Herzlich Willkommen zu meinem EM-Tagebuch! In unregelmäßigen Abständen möchte ich an dieser Stelle meine Gedanken zur Fußball-Europameisterschaft 2021 teilen. Das kann alles sein, von Einschätzungen zum Thema des Tages über taktische Analysen bis hin zu semiwitzigen popkulturellen Anspielungen. Heute stehen zwei Bundesliga-Profis im Vordergrund: Noch-Bayer und Bald-Madrilene David Alaba sowie mein persönlicher Favorit, Wout Weghorst.
Alaba und die 40 Rollen
Starspieler und Nationalmannschaften, das ist ein ganz eigenes Thema. In ihren (Top-)Klubs mögen sie einer von vielen guten Spielern sein. Ihre taktische Rolle ist fest definiert, und in exakt diesen taktischen Rollen sind sie zum Spitzenfußballer gereift. Nun kehren sie aber in die Heimat zurück. In der Nationalelf überregagen sie ihre Teamkollegen mit ihrer individuellen Klasse und ihrer Ausstrahlung eines Weltstars. Das führt häufig dazu, dass sie unbedingt zeigen wollen, dass sie alles für ihr Team tun können. Sie wollen den Ton angeben, das Spiel gestalten, den Ball verteilten und am Besten auch noch selbst die Tore schießen. Man könnte es auch das Zlatan-Syndrom nennen.
Mit dieser Einleitung wären wir beim Thema David Alaba. Eigentlich war der Superstar immer zu gut, um ihn in der ÖFB-Elf nur auf peripheren Positionen einzusetzen. Den besten Spieler als Linksverteidiger einsetzen? Blasphemie! Alaba selbst befeuerte diese Debatte, indem er offen erklärte, er gehöre ins Mittelfeld. Leider hatte er diese Meinung meist recht exklusiv, zumindest aber konnte er sie selten mit Leistungen untermauern. Seine Leistungen im Nationaldress waren häufig unterwältigend. Dass Österreich keinen perfekten Platz für den eigentlich besten Spieler fand, war einer der Gründe für das frühe EM-Aus 2016 und die Nicht-Qualifikation für die WM 2018.
Nun also ein neuer Anlauf und eine neue Suche für die ideale Position von Alaba. Österreichs Vorteil: Längst überragt Alaba seine Teamkollegen nicht mehr. Marcel Sabitzer und Xaver Schlager bieten im Mittelfeld internationale Klasse, sodass Alaba problemlos in der Abwehr aufgestellt werden kann.
Trotzdem überraschte Trainer Franco Fodas Einbau des Ex-Bayern-Stars. Ja, Alaba spielte gegen Nordmazedonien in der Abwehr. Allerdings nicht halblinks oder ganz links wie im Klub, sondern als zentraler Innenverteidiger einer Dreierkette. Vom Prestige her logisch: Der beste Spieler kommt als Abwehrchef zentral zum Einsatz. Er gibt die Kommandos, er spielt den ersten Pass im Aufbau, er sichert für seine Kollegen ab.
Das Problem: Wieder einmal blieben viele Stärken Alabas auf der Strecke. Alaba hat einen natürlichen Drang nach vorne, sowohl in der Wahl seiner Pässe als auch in seinen Läufen. Gegen Nordmazedonien verteilte er den Ball nur nach links oder rechts. Anders war es gegen den engen Zwei-Mann der Nordmazedonier nicht möglich. Aufrücken konnte er im Zentrum auch nicht. Dazu zockten die gegnerischen Stürmer zu sehr auf eigene Konter. Alaba wurde reduziert zur Querpass-Maschine. Die Österreicher brauchten indes eine Dreierkette und die zurückfallenden Sabitzer und Schlager, um den gegnerischen Zweiersturm überhaupt zu überspielen. Es kam, wie es kommen musste: Über weite Strecken stockte die österreichische Offensive. Zwischen der 23. und der 63. Minute gab Österreich keinen einzigen Schuss ab.
Fast schon folgerichtig funktionierte Österreichs Angriff besser, nachdem Alaba nach etwas über einer Stunde auf die linke Innenverteidiger-Position wechselte. Nun spielte er mehr progressive Pässe, rückte selbst mit vor – und leitete prompt das 2:1 ein. Man nennt es auch ein fußballtaktisches Happy End.
Obwohl Alaba gegen Nordmazedonien eindeutig als linker Halbverteidiger besser aufgehoben war, lassen sich Argumente für seine Rolle im Zentrum finden. Sein Ersatzmann Martin Hinteregger neigt dazu, die Rolle im Zentrum eher frei zu interpretieren. Er verfügt nicht über das Auge eines Alabas. Das könnte gegen die niederländischen und ukrainischen Stürmer aber wichtig werden. (Not-so-Fun-Fact: Im Hinspiel gegen Wolfsburg spielte Frankfurts Hinteregger zentral in der Innenverteidigung. Wolfsburgs Holländer Weghorst erzielte beide Tore beim 2:1-Sieg.)
Alaba im Zentrum dürfte die stabilere Variante sein. Stabilität war gegen Nordmazedonien aber weniger gefragt und aus meiner Sicht auch etwas überpräsent im System von Trainer Foda. Ich bin gespannt, ob Alaba auch in diesem Turnier wild von Position zu Position geschoben wird oder ob er jetzt im Zentrum bleiben kann / darf / muss.
Wout Weghorst und die (sub-)optimale Einbindung
Wer Bohndesliga schaut oder mir auf Twitter folgt, kennt meine Liebe für Wout Weghorst. Ich habe einfach eine Schwäche für hart arbeitende Pressingstürmer. Dass er beim 3:2-Sieg seiner Niederländer gegen die Ukraine traf, freut mich doppelt: einmal als Fanboy des Spielers, einmal als klassischer „Ich hab’s euch doch seit Jahren gesagt!“-Moment.
