EM-Tagebuch, Tag 1: Der Geist von 2006

Deutschland fiebert einem zweiten Sommermärchen entgegen. Auch in diesem Jahr möchte ich das große Turnier mit einem Tagebuch begleiten. Hier werde ich meine Gedanken, Analysen und Meinungen zum sportlichen wie außersportlichen Geschehen dieser Europameisterschaft hineingießen. Los geht es!

Das Außersportliche: Hört mir auf mit 2006!

Anfang der Zweitausender nahm unsere Schule an einer internationalen Projektwoche teil. Jugendliche aus einem Dutzend Länder trafen sich im niederländischen Hoogezand-Sappemeer unter dem großen Oberthema „Wasser, Flüssigkeit des Lebens“. (Wir haben in der Woche mehr Bier als Wasser getrunken, aber das ist eine andere Geschichte.) Teil dieser Projektwoche war eine internationale Diskussionsrunde. Jugendliche aus den Niederlanden, Ungarn, Frankreich, den USA und sogar Russland debattierten über die Frage, ob es angesichts des steigenden Meeresspiegels nicht die beste Lösung sei, die Niederlande einfach im Atlantik absaufen zu lassen. Ich vertrat bei dieser Debatte Deutschland. Mein einziger Beitrag war ein semilustiger Witz, an den ich mich heute nicht mehr erinnern kann, der aber zumindest ein paar Lacher im Publikum abgestaubt hat.

Als ich von der Bühne trat, traf ich auf eine Lehrerin, die uns begleitete. Die Frau war eine äußerst strenge Pädagogin, die selten Spaß verstand und mich ohnehin seit längerer Zeit auf dem Kieker hatte. Ich hatte mich innerlich bereits auf eine Standpauke eingestellt. Statt einer Predigt gab es jedoch das einzige Lob, das sie mir gegenüber je erübrigt hat. „Die meisten auf der Welt halten uns Deutsche für oberlehrerhaft und stocksteif, da war es gut, dass du eine andere Seite gezeigt hast.“

Auf einer viel größeren und wesentlich bedeutsameren Ebene ist während der WM 2006 dasselbe passiert. Die Welt hat gesehen, dass die Deutschen ja gar nicht so spießig und grummelig und oberlehrerhaft sind, wie sie immer geglaubt hatten. „Die Welt zu Gast bei Freunden“ – dieses Motto wurde vielerorts gelebt und zelebriert. Wir Deutsche haben aus der Weltmeisterschaft eine große Party gemacht. Die WM 2006 war gerade für die Außenwirkung unseres Lands enorm wichtig.

Die Weltmeisterschaft ist nun jedoch auch wieder 18 Jahre her. In Deutschland ist sie längst zu einem mystischen, überlebensgroßen Ereignis geworden. Je nachdem, wen man fragt, war der Sommer 2006 entweder die moralische Wiedergeburt Deutschlands nach Jahren des Trübsal – oder aber der Nährboden, auf dem Rassisten wie die AfD ihren Erfolg gedeihen lassen konnten. Ich finde, beide Deutungsebenen überhöhen den Wert eines Fußballturniers. Der wirtschaftliche Boom der Zehnerjahre sowie der Aufstieg der Neofaschisten sind schließlich kein deutsches Phänomen, sondern haben in vielen Ländern auf der Ebene parallel stattgefunden.

Was wahr ist: Die WM 2006 war eine große Party. Und wie das mit Partys so ist, möchte man diese irgendwann gerne wiederholen. So kann kein Text zur EM 2024 ohne den Verweis auf die WM 2006 beginnen – auch nicht dieser. Viele sehnen sich zurück zu dem Gefühl des Jahres 2006, als vier Wochen lang die Sonne schien und sich die Menschen beim Public Viewing in den Armen lagen.

Diese Hoffnung, das Gestern in das Heute zu retten, hat der Fußball nicht exklusiv. Nostalgie ist ein gesamtgesellschaftliches Gefühl, das derzeit die Oberhand gewinnt. Es wird nicht mehr die Zukunft verhandelt, sondern die Vergangenheit glorifiziert. In den Musik-Shows der Öffentlich-Rechtlichen treten dieselben Künstler auf wie vor dreißig Jahren, im Kino gibt es das x-te Remake eines 80er-Jahre-Klassikers, in der Politik geben die alten Haudegen an, die bereits vor zwanzig Jahren dabei waren.

