Eschers EM-Tagebuch, Tag 19: Kein Risiko ist das größte Risiko

Am Tag nach dem deutschen Ausscheiden stellt sich zwangsläufig eine Frage: Wie viel Schuld trägt Trainer Joachim Löw an der 0:2-Niederlage gegen England? Hätte er seine Mannschaft offensiver auf- und einstellen müssen? Ich erläutere das Pro und Contra der deutschen Strategie und stelle klar fest: Ich fand Löws Spielidee nicht gut. In den Beobachtungen gibt es eine schockierende Statistik und Schelte für das letzte Field-Interview der Ära Löw.

Argumente pro Risikovermeidung: Das englische Stabilitätsmonster

Die Partie Deutschland gegen England lässt sich mit einem Wort beschreiben: Risikominimierung. Praktisch nie befanden sich mehr als fünf angreifende Spieler in der gegnerischen Hälfte. Bei Kontern rückten die Teams behutsam nach, bei Ballverlusten kehrten sie sofort hinter die Kugel zurück. Riskante Dribblings? Versuche, sich gegen Pressing-Ansätze des Gegners mit Flachpässen zu befreien? Offensive Wechsel in der zweiten Halbzeit? Alles Fehlanzeige.

Dass die Engländer dieses Spiel so angingen, überraschte nicht. Bereits gestern hatte ich analysiert, dass Southgate Stabilität über alles stellt. Dass jedoch auch die deutsche Elf dem Credo verfällt, kein Risiko einzugehen: Das sorgt nach der deutschen 0:2-Niederlage für heftige Diskussionen. War es richtig, dass Löw eine so risikoarme und defensive Taktik ausrief?

Ich möchte ihn zunächst in Schutz nehmen: Es gab durchaus Argumente, warum Löw so spielen ließ, wie er spielen ließ. Diese Argumente lassen sich vor allem im bisherigen Turnierverlauf finden. Die deutsche Mannschaft hatte in der Vorrunde fünf Gegentore kassiert. Sobald der Gegner mit Tempo auf die Dreierkette zulief, gab es fast immer Alarm. Das deutsche Mittelfeld verhinderte nicht konsequent genug, dass solche Szenen passieren.

Was läge da näher, als gegen England einen zusätzlichen Mittelfeldspieler einzubauen? Kai Havertz agierte nicht wie zuletzt als dritter Stürmer, sondern als dritter Sechser. Deutschland lief gegen England in einem 5-3-2 und nicht in dem bisher praktizierten 5-2-3 auflief. In einzelnen Situationen mag Havertz sich nach vorne zu Thomas Müller und Timo Werner orientiert haben. Meistens verdichtete er aber das zentrale Mittelfeld. Stabilität lautete das oberste Gebot.

Die neue Formation half der deutschen Defensive. Sie schadete jedoch auch der Offensive. Logisch: Ein Stürmer weniger bedeutet auch ein Mann weniger für ein hohes Pressing, ein Mann weniger für schnelle Konter und ein Mann weniger im gegnerischen Strafraum bei Flanken. Man kann Havertz gar nicht hoch genug dafür loben, dass er trotzdem offensiv Präsenz zeigte. Aber auch er macht aus einem 5-3-2 kein offensives Spielsystem. Beim 5-3-2 geht es immer um Schadensbegrenzung.

Aber wäre eine offensivere Formation gegen England überhaupt gutgegangen? Man traf nicht auf die defensiv verwundbaren Portugiesen oder die sich einmauernden Ungarn. Sondern auf eine englische Mannschaft, die in der Hinrunde kein einziges Gegentor kassiert hat. Jordan Pickford musste bis zum Deutschland-Spiel gerade einmal vier Schüsse halten, von denen drei außerhalb des Strafraums abgegeben wurden. War es gegen solch eine Defensive nicht die richtige Wahl, auf eine offensive Aufstellung zu verzichten?

