Die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar geht in den dritten Tag – und hat gefühlt schon den dreißigsten Skandal. Der heutige Aufreger: ein Stück Stoff. Sieben europäische Verbände hatten geplant, ihre Kapitäne mit einer eigens kreierten „One Love“-Armbinde auszurüsten. Die Fifa drohte, die jeweiligen Kapitäne sportlich zu sanktionieren. Wie genau, ließ sie offen. Die Drohung allein genügte, um die abtrünnigen Nationen zu bändigen. Die „One Love“-Armbinde ist Geschichte, auch bei der DFB-Elf.
Ich muss gestehen: Ich bin froh über diese Wendung der Dinge. Die Armbinde war reine Symbolpolitik, und wie bereits am ersten Tag angedeutet, bin ich kein allzu großer Anhänger rein symbolischer Gesten. Die europäischen Verbände konnten sich nicht einmal dazu durchringen, einen echten Regenbogen auf die Binde zu pinseln, sondern verstecken sich hinter dem Slogan „One Love“. Minimaler kann ein Bekenntnis gegen Menschenfeindlichkeit nicht sein.
Vor allem freut mich, dass die Fifa dem DFB die Maske herunterreißt. „Es handelt sich aus meiner Sicht um eine Machtdemonstration der FIFA“, sagt DFB-Präsident Bernd Neuendorf. Zu einer Machtdemonstration gehören aber immer zwei – derjenige, der Macht demonstriert, und derjenige, der sich fügt. Diese ganze Posse beweist nur, dass der DFB der Fifa untersteht – und damit ein Teil eines problematischen Systems ist. Die Armbinde war der durchschaubare Versuch der sieben Verbände, Teil des Systems zu bleiben und gleichzeitig so zu tun, als begehre man dagegen auf. Das tut man aber nicht. Ich kann nicht der mitgliederstärkste Verband innerhalb der Fifa sein und gleichzeitig so tun, als hätten dessen Exzesse nur peripher mit mir zu tun. Korruption durchzieht den gesamten Sport. Der DFB ist Teil der Machtstrukturen der Fifa. Auch der DFB profitiert finanziell vom System. Auch der DFB hat sich nicht entschieden gegen die WM in Katar gewehrt. Auch der deutsche Vertreter während der Vergabe der WM 2022, Franz Beckenbauer, wurde bereits vom Fifa-Ethikrat verurteilt.
Dass man beim leisesten Anflug von Gegenwind zurückzieht, hat viel mit Politik zu tun. Die Binde war als Gemeinschaftsaktion von sieben Verbänden geplant. Damit alle Verbände gemeinsam das Gesicht wahren und sich nicht gegenseitig verraten, haben sie auch gemeinsam einen Rückzieher gemacht und ein gemeinsames Statement veröffentlicht. Man will sich keine Feinde machen, vielleicht braucht man irgendwann ihr Wollwollen oder ihre Stimmen. Dafür nehmen die jeweiligen Verbände auch den Shitstorm in Kauf, der unweigerlich folgt. Der DFB wusste, dass in Deutschland die Entrüstung größer sein wird als anderswo. Es hat sich auch kaum ein Verband so aus dem Fenster gelehnt bezüglich eines Stofffetzens.
Keine Frage: Hauptverantwortlicher für diesen neuerlichen Clusterfuck ist die Fifa. Sie biegt ihre eigenen Regularien, um sich mit den Gastgebern aus Katar gutzustellen. Sie entlarvt ihre Statements zu Toleranz und Menschlichkeit als reine Lippenbekenntnisse. Doch wen überrascht das? Vom DFB hätte man mehr erwarten können. Wobei – eigentlich auch nicht. Der DFB ist ein gewichtiger Teil der Fifa – und er ist ein Teil des Systems.
Niederlande: Alles auf Sieg!
Sport gab es übrigens auch noch. Wales und die USA trennten sich 1:1. England schlug Iran mit 6:2. Die iranischen Spieler sorgten vor dem Spiel für Aufsehen, als sie sich weigerten, die Hymne zu singen. Sie solidarisierten sich mit der iranischen Bevölkerung, deren Protest das Mullah-Regime brutal niederschlägt. Symbolpolitik kann wichtig sein – wenn diese Symbole aufrichtig sind und wirklich etwas auf dem Spiel steht. Den Spielern drohen nun Repressionen von ihrem eigenen Staat. Das ist wahrer Mut, weit jenseits einer „One Love“-Binde.
