WM-Tagebuch, Tag 2: Was für ein Desaster!

Stell dir vor, dein Land bewirbt sich auf eine Weltmeisterschaft. Dank Schmeichelei und manch dubioser Geschäfte erhält es überraschend den Zuschlag. Die WM-Vergabe erfolgt recht früh, sodass ihr nun zwölf Jahre Zeit habt, das größte Sportereignis der Welt vorzubereiten. Die Fifa schenkt dir sogar noch ein paar zusätzliche Monate, indem sie das Turnier aus dem europäischen Sommer in die Wintermonate verlegt. Du hast die Möglichkeit, dich auf alle Aspekte vorzubereiten: die Atmosphäre, die Eröffnungsfeierlichkeiten, das Sportliche.

Und am Ende kommt dabei so ein Clusterfuck heraus.

Der erste Tag der Fußball-Weltmeisterschaft war ein Desaster. Um das festzustellen, muss man nicht einmal ein Gegner der Vergabe an Katar sein. Man kann sogar „die Politik aus dem Spiel lassen“, so wie es Giovanni Infantino dieser Tage fleißig fordert (nur um dann doch über Politik zu sprechen). Man muss sich nur auf das Geschehen beschränken.

Die Bilanz nach Tag eins: Es begann mit einer wenig inspirierenden Öffnungsfeier, bei der BTS-Star Jung Kook das bisschen Glamour versprühte, das sich bei den berechnenden Lippenbekenntnissen zu Vielfältigkeit und bei Morgan Freemans schlechter Synchronisation nicht einstellen wollte. Es folgte ein Fußballspiel, bei dem der Gastgeber gegen allenfalls mittelmäßige Ecuadorianer hoffnungslos unterlegen war. Über neunzig Minuten kam Katar auf insgesamt zwei Ballkontakte im gegnerischen Strafraum. Da ist es sogar verständlich, dass das heimische Publikum sein Team nicht allzu euphorisch anfeuerte. Dass sich das Stadion aber bereits nach dreißig Minuten leerte und dass sich zu Abpfiff weniger Leute auf der Tribüne befanden als bei einem durchschnittlichen Regionalliga-Spiel – das dürfte einmalig sein in der Geschichte der Fußball-Weltmeisterschaft.

Dieser Tag hat noch einmal unterstrichen, wie absurd die Vergabe an Katar war – schon bevor beim Bau der Stadien sich Arbeitsmigranten zu Tode schuften mussten. Ein Land, das über keine nennenswerte Fußball-Tradition verfügt, das im internationalen Vergleich allenfalls zweitklassige Leistungen zeigt, darf nun das größte Sportereignis der Welt ausrichten. Na, Prost Mahlzeit. Das wird ein Fußballfest.

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Nach diesen doch etwas wütenden Eingangsworten wollen wir nun aber wieder etwas Sachlichkeit walten lassen. Auch dieser Clusterfuck bot genug Ansatzpunkte für eine Analyse.

Talent ist die Grundvoraussetzung

Beginnen wir mit dem Sportlichen. Wobei es zum Sportlichen nicht allzu viel zu sagen gibt. Ecuador genügte es, im U des Todes den Ball laufen zu lassen. Ab und an schlug Hincapie einen langen Ball in die Spitze oder es gab simple Doppelpässe auf dem Flügel zu bestaunen. Katar wirkte trotz 5-3-2-Formation wenig kompakt. Nach der frühen 2:0-Führung zogen sich die Gäste aus Südamerika zurück. Katar war mit dem Ballbesitz völlig überfordert. Sie kamen zu zweieinhalb Chancen nach Flanken, das war es dann aber auch.

Bemerkenswert ist an der Geschichte eigentlich nur, wie hoffnungslos unterlegen die Kataris waren. Das ist insofern bemerkenswert, als dass die Kataris Millionen dafür investiert haben, nicht mehr unterlegen zu sein. Sie bauten die Aspire Academy und verpflichteten einige namhafte Trainer aus dem europäischen Fußball, gerade aus dem spanischen Raum. Vom spanischen Ballbesitz-Fußball war indes nicht viel zu erkennen; sofern man „harmlose Pässe innerhalb der Dreierkette“ nicht als Ballbesitz-Fußball bezeichnet. All die Leihen nach Spanien und die Schaffung eines quasi-katarischen Klubs mit dem AS Eupen sollte eigentlich dafür sorgen, europäisches Know-How nach Katar zu bringen und Talente besser zu entwickeln. Vor dem heimischen Publikum sollte manchen Spielern dann aber nicht einmal simpelste Ballannahmen gelingen.