Ein Blick auf die offensive Dreierreihe der Engländer dürfte diese Entscheidung erleichtert haben: Harry Kane, Raheem Sterling und Bukayo Saka sind keine Angreifer, die man in Temposituationen verteidigen möchte. Am liebsten möchte man sie vom Spielaufbau der Engländer abtrennen, wie dies schon den Schotten und den Tschechen gelungen war. Wäre Deutschland offensiver aufgetreten, wären sie schnell in englische Konter gerannt – und damit womöglich in das eigene Verderben.

Was ebenfalls für Löw spricht: Deutschlands Matchplan ging über weite Strecken des Spiels auf. Gerade einmal fünf Schüsse gaben die Engländer in dieser Partie ab. Zwischen der 25. und der 75. Minute blieben die Engländer gänzlich ohne Schuss. Das spricht für eine starke Defensivleistung der deutschen Elf.

Es lässt sich sogar das Argument finden, dass es eine unglückliche deutsche Niederlage war. Timo Werner und Thomas Müller hatten große Chancen. Wäre das Spiel 2:1 für Deutschland oder 1:1 nach Verlängerung ausgegangen – wir würden anders über Löws Taktik sprechen.

Argumente contra Risikovermeidung: Wette gegen die Vernunft

Der vorherige Abschnitt ist voller rhetorischer Fragen. Jeder Boulevard-Journalist lernt, dass Leserinnen und Leser auf rhetorische Fragen intuitiv mit „nein“ antworten. Und so war auch bereits im ersten Segment zu spüren, dass ich auf analytischer Ebene die Argumente für die deutsche Strategie zwar verstehe. Im Herzen teile ich jedoch die Gegenposition: Deutschland hätte nicht so defensiv auftreten dürfen.

Ich möchte eins meiner Lieblingszitate von José Mourinho bemühen: „Für mich ist Schönheit, dem Gegner nicht zu geben, was er will.“ Nun lässt sich debattieren, ob Schönheit das treffende Wort ist; für einen Defensivpapst wie Mourinho sicher. Der Punkt ist aber: Strategisch sollte es im Fußball stets darum gehen, ein Spiel entstehen zu lassen, dass der eigenen Mannschaft entgegenkommt – und mit dem der Gegner nichts anfangen kann. Wenn mein Gegner am liebsten viel Ballbesitz sammelt, sollte man ihm nicht durchgehend den Ball überlassen.

England setzt in diesem Turnier auf Stabilität. Das ist ihr Spiel: Jeden Angriff absichern, nicht viele Chancen zulassen, möglichst wenig Chaos erlauben. Ordnung ist ihr oberstes Prinzip. Gareth Southgate hat eine klassische (fast schon stereotyp-deutsche) Turniermannschaft gebastelt. Wenn nun also ein Spiel entsteht, das frei von Risiko und Chaos ist, wer profitiert davon: Die deutsche Mannschaft, die im gesamten Turnier nicht gefestigt wirkt? Oder die englische Elf, die seit Spieltag eins genau diese Spielidee verfolgt?

.

Im Kern lautet der Vorwurf an Löw: Indem er kein Risiko eingegangen ist, ging er ein großes Risiko ein. Wenn das eigene Team nur wenige Torchancen kreiert, muss es diese Torchancen konsequenter nutzen als der Gegner. Wenn die deutsche Nationalmannschaft eine Konstante kennt seit 2014, ist es die Tatsache, dass sie Torchancen nicht besser nutzt als der Gegner. Im Gegenteil: Die deutsche Mannschaft verfolgt der Ruf, Chancen zu vergeben. Viele Chancen. Darauf zu bauen, dass sich das ausgerechnet gegen England ändert, war eine Wette, die zum Scheitern verurteilt war.

