Tschechen: In ihrer Mischung aus 4-2-3-1 und 4-3-3 agieren die Spieler hinter ihm eng an ihm dran. Tschechien versucht, über flache, schnelle Spielzüge in den Strafraum zu gelangen. Schick bindet sich in die Staffetten mit ein. Er erhält sogar deutlich mehr Zuspiele als in Leverkusen. Statistisch gesehen spielt er bei der Euro mehr Pässe, wagt mehr Dribblings, schießt öfters auf Tor als in der vergangenen Saison bei Bayer Leverkusen. Hier war er in Peter Boszs 4-3-3 oder 3-4-3 oft als einziger Stürmer auf sich allein gestellt.

Bei den Tschechen ist er nicht so stark, obwohl er sich mehr und freier bewegt als im Klub – sondern gerade deswegen. Vielleicht schaut Bayers neuer Trainer Gerardo Seoane genau hin, in welchem taktischen Umfeld Schick aktuell aufblüht.

Kurze Beobachtungen

  • Eine Ausnahme der oben formulierten Regel bildete Luka Modric bei der Weltmeisterschaft 2018. Seine Teamkollegen waren technisch hoch veranlagt, und doch hatte das kroatische Team derart nennenswerte Schwächen (Restverteidigung, Spiel über die Außen), dass sie eigentlich nicht als Favorit nach Russland reisten. Modric trug das Team aber auf seinen Schultern bis ins Finale. Der Unterschied zwischen 2018 und 2021? Modric befindet sich nicht in Galaform. Hinzu kommt, dass die Schwächen aus 2018 in 2021 noch einmal schwerer wiegen. Die Innenverteidiger sind noch langsamer, als sie dies 2018 schon waren. Modric muss sich krass steigern, möchte er sein Team ins Finale tragen. Oder Brozovic, Kovacic oder Kramaric. Von denen war bisher aber wenig zu sehen.
  • Mein Fußballkonsum verläuft bekanntlich eher monothematisch: Ich schaue extrem viel Bundesliga und sonst extrem wenig. Aus diesem Grund halte ich mich normalerweise mit Einschätzungen zur Aufstellung ausländischer Nationen zurück. So sind mir etwa die Stärken von Phil Foden, Raheem Sterling und Harry Kane durchaus bekannt; ich wage aber nicht zu analysieren, ob sie einen Startplatz weniger verdient hätten als Dortmunds Jadon Sancho. Eins weiß ich aber: Das Spiel gegen Schottland am gestrigen Abend wäre ein echtes Sancho-Spiel gewesen. Ein dicht gestaffelter Gegner, der Pässe nur auf den Flügel zulässt? Wo man sich von dort irgendwie ins Zentrum durchwurschteln muss? Sancho-Territorium! Ohne ihn hätte der BVB diese Saison noch deutlich mehr solcher Partien verloren, als sie es ohnehin schon taten. Umso merkwürdiger, dass Gareth Southgate ihn beim 0:0 gegen Schottland nicht wenigstens eingewechselt hat. Ob die Party-Nacht aus dem vergangenen Oktober nachwirkt? Wer weiß.
  • Jeden Tag versuche ich, zwei bis drei Leseempfehlungen zu liefern. Bislang greife ich dafür hauptsächlich auf Artikel in englischer Sprache zurück. Das spiegelt meinen eigenen Fußballmedien-Konsum, der sich in den englischen Sprachraum verlagert hat. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die EM-Berichterstattung der meisten deutschen Qualitätsmedien hinter einer Bezahlschranke verschwunden ist. Aber nicht nur. Folgender Artikel gibt ganz gut wieder, was mich stört: Thiago Alcantara gab fünf Reportern ein Interview. Der Guardian überschreibt dieses Interview mit dem Thiago-Zitat: „We see less magic, less fantasy. Footballers do more but faster.“ Die SZ hingegen wählt die Zeile: „Ich hasse den modernen Fußball.“ Ein Satz, den Thiago eher am Rande gesagt hat, der aber wohl Klick-trächtiger sein dürfte. Wobei – ist er das wirklich? Zumindest mich fasziniert die Guardian-Zeile wesentlich mehr als der schnöde Versuch, Gegner des modernen Fußballs anszusprechen. So hat es mal wieder der Guardian, nicht die SZ in die Leseempfehlungen geschafft. (Danke an FCBlogin für den Hinweis!)

Leseempfehlungen

Guardian: Thiago Alcântara: ‘We see less magic, less fantasy. Footballers do more but faster’

Spiegel: Warum Löw Veränderungen so scheut.

Das Titelbild, das Rui Patricio und Cristiano Ronaldo zeigt, stammt von Anna Nessi, Lizenz: CC BY-SA 3.0.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Enter Captcha Here : *

Reload Image