Die Europameisterschaft 2024 hat keine Chance, ein Erfolg zu werden, wenn sie einzig an der WM 2006 gemessen wird. Die Zeiten sind andere. Social Media steckte 2006 noch in den Kinderschuhen, Smartphones begannen gerade, sich zu verbreiten, und auch die Probleme der Zeit waren anders gelagert. Es ist eben wie mit jener tollen Party: Sie war einmalig und wird sich nie exakt so wiederholen.

Das bedeutet nicht, dass das Turnier ein Misserfolg werden muss. Die kommenden vier Wochen werden zigtausende Videos von feiernden Fans in unsere Social-Media-Timelines spülen. Menschen aus unterschiedlichen Ländern treffen aufeinander. Gerade eine Europameisterschaft kann die Geschichte eines Kontinents erzählen, der in den vergangenen Jahrzehnten stärker zusammengewachsen ist.

Will die EM 2024 in Erinnerung bleiben, muss sie sich freischwimmen von den Erwartungen, ein zweites 2006 zu sein. Dazu gehört aber auch, dass wir Konsumenten ihr die Chance geben müssen, etwas Eigenes zu sein. Gerade Fußballturniere wie diese gehören der Jugend, nicht solchen alten Säcken wie mir, die noch einmal ihren zweiten Frühling erleben wollen. Die jungen Leute werden schon wissen, wie sie dieses Turnier zu einem besonderen Fest machen.

Das Sportliche: Die Vorfreude könnte größer sein

Auch wenn das Turnier der Jugend gehört: Als alter Sack nehme ich mir dennoch die Freiheit, alles Mögliche zu kommentieren, vor allem das sportliche Geschehen. Und da muss ich sagen: So richtig Vorfreude will bei mir noch nicht aufkommen.

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Das hat zwei Gründe. Der erste Grund findet sich im Format. Auf Twitter habe ich einen Beitrag gesehen, der sinngemäß gesagt hat: Jedes Turnierformat, das in seiner Teilnehmerzahl nicht auf einer Potenz von zwei basiert, ist eine Farce. Einfacher ausgedrückt: Bei einem Turnier mit 16, 32, 64 oder meinetwegen auch 128 Teilnehmern lassen sich gute Formate formen. Man bilde Vierergruppen, lasse die beiden ersten weiterkommen und mache danach im K.O.-Format weiter.

Die Uefa hat jedoch entschieden, auch dieses Turnier wieder mit 24 Teilnehmern auszutragen. Was das bedeutet, haben wir bei den letzten beiden Turnieren erlebt: Es werden erst einmal 36 Spiele ausgetragen, nur um am Ende ein Drittel aller Teilnehmer auszusieben. Das tut man am Ende über die sportlich aberwitzige Variante, bei der die Punkte der verschiedenen Gruppendritten verglichen wird. Die Chance, dass in den Gruppenphasen irgendetwas nachhaltig Spektakuläres passiert, liegt bei nahe null. Bei der letzten Europameisterschaft sind ausschließlich Teams ausgeschieden, die in der Weltrangliste schlechter platziert waren als ihre Gruppengegner.

Der zweite Grund liegt im Teilnehmerfeld. Ich habe mich im Vorfeld des Turniers mit den meisten Teams beschäftigt. Gefühlt liegt die Zahl der defensiv auftretenden Außenseiter noch einmal höher als vor drei Jahren. Es wird viele Spiele geben der Marke „Favorit gegen Außenseiter“. Sie werden allesamt nach demselben Muster ablaufen: 60 zu 40 Ballbesitz, fünfmal so viele Pässe gegen lange Bälle auf die Stürmer. Spannend wird es nur, wenn die Favoriten die Blöcke der Gegner nicht knacken können.