Zumal der deutsche Kader eine offensive Spielidee geradezu herausfordert. Der Kern des DFB-Teams hat bei Bayern unter Hansi Flick einen Hauruck-Fußball zelebriert, der in seiner Vorwärtsgerichtetheit seinesgleichen sucht. Eigentlich hätte Löw die Bayern-Mannschaft nur mit dynamischen Spielern wie Havertz, Gosens oder Werner auffüllen müssen.

Löw mag recht haben, dass ein hohes Pressing in der Nationalelf wesentlich schwerer zu implementieren sei als auf Klubebene. Es gar nicht erst zu versuchen, war aber im Nachhinein betrachtet der falsche Weg. Anstatt wenigstens zu versuchen, die Fans zu begeistern und den Gegner zu verunsichern, wollte Löw den ganz großen Erfolg erzwingen. Wenn uns diese EM aber eins lehrt, dann die Tatsache, dass die Formel „Stabilität plus Einzelspieler = Turniersieg“ nicht mehr aufgeht. Schon gar nicht, wenn sich der Gegner als ein Kollektiv präsentiert.

Fast schon grotesk waren Löws Versuche, die Wahl der Strategie nach dem Spiel zu rechtfertigen. Er verwies auf die fehlende Erfahrung seiner Mannschaft. In Deutschlands Startelf standen acht Spieler, die bereits die Champions League gewonnen haben. Aufgefüllt wurde die Elf mit drei Akteuren, die entweder sehr viel (Hummels) oder wenigstens etwas (Ginter, Gosens) internationale Erfahrung vorweisen. Englands Doppelsechs hingegen kommt – Moment, ich muss kurz den Taschenrechner herausholen… Zwei im Sinn… Drei ins Quadrat… richtig: auf exakt null Spiele in internationalen Wettbewerben.

Löws Auftritt nach dem Spiel erinnerte mich frappierend an Niko Kovacs Versuch, die Taktik seiner Bayern gegen Liverpool zu rechtfertigen. Ein Kleinwagen könne keine 200 km/h schnell fahren, erklärte er damals auf die Frage, warum er so defensiv habe spielen lassen. Wenige Monate später übernahm Hansi Flick und bewies: Der Bayern-Kader ist kein Kleinwagen, sondern ein Formel-1-Auto. Irgendetwas sagt mir, dass sich diese Geschichte bei der Nationalmannschaft wiederholen wird.

Kurze Beobachtungen

  • Ich möchte euch an dieser Stelle mit Einschätzungen zu Joachim Löws Erbe verschonen. Jeder Sportjournalist wirft nun sein großes Löw-Porträt ins Internet. An dieser Stelle nur so viel: Allen, die jetzt voller Inbrunst behaupten, „Löws Erbe“ sei durch das 0:2 gegen England zerstört, möchte ich eine Frage stellen. Wie gingen die letzten Pflichtspiele von Sepp Herberger und Helmut Schön aus? Eben. Den Weltmeister-Titel kann Löw niemand mehr nehmen. Und das Aus bei der WM 2018 blamierte Deutschland wesentlich mehr als die knappe Niederlage gegen ein aufstrebendes englisches Team.
  • Die wahnwitzigste Statistik dieser Europameisterschaft: Keiner Mannschaft gelangen weniger Dribblings pro Spiel als der deutschen Elf. Deutschland liegt in dieser Statistik hinter Wales, Finnland und sogar weit abgeschlagen hinter Nordmazedonien. Gerade gegen England hätte es Eins-gegen-Eins-Situationen gebraucht, um das englische Mann-gegen-Mann-Pressing aufzulösen. Doch die deutsche Elf traute sich nicht. Diese Statistik verwundert umso mehr, als die Mannschaft gute Dribbler in ihren Reihen weiß. Leroy Sane, Serge Gnabry, Jamal Musiala, aber auch Toni Kroos und Joshua Kimmich: Sie alle haben die Fähigkeiten, Gegner zu umkurven. Nur haben sie das bei dieser EM nicht gezeigt.
  • Nach solch einem Ausscheiden ist man schnell dabei, alles zu verteufeln. Es gilt jedoch auch Lob anzubringen für die deutsche Elf: für die defensive Disziplin, für die Ruhe am Ball – und vor allem für Kai Havertz. Wie intelligent er seine Position als Mischung aus Sechser, Zehner und Hilfsstürmer interpretiert hat, war aller Ehren wert. Der Junge hat ein unglaubliches Gespür für Räume. Es war kein Zufall, dass er an praktisch jeder guten Offensivaktion der Deutschen beteiligt war. An ihm wird Deutschland noch viel Freude haben.
  • Im Winter hatte Löw bekanntgegeben, nach der EM aufzuhören. Es war also klar, dass irgendwann im Verlaufe des Turniers das letzte Field-Interview mit Joachim Löw ansteht. Die Öffentlich-Rechtlichen Sender hatten ein knappes halbes Jahr Zeit, sich auf diesen Abschied vorzubereiten. Eine mustergültige Vorlage, die ARD-Moderatorin Jessy Wellmer gekonnt ins Seitenaus schoss. Keine einzige Frage zum Spiel, keine zu Löws Anteil an der Niederlage, nicht einmal die These, dass Löws Abgang zu spät kam. Stattdessen – und ja, diese Frage wurde wirklich so gestellt: „Wie sagt man: Ende gut, alles gut? Oder Ende gut, nicht alles gut?“ Der deutsche Sportjournalistenverband hat 3500 Mitglieder, und jedes einzelne hätte vermutlich ein gehaltvolleres Interview hinbekommen.