Aber eigentlich wollte ich zum Sport – alles andere als leicht bei dieser WM. Zweiter Versuch: England zeigte sich im ersten Spiel ungewohnt spielfreudig. Jude Bellingham tut der Mannschaft wirklich gut. Er sorgt für die Verbindung zwischen Abwehr und Angriff, die selbst bei der erfolgreichen EM 2021 häufig fehlte. Ich habe in meinem EM-Tagebuch 2021 ausführlich über das Southgates Projekt geschrieben, die englische Fußballkultur zu verändern. Ich werde das sicher auch in den kommenden Wochen tun – nur eben noch nicht heute.
Stattdessen möchte ich den Scheinwerfer auf die Niederlande richten. Veteran Louis van Gaal geht in sein wahrscheinlich letztes Turnier. Er möchte mit den Niederlanden das schaffen, was ihm 2014 nicht gelang: den Weltmeister-Pokal in die Luft recken. Dazu wählt er dieselbe Formation wie bereits vor acht Jahren, als die Niederlande ins Halbfinale vorstießen. Van Gaal stellte sein Team in einer Mischung aus 5-3-2 und 5-2-1-2 auf.
Egal, wie man diese Formation bezeichnen will: Ich selbst bin kein riesiger Fan von ihr. Das liegt nicht daran, dass ich sie per se für schlecht halte. Nur wird sie in der Regel von defensiv auftretenden Teams angewandt. Das hat gute Gründe. Es ist eine enorm kompakte Formation, mit der man das Zentrum gut schließen kann. Drei Innenverteidiger, drei Mittelfeldspieler und zwei Stürmer – da kommt kaum ein Gegner durch. Ein hohes Pressing ist mit nur zwei Stürmern zwar kaum möglich. Dafür kann man den Ballbesitz des Gegners in tote Zonen lenken, solange das Mittelfeld immer schön von einer Seite zur anderen verschiebt.
Offensiv hingegen hat die Formation weniger Vorteile. Die Formation ist auch hier recht defensiv eingestellt. Ein Hauptproblem ist, dass man vorne selten eine sinnvolle Raumaufteilung hinbekommt: Im Zentrum gibt es zwei Stürmer, die gleichzeitig Halbräume besetzen und Tiefe geben müssen. Trotzdem fehlt eine zentrale Präsenz. Auf den Flügeln können die Außenverteidiger vorrücken, sind aber meist isoliert. Außer es rücken die Achter vor. Dann fehlt wiederum ein Anspielpunkt im Halbraum. Die Formation bietet wenig Dreiecke und fast keine Rauten; progressive, vertikale oder diagonale Pässe sind kaum möglich.
Die erfolgreichsten Vertreter dieser Formation sind daher zumeist defensive Teams; man denke an Domenico Tedescos Schalker in ihrem Vizemeister-Jahr. Wer eine Dreierkette spielen will, aber trotzdem offensive Präsenz haben möchte, wählt eine 3-4-3-Variante. Alternativ muss man das 5-3-2 offensiv umformen. Union etwa ließ in der Vergangenheit häufig den zentralen Innenverteidiger vorrücken. So wurde aus ihm ein Sechser, der Sechser wurde zum Zehner und man hatte eine Mittelfeldraute.
Die Niederlande formte ihre Formation kaum um, sieht man von den Vorwärtsläufen von Cody Gakpo ab, der einen (etwas seltsamen) Zehner gab. Entsprechend wenig gelang den Niederländern aus dem eigenen Ballbesitz. Es gab keine Verbindungsspieler, keine Besetzung der Halbräume und keine Präsenz im Zwischenlinienraum. Lange Bälle waren mangels Zielspieler auch nicht möglich. So blieb nur der Weg über die Flügel. Laut Fifa kam die Niederlande 42mal ins letzte Drittel, darunter waren nur elf Vorstöße durch das Zentrum oder die Halbräume. Allein 20mal stießen sie über Denzel Dumfries rechte Seite ins letzte Drittel. Da der gelernte Innenverteidiger Abdou Diallo hier als Aushilfs-Linksverteidiger stark verteidigte, versandeten Dumfries‘ Vorstöße. Am Ende gewann die Niederlande die Partie nicht, weil sie besser waren. Laut Expected-Goals waren sie sogar leicht schlechter. Sie gewannen, weil Frenkie de Jong ein paarmal seinem Bewacher Idrissa Gueye entwischte und weil Senegals Torhüter Édouard Mendy zwei Fehler unterliefen.