Auch bei den Favoriten setzen gefühlt viele Trainer auf Stabilität. Sie wissen: Es ist praktisch unmöglich, in der Gruppenphase auszuscheiden. Deshalb legen Trainer wie Gareth Southgate, Didier Deschamps oder auch Belgiens Domenico Tedesco einen hohen Fokus auf eine stabile Defensive und eine gute Konterabsicherung. Entsprechend erwarte ich nicht, dass England gegen die Slowakei plötzlich einen genialen taktischen Kniff auspackt oder den Gegner mit einer offensiven Glanzleistung 4:0 wegfegt.

Aber ich mag mich irren. Vielleicht erleben wir bereits in der Gruppenphase ein irres Spektakel. Die Auslosung hat es in dem Sinne gut mit uns gemeint. Gleich zwei Gruppen haben eigentlich einen Favoriten zu viel zugeteilt bekommen: In Gruppe B kämpfen Spanien, Italien und Kroatien um den Sieg. In Gruppe D treffen auf die Top-Nationen Frankreich und Niederlande auf den gar nicht mehr so geheimen Außenseiter-Tipp Österreich. Vielleicht schaffen es diese Gruppenkonstellationen, etwas Würze in die ersten zwei Wochen zu bringen.

Das deutsche Fragezeichen

Es ist eine fast schon feine Ironie, dass ausgerechnet Deutschland aus dem Einerlei dieser EM ausbricht. Andere Top-Nationen setzen auf personelle Kontinuität auf der Trainerbank – der DFB hat Julian Nagelsmann erst im vergangenen Herbst berufen. Defensive Stabilität ist bei allen Teams das oberste Gebot – nicht so bei Deutschland, hier stellt die Offensive das große Prunkstück dar.

Noch nie war ich mir so unsicher, wie eine deutsche Mannschaft bei einem Turnier abschneidet. Ein peinliches Gruppenaus erscheint mir genauso möglich wie ein Turniersieg. Auf der Habenseite steht ein Trainer, dem ich viel zutraue, sowie eine Mannschaft, die mit Talent gesegnet ist. Von den Namen her stellt die DFB-Elf sicher einen der interessantesten Kader, mit einer spannenden Mischung aus Erfahrung und vielversprechenden Talenten.

Auf der anderen Seite wirkt das gesamte Gebilde äußerst fragil. Dazu haben nicht nur die Erfahrungen bei den vergangenen drei Turnieren beigetragen. Die Rückholaktion von Toni Kroos wirkt angesichts seiner Leistungen in Madrid richtig. Allerdings konnte Kroos diese Leistungen seit 2016 im Nationaldress nur selten bestätigen. Zudem halte ich das Spielsystem von Nagelsmann für ein internationales Turnier für recht riskant. Es sieht hochstehende Außenverteidiger, viel Ballbesitz und eine hohe Passgenauigkeit vor. Wenn diese Facetten nicht funktionieren, wird es schnell eng – siehe die grausame erste Halbzeit gegen Griechenland. Der Gegenwind, der nach einem schlechten Auftritt gegen Schottland der Elf entgegenwehen würde, wäre kaum auszuhalten.

Insofern bin ich noch gespannter auf das Eröffnungsspiel als normalerweise. Es könnte eine ungeahnte Welle an Euphorie lostreten. Es könnte jedoch auch das zarte Pflänzchen Hoffnung verwelken lassen, das die DFB-Elf mit ihren Auftritten im März hat aufkeimen lassen.

Persönliches zum Schluss

Gestern habe ich auf Twitter eine Umfrage gestartet, welches Format während der EM eher auf Interesse stößt: ein Tagebuch oder Videos auf Social Media. 36% sprachen sich für das Tagebuch aus, 41% für die Social-Media-Clips. Es zeigt sich: Die Gesellschaft ist auch in diesem Punkt zutiefst gespalten.

Ich werde an den ersten EM-Tagen erst einmal versuchen, beide Projekte parallel zu fahren. Für dieses Tagebuchs bedeutet das, es wird nicht jeden Tag ein neuer Eintrag erscheinen. Alteingesessene Leserinnen und Leser werden jetzt mit den Augen rollen: Aber Herr Escher, das haben Sie doch auch schon vor den letzten beiden Turnieren behauptet – und dann kam am Ende doch an jedem Tag ein Eintrag.