Leseempfehlungen

The Athletic: Germany impersonated an early 1990s Division Two side at Wembley as Joachim Low’s luck ran out

Spox: Kommentar zum EM-Aus des DFB-Teams: Joachim Löw hat seine Überzeugungen verraten

The Athletic: Shevchenko mixes caution and style to help Ukraine make history

Das Titelbild, das Joachim Löw zeigt, stammt von Olaf Kosinsky, Lizenz: CC BY-SA 3.0.

15 thoughts on “Eschers EM-Tagebuch, Tag 19: Kein Risiko ist das größte Risiko

  1. moin tobi,

    stimme deiner analyse weitesgehend zu. möchte hier aber noch einen punkt hinzufügen:

    der mentale auftritt der manschaft!

    und die fand ich richtig schlecht. ich habe nach dem 0:1 kein `jetzt erst recht` gesehen… keiner auf dem platz der voran geht. hier stand doch kein team auf dem platz!

    das löw es seit jahren nicht schafft das potential der jungs aufen platz zu kriegen muss man ihm ankreiden… und das interview dann war inhaltlich einfach mehr als peinlich!

    insofern danke an löw für die schönen jahre am anfang, aber die letzten 5 waren verschenkt!

    lg

    1. Wenn Löw die Mannschaft so angesprochen hat wie er heute in der Abschluss-PK aufgetreten ist, dann wundert es nicht, dass hier kein Feuer und kein Aufbäumen zu sehen waren.

  2. Wie immer wunderbarer Lesestoff. Differenziert, Kritik, Lob – wunderbar.

    Und ich bestätige: Die Berichterstattung drumherum war teils fürchterlich. So viele Allgemeinplätze überall, es hätten auch Berichte von 2000 sein können. „Wollten es mehr“ usw. Es fehlte nur noch, dass jemand einen Leitwolf forderte…

  3. Interessante Analyse. Ohne dass mein fußballerisches Verständnis sich auf dem Niveau bewegen würde, bin ich d’accord. Letztlich war von 4 Spielen nur eines überzeugend. Das ist deutlich zu wenig und die Kritik muss sich Löw auch gefallen lassen. Abgesehen davon, dass die weitgehend irrelevanten Qualifikation/Länderspiele/Nations League seit langem keinen guten Trend erkennen lässt. Zumal das Spielermaterial deutlich mehr PS zugelassen hätte.