Aber noch ist mein Lieblingsholländer nicht ideal eingebunden in das holländische Spielsystem. Das beste Beispiel ist Weghorsts klassischer Laufweg, eigentlich eine Goldgrube für jeden Mitspieler: Praktisch immer, wenn ein Kollege im Zentrum den Ball hat, startet Weghorst diagonal aus dem Zentrum in Richtung Flügel. Die Idee: Entweder entwischt Weghorst so seinem Bewacher, wird anspielbar und erzielt selbst das Tor. Oder aber er lenkt die Aufmerksamkeit der gegnerischen Innenverteidiger auf sich. Die achten nicht mehr auf den Ballführenden, es öffnet sich ein Schusskorridor im Zentrum und Weghorsts Mitspieler kann per Fernschuss einnetzen. Nicht zufällig haben Weghorsts Wolfsburger zwölf Tore außerhalb des Strafraums erzielt. Das ist der zweithöchste Wert der Bundesliga, prozentual an allen eigenen Toren gemessen sogar der höchste Wert (20%).
Und was machen die Holländer nun? Nie, praktisch nie nutzen sie diesen Laufweg von Weghorst! Gerade Memphis Depay macht mich in dieser Hinsicht wahnsinnig. Sobald Weghorst startet, müsste er eigentlich das Tempo aufnehmen und sofort die Anschlussaktion suchen. Macht er aber nicht. Stattdessen dribbelt er weiter langsam Richtung Abwehrkette, bis diese sich sortiert hat und keine der beiden genannten Optionen mehr offensteht. Dabei hat er doch eigentlich sowohl das Auge als auch den Schuss, um Weghorsts Laufweg auszunutzen!
Aber auch im Pressing ruft Holland noch nicht Weghorsts Stärken ab. Das liegt ein wenig am neuen 5-3-2-System. Allgemein scheint es, als seien hier die Abläufe noch nicht ganz geklärt. (Also abseits davon, dass man holländisch-typisch so mannorientiert wie möglich agiert.) Weghorst weiß nicht immer, wann er in die Spitze zum hohen Pressing starten soll und wann nicht. In Wolfsburg macht er das eigentlich immer, sobald der Gegner einen Rück- oder laschen Querpass spielt. Gegen die Ukraine hatte er nur den siebthöchsten Laufwert aller Holländer vorzuweisen. Zu wenig für ein Laufwunder wie Weghorst.
Da wären wir wieder bei der klassischen Frage: Wie binde ich meine Top-Spieler in ihrer bestmöglichen Position ein? Anders als bei Alaba wäre es bei Weghorst hingegen abwegig, das System um den Stürmer herumzubasteln. Er hat ja mit seinem Tor bewiesen, dass er auch im 5-3-2- trifft.
Kurze Beobachtungen
- Ich bin in dieser Casa etwas befangen, da ich ihn schon kennenlernen durfte, aber: Wie gut ist bitte Thomas Broich als Co-Kommentator? Ruhig und besonnen kommentiert er das Geschehen. Er drängt sich dem Chefkommentator nicht auf, sondern schaltet sich nur dann ein, wenn es wirklich was zu sagen gibt. Und seine Analysen treffen stets absolut den Punkt. Großartig.
- Es ist immer schön, die Handschrift eines Trainers zu erkennen. Selbst wenn dieser Trainer gar nicht bei dieser Europameisterschaft coacht. Die Rede ist vom englischen 1:0 gegen Kroatien. Selbst wenn Kalvin Phillips vor dem englischen Treffer verfremdet worden wäre, hätte man erkannt, dass er aktuell unter Marcelo Bielsa spielt. Solche gut getimten Läufe eines Sechsers vertikal nach vorne sieht man im modernen Fußball sonst eher selten.
- Kategorie des Tages: Unnötige Ausraster beim Torjubel, die ordentlich Meme-Potential besitzen, die Medien aber in den kommenden Tagen noch beschäftigen wird: Marko Arnautovic und seinen Gruß an die Mutter des Gegenspielers. Da freust du dich als Mitspieler sicherlich tierisch.
Leseempfehlungen
Guardian: Goran Pandev: leader of a nation, not just the North Macedonia team
Das Titelbild, das David Alaba während der WM-Qualifikation 2018 gegen Wales zeigt, stammt von Steindy, Lizenz: CC-BY-SA 3.0.
Meine kurze Beobachtung – sicher (noch) nicht fundiert und für diesen Blog auch etwas platt, aber eben eine Beobachtung.
Ich habe bisher nur ausgewählte Spiele dieses Turniers gesehen, möchte aber die bisherige Rolle der Schiedsrichter und deren „Interesse am flüssigen Spielverlauf“ loben. Nun bin ich jemand der den Berufszweig der Unparteiischen generell eher selten kritisiert und dafür lieber einmal zu oft in Schutz nimmt.
Jedoch sind mir bei den Partien NL vs. UKR und SCO vs. CZ explizit mehrere Szenen aufgefallen, in denen ein rustikal geführter Zweikampf nicht automatisch mit einem Pfiff für Foulspiel gewertet wurde. Die Unparteiischen etablieren zeitig im Spiel (und vielleicht auch im Turnier) eine „großzügige Linie“, was ich als ziemlich angenehm empfinde. Noch besser ist jedoch, dass diese Linie bisher auch sehr gut durch die Spieler angenommen wird. Weniger lamentieren, weniger rumwälzen. Mehr aufstehen und weitermachen. Was sagts du bzw. ihr? Zufall, echter Trend oder doch eine falsche Beobachtung?
Rein informativ und ohne jegliche Wertung: Beide zuvor genannten Partien wurden von deutschen Schiedsrichtern geleitet.