Ich will mich nicht als Kenner des katarischen Fußballs aufspielen. Ich habe sie in ihren Testspielen innerhalb der europäischen Qualifikationsgruppe A erlebt und fand sie dort wenig inspirierend. Was mich aber wundert ist die Tatsache, dass nach einem halben Jahr intensiver Vorbereitung überhaupt keine klare Philosophie zu erkennen war. Ein eigentlich defensiv ausgerichtetes 5-3-2-System wurde mit flachen Pässen kombiniert, die am Ende aber auch nur dazu dienten, irgendwie auf den Flügel zu gelangen und vor das Tor zu flanken. Wie Katar gegen die Niederlande oder Senegal Tore schießen will? Das weiß ich nicht.

Abschließend fällt mir dazu etwas ein, was mir DFB-Akademieleiter Tobias Haupt im Zusammenhang mit der Recherche zu meinem Buch „Was Teams erfolgreich macht“ erzählt hat. Wenn er mit Kollegen aus Frankreich, England oder auch Belgien spreche, gäben die meist einen Hauptfaktor für ihre starken Jahrgänge an: Glück. Man könne nicht planen, wann ein starker Jahrgang geboren werde. Ein Grund, warum sie das zu Haupt sagen, liegt sicher daran, dass sie sich nicht zu sehr in die Karten schauen lassen wollen. Es steckt aber sicher auch ein wahrer Kern dahinter. Für ein gewisses Level benötigt man schlicht Talent. Ohne das helfen weder die fähigsten Ausbilder noch die teuersten Trainingsmittel. Talente finden sich leichter im bevölkerungsstarken, fußballbegeisterten Europa als im kleinen Katar.

Oder einfacher gesagt: Geld kauft nicht alles. Erst Recht keinen Erfolg im WM-Auftaktspiel.

Beruflich war ein Boykott nie eine Option

Wer den Beitrag gestern gelesen hat, bekam eine Vorstellung davon, warum ich diese Weltmeisterschaft trotz Gewissensbissen verfolge. Ich habe darin meine Gefühle als Privatperson ausgedrückt. Nie im Leben wäre ich jedoch auf die Idee gekommen, in meinem Beruf als Reporter diese WM zu boykottieren, geschweige denn irgendeinem Reporter vorzuwerfen, dass er über diese WM berichtet. Der erste Tag hat noch einmal unterstreichen, wieso speziell die Arbeit von Reportern vor Ort unheimlich wichtig ist.

Wer die Weltmeisterschaft am Fernseher verfolgte, konnte die leeren Sitze im Al Bayt Stadium allenfalls erahnen. Wenn die Kamera mal Zuschauer zeigte, wunderte man sich schon darüber, wie häufig Plätze neben den gezeigten Anhängern frei waren. Doch selbst bei der eigens eingerichteten Taktik-Kamera achtete die Fifa penibel darauf, nicht zu viel von den Zuschauerrängen zu zeigen. In einer Perspektive, die ich so auch noch nie gesehen habe, bekam man eine Hintertor-Kamera, die keinen Rückschluss auf die Fülle des Stadions erahnen ließ.

Wer sich jedoch auf Twitter einloggte, bekam sehr schnell ein Bild davon, wie schnell sich das Stadion leerte. Bereits nach dreißig Minuten sendeten die ersten Journalisten vor Ort Fotos, die dem Bild der Fifa gänzlich zuwiderliefen. Es war deutlich zu erkennen, wie leer es im Rund war. Man muss sich nur kurz eine Welt vorstellen, in der nur handgepickte Journalisten der Fifa vor Ort gewesen wären. Oder in der alle westlichen Journalisten beschlossen hätten, das Turnier zu boykottieren. Diese Bilder hätten das Stadion nie verlassen. Niemand macht sich automatisch mit einer schlechten Sache gemein, nur weil er aus Katar berichtet. Im Gegenteil: Gerade weil es um eine umstrittene Sache ist, müssen freie Berichterstatter vor Ort sein und so gut und frei es geht berichten.

Meine eigene Rolle in dem Ganzen ist natürlich komplexer. Ich bin nicht vor Ort, sondern auf die Bilder angewiesen, die mir die Fifa zur Verfügung stellt. Zugleich gehöre ich aber auch nicht zu den Kollegen, die sich auf das Drumherum dieser Weltmeisterschaft fokussieren. Ich verdiene mein Geld auch bei dieser Weltmeisterschaft damit, taktische Analysen anzufertigen. Dieses Tagebuch hier ist nur ein unbezahltes Freizeitprojekt.