    Dass Hummels und Müller ausgebootet waren und jetzt unangefochtene Stammspieler, spricht auch nicht für die erste Entscheidung. Es ist müßig, aber warum es die 3er/5er-Kette sein muss, die quasi nie funktioniert hat und an die die meisten Spieler nicht gewöhnt sind, verstehe, wer wolle.

  4. Ich habe es schon an der ein oder anderen Stelle gelesen und jetzt auch hier. Mit dem Fokus auf wenige Chancen ist man ein größeres Risiko eingegangen. Ein offensiveres Spiel wäre besser, weil man damit mehr Tore schießen (aber auch bekommen) kann. Dabei möchte ich aber einwerfen, dass es auch sehr auf den Spielmodus ankommt. In der Liga sind die Ansätze von City, Bayern Barcelona und co. sicher erfolgversprechender. Durch den Spielmodus kann man eine Niederlage leichter ausgleichen und auf lange Sicht profitiert man von dem Mehr an Chancen.
    Aber wir sind hier in der KO Runde eines Turniers. Jeder Fehler kann zum Aus führen. Die EXPG waren ausgeglichen gestern. Die Chancen standen also 50/50 um es plakativ zu sagen. Ist eine solche Herangehensweise nicht erfolgversprechender als eine wilde Partie mit vielen Chancen. Deutschland ist nicht mehr die Spitze des Weltfußballs. Und unsere Abwehr alles andere als Sattelfest. Deshalb behaupte ich die defensive Spielweise von gestern war der Situation durchaus angemessen.

    Was ich Löw vorwerfen würde ist, dass er das zu spät erkannt hat und dann die nötigen Tugenden für ein solches Spiel vernachlässigt hat. Insbesondere die deutschen Standards waren über das gesamte Turnier einfach harmlos. Wenn man ein Spiel mit wenigen Chancen will, dann braucht man bei dort besondere Qualitäten um diese zu nutzen. Und natürlich waren die Engländer auf genau diese Art von Spiel deutlich besser vorbereitet.

    1. Mein Punkt lautet: Wann hat Deutschland zuletzt ein 50:50-Spiel gewonnen? Dass die deutsche Mannschaft viele Chancen für ein Tor braucht, ist jedem Beobachter bekannt. Dann darauf zu setzen, dass man die Chancen in einem 50:50-Spiel verwandelt, ist äußerst riskant.

  5. Sehr gute Punkte zum Deutschlandspiel. Vor alle die Dimension „Chaos vs Ordnung“ finde ich einen interessanten Punkt und auch die Annahme, dass in diesem Turnier England besser mit Ordnung klar kommt als Deutschland ist ne gute These zum geschehen. Das mit den Dribblings ist sehr schwach, denkt ihr, dass das eine konkrete Ansage des Trainerteams ist nicht in Dribblings zu gehen, oder dass das aus der Sicherheitsstrategie folgt?

    Als Abschluss Interview wäre Niko Backspin schicken sollen, würde mich interessieren ob Löw denkt, dass der Mannschaft Realness fehlt oder welcher Spieler heut zu tage noch Versace trägt.

    Macht statt EM Studio bitte heute einfach eine Copa America Sonderausgabe, die Zuschauer wollen die Peru-Paraguay Taktik Vorschau!

  6. Du ziehst den Vergleich zu Herberger und Schön und merkst an, dass dessen Nachruhm durch deren letzten Turniere nicht spürbar beeinträchtigt sei. Das stimmt sicherlich. Es gibt allerdings auch einen klaren Unterschied der beiden zu Löw:

    Sowohl Herberger als auch Schön sind nach ihrem jeweils erstem Turnier, die als Enttäuschung und sportlicher Misserfolg empfunden wurden, zurückgetreten.