Nun stellt sich die Frage: Warum spielt Favorit Niederlande in einer Formation, die so gar nicht recht zu einem Favoriten passen will? Ich denke, van Gaal schielt bereits mit einem Auge auf die K.O.-Runde. Er möchte sein Team im 5-3-2 einspielen, sodass sie gleichstarke Gegner mit Kontern und Mannorientierungen niederringen können. Sie müssen sich mit dieser Formation nur durch die Gruppenphase wurschteln. Der glückliche Sieg gegen Senegal hat den Grundstein gelegt.
Kurze Beobachtungen
- Als deutscher Fußball-Fan ist es auch deshalb leicht, eine Weltmeisterschaft zu boykottieren, weil man sich recht sicher sein kann, dass das eigene Land auch an der nächsten teilnimmt. Für andere Nationen ist schon die Teilnahme ein fußballgeschichtliches Ereignis. So ist es kein Wunder, dass in Wales anders auf das Turnier in Katar geblickt wird als hierzulande. Tausende Fans begleiteten ihr Team zum ersten WM-Auftritt seit 1958. Gareth Bale – ausgerechnet – war der erste walisische WM-Torschütze seit Terry Medwin, der im September seinen neunzigsten Geburtstag feierte. Der Amerikaner Timothy Weah erzielte das erste Tor gegen Wales, seit der damals 17 Jahre alte Pelé die Waliser im Viertelfinale rauskickte.
- Ich wage zu bezweifeln, dass Weah eine ähnliche Karriere hinlegen wird. Bevor er auf den Spuren Peles wandelt, muss er erstmal in die Fußstapfen seines Vaters treten. George Weah gewann 1995 immerhin den Ballon d’Or. Derzeit ist Weah Senior Präsident seines Heimatlands Liberia. Das wiederum macht seinen Sohn zum ersten WM-Torschützen, dessen Vater amtierender Präsident eines Fifa-Mitgliedslandes ist. Das behaupte ich jetzt einfach mal. Ich habe das nicht näher recherchiert. Wo sind die Jungs von Opta, wenn man sie mal braucht?
- Ein großer Teil der Kritik an der Weltmeisterschaft in Katar ist berechtigt. Man muss aber aufpassen, dass man nicht jede kleine Meldung so dreht, dass sie in das eigene Weltbild passt. So regen sich viele in den Sozialen Medien darüber auf, dass die Belgier das Wort „Love“ aus ihrem Trikot entfernen müssen. Die Fifa verlangt dies. Allerdings hat das wenig mit dem Wort „Love“ zu tun, wie der immer gut informierte Chaled Nahar für die Sportschau schreibt. Das Trikot selbst ist eine Sonderedition, die zusammen mit dem Festival „Tomorrowland“ veröffentlicht wurde. Das gilt als kommerzielle Werbung. Dieses Verbot ist durchaus ironisch bei einem Verband, der jede kleinste Ritze der Stadien mit Sponsoren zuklebt. Ich sympathisiere trotzdem damit, denn wo heute „Love“ steht für das Tomorrowland, stünde morgen „We Deliver“ als Anspielung auf McDonald’s. Man muss da auch mal brutal ehrlich sein: Viele der Toleranz-Slogans von Firmen sind auch nur getarnte Werbung, mit der man signalisiert, auf der richtigen Seite zu stehen. Nebenbei hoffen die Firmen, ihren eigenen Namen in die Welt zu tragen. Nur durch dieses belgische Trikot habe ich gelernt, dass es ein Festival namens „Tomorrowland“ gibt. Das ist dann nun einmal Werbung.
- Christian Pulisic spielt gerne Schach. Athletic-Autor John Muller verfolgt sein Online-Schach-Profil und stellte fest: Er spielte selbst wenige Stunden vor der Partie seiner Amerikaner gegen Wales. Er loggte sich erst aus, als er eine Partie gewonnen hatte. Selbstvertrauen aufbauen – so wichtig. Er führte die USA zwar nicht zum Sieg, steuerte aber immerhin einen Assist bei.
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Spiegel: Iran bei der Fußball-WM ist verhasst, selbst bei den eigenen Fans.
Das Titelbild stammt von Jerney Furnam, Lizenz: CC BY 2.0.
Ich empfand die Glorifizierung dieses minimalen Bekenntnisses ebenfalls von Anfang an befremdlich und übertrieben.
Doch gerade jetzt, infolge des Verbots durch die FIFA, wäre das tragen der Binde mehr als Symbolpolitik.