Dieses Jahr wird es anders sein. Das hat zwei Gründe. Nummer eins: Ich habe (glücklicherweise) viele Aufträge zu dieser EM erhalten. Für den Bohndesliga-Kanal produzieren wir ein EM-Studio mit mindestens zehn Ausgaben. Zudem bin ich als Kolumnist für die Neue Osnabrücker Zeitung eingespannt und schreibe wie gewohnt für die 11 Freunde. Allein diese Projekte halten mich auf Trab.

Der zweite Grund: Ich gehe in diese EM wie viele Fußballer: vollkommen überspielt. Um die Jahreswende herum habe ich mein neues Buch „Die Weltmeister von Bern“ fertiggestellt. Direkt im Anschluss stand der Aufbau des Bohndesliga-Kanals an, der viele Themen und Problemchen auf meinen Schreibtisch gespült hat. Für mich gilt also dasselbe wie für Florian Wirtz: Es war eine lange Saison, also erwartet bitte keine Wunderdinge von mir. Ich werde mir Mühe geben, so oft und so gut ich kann die EM mit meinen Texten zu begleiten.

Kann ich das Tagebuch unterstützen?

Wer meine Arbeit honorieren möchte, kann das gerne tun. Zunächst einmal würde ich mich freuen, wenn ihr mein neues Buch kauft. „Die Weltmeister von Bern“ erzählt die Lebensgeschichte der – Achtung, Überraschung! – Weltmeister von Bern 1954. Es sind faszinierende wie spannende Biografien. Ich habe mir viel Mühe gemacht, den Protagonisten gerecht zu werden. Das Feedback, das ich bisher auf das Buch erhalten habe, war äußerst positiv. Die Verkaufszahlen – da bin ich einfach mal ehrlich und transparent – sind es leider noch nicht. Insofern würde ich mich ganz besonders freuen, wenn ihr das Buch kauft.

Wer mich darüber hinaus unterstützen möchte: Ich habe auch eine kleine Seite auf Ko-Fi eingerichtet. Getreu dem Motto „Buy me a coffee“ könnt ihr dort Content-Creatorn einen kleinen Beitrag überweisen. Hier soll sich aber bitte niemand unter Druck gesetzt fühlen. Es soll nur als Option dienen, falls jemand sich unbedingt erkenntlich zeigen möchte. Und keine Sorge: Das Tagebuch bleibt auch bei dieser EM werbe- und Paywallfrei, um den Podcaster Max-Jacob Ost zu zitieren.

Eine letzte Sache noch: Leider, leider gibt es den Mailing-Anbieter nicht mehr, über den ich in der Vergangenheit das Tagebuch als Newsletter verschickt habe. Mit ihm ging auch meine Mailing-Liste unter. Ich werde ab dem nächsten Eintrag eine neue Mailingliste erstellen. Da könnt ihr euch dann eintragen und die Tagebuch-Einträge als Newsletter erhalten.

Das Titelbild zeigt ein Public Viewing während der WM 2006 und stammt von Arne Müseler (Website: arne-mueseler.com), Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE.

Das Bild in der Mitte des Artikels zeigt, wie ich diese EM schauen werde. (Foto von Andreas N., Lizenz nach CC BY-SA 2.0)

One thought on “EM-Tagebuch, Tag 1: Der Geist von 2006

  1. Nagelsmanns offensive, optimistische Spielausrichtung ist vielleicht eine interessante Parallele zu 2006: Da hat Klinsmann ja auch eine Art Hurra-Fußball gespielt, der darauf baute, den Gegner zu überrennen. Was dann mit einigem Spielglück gegen Schweden im Achtelfinale (ich glaube die ersten beiden Torschüsse waren drin und nach 20 Minuten flog auch noch ein Schwede vom Platz) und Viertelfinale (Elfmeterschießen) damals für viele überraschenderweise ins Halbfinale führte, wo die Methode Klinsmann dann an ihr Ende kam.
    Könnte diesmal ähnlich laufen, wenn man im Achtelfinale einen „leichten“ Gegner bekommt, dann gegen einen „Großen“ ein bisschen Glück hat. Könnte aber auch so laufen, das man im Achtelfinale gegen einen unbequemen „Großen“ spielt und gleich ausscheidet. Wir werden sehen…

    Und schon mal Danke für Deine Kolumne, immer sehr informativ…

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