    Joachim Löw hingegen hat diesen Schritt nach der WM 2018 verweigert. Er war sicherlich viele Jahre lang ein gut geeigneter Bundestrainer. Nach der WM 2018 wurde Löw aber eben auch zu dem Mann, der trotz offenkundig besser geeigneter Kandidaten aufgrund der persönlichen Loyalität von Entscheidungsträgern wie Oliver Bierhoff und der DFB-Spitze und der eigenen Sturheit im Amt geblieben ist. Damit hat er letztlich nicht mehr der Sache und dem Deutschen Fußball gedient, sondern am ehesten noch sich selbst.

    Das trübt seine Reputation im Nachhinein doch gewaltig, ebenso im übrigen die Bierhoffs.

    1. Auch wenn ich deinem grundsätzlichen Punkt zustimme, dass Löw eigentlich schon 2018 hätte zurücktreten sollen, muss ich doch ein wenig Klugscheißen. Die Fälle Schön und Herberger sind nämlich nicht so einfach, wie du sie darstellst. Schön gab 1978 bereits vor dem Turnier seinen Rücktritt bekannt, war also in derselben Situation wie Löw 2021. Das Turnier wurde – gerade aufgrund der Schmach von Cordoba – als Desaster gewertet. Heute überwiegt im Gedenken an die Person Schön der 1974er-Titel. Herberger wiederum wollte nach dem Viertelfinal-Aus bei der WM 1962 partout nicht zurücktreten, trotz großer Kritik aus Fußballdeutschland. Erst 1963 trat er zurück, und das auch eher aus Sturheit denn aus der Einsicht, dass seine Zeit vorbei war. Gerade diese Rücktrittsposse haben viele Zeitgenossen Herberger übel genommen; der Ruhm von Bern hatte damals schon zu blättern begonnen. Sechzig Jahre später kann sich kaum mehr jemand an diese Episode erinnern. So mag es vielleicht auch bei Löw kommen.

    2. Man muss vielleicht auch mal auf die Situation beim DFB gucken. Seit 5-6 Jahren knarscht und knackt es da gewaltig. Ein verschobenes Sommermärchen hier, ein Steuerskandal dort und die verkorkste Reform der Regionalligen. Man ist sehr mit sich selbst beschäftigt. Bei der DFB Spitze war man wahrscheinlich froh nicht noch eine neue Baustelle aufmachen zu müssen. Deshalb hat man so lange an Löw festgehalten.

      Und eine wirklich gute Alternative gab es ja auch nicht. Am Stammtisch kommen dann immer Namen wie Klopp oder Tuchel. Keine Ahnung wie man glauben kann, dass die aus ihren guten Verträgen bei Liverpool und PSG weg wollten um Löws Erbe anzutreten. Erst jetzt mit Flick hatte man eine naheliegende Lösung.

  7. Jeden Tag eine Freude das Tagebuch! Danke für die ausgewogene Analyse.

    Stimme grob überein mit den Vorwürfen betreffend Matchplan. Man hat England gegeben, was es haben wollte bzw. hat nicht genügend getan, um das Spiel von den Mannorientierungen zu befreien. Das war schlecht. Ich weiss aber nicht, ob man das als total risikoavers einstufen muss oder gar als Spielweise entgegen dem (offensiven) Naturell, wie z.B. im Spox-Kommentar steht.
    Ich kann mir gut vorstellen, dass man sich auch mit dieser Herangehensweise ein etwas offeneres Spiel und v.a. mehr Dominanz erwartet hatte. Vermutlich glaubte man, auch so öfter in die entscheidenden Räume vor und hinter der englischen Abwehr zu kommen. Vielleicht war eine nicht ganz so strikte Manndeckung erwartet worden bzw. war man zuversichtlich mit Havertz (und Müller) die Räume auch so zu öffnen.