Nun könnte man mir vorwerfen, dass ich in dieser Rolle dazu beitrage, Katar zu legitimieren. Indem ich mich in meinen Analysen auf das Sportliche beschränke, tue ich so, als würde in Katar eine normale Weltmeisterschaft stattfinden wie jeder andere. Fair point.

Ich sehe aber hier meine Rolle – und die Rolle der Medien im Allgemeinen – etwas anders. Wenn Medien etwas boykottieren, geben sie den Konsumenten eine Haltung vor: Über dieses Thema darf man nicht reden. Das kann in ganz engen Grenzen richtig und wichtig sein. Wenn man jedem Thema gleichermaßen Aufmerksamkeit schenkt, landet man schnell beim Phänomen des „false balancing“. Natürlich sind Medien auch Gatekeeper, die relevante von nicht-relevanten Informationen trennen müssen.

Dass die Weltmeisterschaft in einem der populärsten Sportarten der Welt relevant ist, wird aber niemand bestreiten. Dass sich Leute dafür interessieren, ist ebenfalls unbestritten. In einem freien Land sollte jeder Mensch für sich selbst entscheiden, ob und, falls ja, wie er eine Weltmeisterschaft konsumieren möchte. Wenn jemand die Weltmeisterschaft boykottiert, respektiere ich das genauso, wie wenn jemand sich jedes Spiel reinpfeift.

„Die ganze Welt ist eine Bühne, und alle Frauen und Männer sind nur bloße Spieler.“ Ich habe nun einmal die Rolle gewählt, Fußballspiele zu analysieren. Das tue ich. Ich entscheide nicht für die Leute, ob sie das relevant oder obszön finden. Ich liefere Analysen, ich richte nicht. So geht es jedem Berichterstatter dieser Weltmeisterschaft. Aber ich habe keinerlei Illusionen: Es gibt gerade Leute in meiner Branche, die wichtigere Jobs machen als ich.


Kurze Beobachtungen

  • Die Fifa bietet auf ihrer Webseite erweiterte Statistiken zu den Spielen an. Ich werde mich die Tage da mal reinfuchsen müssen, denn unter manchen Werten kann ich mir noch nichts vorstellen. Kurzer Überblick: „Entries into final third“ wird nach linker Flügel, linker Halbraum, Zentrum, rechter Halbraum und rechter Flügel aufgeteilt, was ich sehr aufschlussreich finde. Ich kann mir auch vorstellen, was sich hinter „receptions between midfield and defensive lines“ versteckt. Aber was sind „receptions between defensive lines“? Und wie zur Hölle kommt Katar in einem Spiel fast ohne progressive Pässe auf 159 „attempted line breaks“? Aber es ist auf jeden Fall gut, dass es diese Statistiken gibt. Nur beim Ballbesitz bleibe ich Purist. Dass neben dem Ballbesitz beider Teams nun auch noch ein Wert für „contested“ ausgewiesen wird, lehne ich ab. In einem Sport, in dem niemand den Ball festhält, ist der Ballbesitz immer irgendwie „contested“.
  • Ja, ich weiß, man macht sich dieser Tage verdächtig, wenn man auch nur leiseste Anzeichen eines Fußballfiebers zugibt. Aber der Jubel der Ecuadorianer hat mein Herz etwas erweicht. Wie sie alle gemeinsam einen Kreis bildeten und auf die Knie gingen, das hatte schon fast etwas vom Morgenkreis im Kindergarten. Man spürte die kindliche Freude am Torerfolg. Ja, auch das kann Fußball sein.

Leseempfehlungen

Ballverliebt: Die WM 2022, oder: Bringen wir den Mist hinter uns

DLF: Welche strategischen Ziele das Emirat Katar verfolgt

New York Times: Qatar 2022 – The World Cup that changed everything

Das Titelbild zeigt das Stadion Al Bayt, in dem das Eröffnungsspiel stattfand. Das Bild stammt von Kabhi2011, Lizenz: CC BY-SA 4.0.

3 thoughts on “WM-Tagebuch, Tag 2: Was für ein Desaster!

  1. Vielen Dank für diese Berichterstattung! Ich bin, wie so viele, hin- und hergerissen bzgl. des WM-Konsums. Es geht nur mit moralischen Abstrichen, derer ich mir bewusst bin und sie akzeptieren muss, da ich die deutschen Spiele schauen werde. Aber erschreckend, wie es einem täglich immer schwerer gemacht wird, heute z.B. hinsichtlich der Kapitänsbinden… Als Werder und somit auch Füllkrug-Unterstützer gibt es für mich jedoch auch erfreuliche Aspekte der WM. Ich bin gespannt auf das passende Bohndesliga-Format und Deine Einschätzung, ob Füllkrug auch seine Minuten bekommen wird. 🙂

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