    Höchstens kontrolliertes Risiko finde ich aber schon eine angemessene Strategie für dieses Team. Kann mir wirklich nicht vorstellen, wie Hauruck-Fussball hätte zum Erfolg führen sollen. Tut es im Gegensatz zu ballbesitzorientierter Spielkontrolle und sehr guter Restverteidigung eh selten an Turnieren. Und hätte nicht gepasst zu diesem Team mit seiner zuletzt eben sehr schlechten Restverteidigung, dafür sehr guten Zirkulation und Raumbesetzung.

    Man hätte Dinge strategisch oder v.a. taktisch sicher besser machen können, aber ich weiss nicht, wie viele Prozente da noch drin gelegen wären. Ich bin dagegen überrascht, wie häufig das spielerische/offensive Potenzial dieses Teams erwähnt bzw. wie selten die individuelle Qualität in Frage gestellt wird. Deutschland hat doch im Vergleich mit England (und anderen Teams) nicht den besseren Kader. Kane, Sterling, Grealish oder Sancho sind sicher krassere Unterschiedsspieler als die deutschen Offensivleute. Aussenläufer haben sie auch bessere und viel mehr Auswahl verschiedener Spielertypen, die selbst noch viel variabler einsetzbar sind. Etwa im Vergleich mit Shaw wirkt Gosens doch recht eindimensional.
    Finde da gerade die fehlenden Dribblings sehr symptomatisch. Das kommt nicht von ungefähr bzw. hat kaum mit der Strategie zu tun. Sané und Musiala sind sicher sehr gute Dribbler, aber die waren (wohl zurecht) nicht auf dem Platz. Ansonsten ist das halt eine echt stark unterdurchschnittliche Qualität im deutschen Fussball. Wüsste nicht, welche Deutsche in der ohnehin dribblingarmen (reine Vermutung) Bundesliga die Rolle des Dribblers innehaben.

    1. Zufällig PL Fan oder wie kommt man zu dem Schluss das England mehr Offensiv-Qualität hätte?!wenn in der Deutschen Startelf allein 8 CL Sieger der letzten 2 Jahre stehen und bei England ganze ööhm 0! wie im Artikel ja auch angerissen.
      Wir sehen doch dass der FCBayern wie auch im Artikel angerissen unglaublichen Offensiv Fussball spielt, davon 5 von 6 Offensivspielern Deutsche. Das ganze Bayern Mittelfeld welches mit überragendem Fussball die vorletzte CL geholt hat, hat also nicht genug Qualität?
      Kane ist die einzige Offensivposition auf der England wirklich einen Vorteil hat.
      Shaw nennst du ernsthaft als Beispiel ggüber Gosens? Wenn dann sehe ich da bei Gosens noch Potential nach oben. Shaw ist ein international brauchbarer Spieler, nicht mehr, nicht weniger. Eigentlich hätte da Chilwell spielen müssen.
      Sterling hat weniger Tore als Gündogan gemacht letzte Saison. Grealish hat international sich noch gar nicht beweisen dürfen.
      Wie kommt man da dazu mehr Qualität zu sehen als bei einem Team das quasi nur aus CL Siegern bestand.
      Das heisst nicht das England nicht ein ziemlich spannendes Team mit wahnsinnigen Potential ist.
      Aber international nachgewiesen Topqualität stand da in grossen Teil mehr bei Deutschland auf dem Platz.

      1. Joa, etwa gleich viel Premier-League-Fussball gesehen wie Bundesliga im letzten Jahr, mehr Einzelspiele der PL, viele von Aston Villa.

        Grealish hat dem Spiel fast immer seinen Stempel aufgedrückt, wobei Aston Villa auch total auf seine Stärken ausgerichtet war. Ich sage nicht, dass er der beste, kompletteste Spieler ist, aber ein viel krasserer Unterschiedsspieler als die deutschen Offensiven. Ein Individualist, wie ich ihn in der Bundesliga noch nie gesehen hätte. Dort würde er vielleicht auch nicht so gut funktionieren, weil er gegen den Ball mittelmässig ist bzw. sich nicht in alle Systeme gut einbinden lässt. Entsprechend tut sich auch Southgate eher schwer. Aber wenn ich in der 65. Minute dem Spiel eine etwas andere Dynamik verleihen möchte und zwischen Gnabry und Grealish aussuchen kann, ist für mich die Wahl klar. Oft bei Endrunden, vielleicht noch mehr dieses Jahr wegen Müdigkeit, macht 1-gegen-1 bzw. Stars in der Offensive auch wirklich den Unterschied. England hat noch mehrere davon. Kane hat so viele Spiele entschieden diese Saison, Saka war oft bester Mann auf dem Platz bei Arsenal, Foden, Mount, etc. Sterling hatte keine gute Saison, aber scheint jetzt Topform zu haben. Man kann auch in die Bundesliga schauen. Wer sind die Unterschiedsspieler bei Dortmund, Leipzig, Frankfurt, Wolfsburg, etc.?

        In der CL wird völlig anderer Fussball gespielt. Viel mehr Pressing, viel höheres Tempo, weniger Zeit am Ball. Entsprechend wertvoller sind andere Qualitäten (Ballsicherheit, Pressing, etc.), die viele Deutsche eher mitbringen als Engländer. Lässt sich aber nicht so leicht übertragen an eine Endrunde. Der Bayern-Fussball von vor einem Jahr schon gar nicht.

        Bayern war definitiv geil unter Flick, wobei ihnen die Terminierung des CL-Endrundenturniers auch perfekt in ihr Timing gepasst hat. Waren ausgeruht und auf dem Peak. Erstens aber eben anderer Fussball und zweitens muss man mal sehen, wer dort wo auf dem Platz war. Kimmich z.B. hinten rechts (!), Thiago war überragend – ohne ihn war Bayern nie mehr gleich geil. Lewandowski ist eh klar, einer von Coman und Perisic war auch oft entscheidend (Sané noch gar nicht im Kader). Davies war krass, Alaba der wichtigste Mann in der Restverteidigung. Gnabry, Müller, Goretzka und Kimmich waren auch mega, aber erstens nur zu viert und zweitens eben eher als funktionale Verbindungsspieler statt Unterschiedsspieler. Wie bitte soll Löw diesen Fussball erfolgreich in die Nationalelf übertragen?

        Deutschland hat die viel besseren Zentrumsspieler, mehr Qualität im ruhigen Ballbesitzspiel und Löw deshalb meiner Meinung nach grob auf die richtige Strategie gesetzt. Es war nicht planlos oder nur Prinzip Hoffnung. Vieles hat schon Sinn gemacht und war nicht schlecht, wenn auch nicht mega gut. Ich finde Löw wird aber unter falschen Erwartungen bewertet, eben falsche Einschätzung des Potenzials bzw. falschem Verständnis von Endrundenfussball. Letztlich hat er eine 50/50-Partie auswärts im Wembley gegen das am krassesten vorbereitete und individuell am besten besetzte Team ermöglicht. Man muss das nicht feiern, aber ich sehe immer noch die Alternative, wie man mit diesem Team gegen diesen Gegner wahnsinnig viel mehr hätte herausholen können.

  8. Hallo Tobias, wie immer Topanalysen, lese ich sehr gerne!
    Ich hatte über weite Strecken des Turniers den Eindruck, dass das deutsche Aufbauspiel aussah, wie eine nicht geplante Situation. Kroos‘ instinktiv abgespultes Abkippmuster in die Dreierkette fand ich da exemplarisch. Kein Ball ins verwaiste Zentrum mehr möglich, ab und an höchstens ungelenk aufgelockert durch Ginters Rausschieben (und seine unzähligen Flanken) oder Kimmichs Einrücken. Das wirkte auf mich, als hätte Löw gar nicht damit gerechnet, dass es Ballbesitzphasen gegen tief stehende Gegner geben könnte. Was ich erschreckend naiv fände.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Enter Captcha Here : *

Reload Image