Mein Sohn ist sieben Jahre alt. Er interessiert sich – seinem Alter entsprechend – durchaus für Fußball. Ihm bleibt schlichtweg wenig Anderes übrig, wenn sein Vater den halben Tag Fußballspiele schaut. Auf die EM freut er sich sehr. Er möchte die Spieler sehen, die er aus seinem Stickeralbum kennt. Besonders angetan haben es ihm Harry Kane, Rodri und Cristiano Ronaldo. (Wer einen Ronaldo-Sticker zieht, ist der König des Schulhofs.)
Auf die deutschen Spiele hat er sich überhaupt nicht gefreut. „Papa, die verlieren doch immer“, lautete seine trockene Analyse. Man kann es ihm nicht verdenken. Er hat extra länger aufbleiben dürfen im Dezember 2022 beim Spiel gegen Costa Rica, nur um miterleben zu müssen, wie die deutsche Mannschaft sang- und klanglos ausschied.
Insofern war der Triumph gegen Schottland immens wichtig. So wie meinem Sohn geht es vielen jungen Fans. Der letzte große Auftritt der deutschen Mannschaft ist zehn Jahre her. Wer nicht mindestens 15 Jahre alt ist, wird keine Erinnerung haben an den WM-Sieg in Brasilien. Gerade die jungen Leute müssen noch lernen, dass die deutsche Mannschaft schön spielen und gewinnen kann. Das 5:1 gegen Schottland kann für die Stimmung im gesamten Land ein Brustlöser sein.
Die sportliche Analyse: das Haar in der Suppe suchen
Kommen wir damit zum Sportlichen. Zur deutschen Taktik wurde bereits viel gesagt und geschrieben, auch von mir – siehe 11Freunde, siehe Bohndesliga, siehe 90Min. Auch ich stimme in diesen Texten und Videos in die Lobeshymnen ein. Es war ein rundum gelungener Auftakt. Mir sei bitte verziehen, dass ich mich im Folgenden eher auf die Fragezeichen stürze, die das deutsche Spiel hinterlassen hat. Denn nicht jede meiner Befürchtungen vor dem Turnier konnte das Spiel gegen Schottland vollends beseitigen.
Das Grundsystem der Deutschen ist taktisch nicht so schwer zu entschlüsseln. Toni Kroos lässt sich fallen, die Innenverteidiger reagieren darauf, sodass eine Dreierkette entsteht. Robert Andrich bietet sich vor der Abwehr an, Jamal Musiala und Florian Wirtz besetzen die Halbräume davor, Ilkay Gündogan den Zehnerraum. In der idealisierten Form entstehen auf der Taktiktafel somit zwei Rauten. Auf den Flügeln sorgen die Außenverteidiger für Breite. Selbst Taktik-Laien können diese Muster in der Grafik erkennen und auf dem Feld nachverfolgen.

Das deutsche Muster hat gegen Schottland auch deshalb so gut funktioniert, weil der Gegner mitgespielt hat. Schottland hat selten Druck auf Deutschlands Dreier-Aufbau ausgeübt. Wenn der Gegner doch einmal Rüdiger, Tah oder Kroos anlief, öffnete sich sofort der Raum hinter dem gegnerischen Mittelfeld. Schottlands Abwehr rückte notdürftig heraus, um das Loch im Mittelfeld zu schließen. Dadurch entstanden wieder neue Lücken auf dem Flügel oder hinter der Abwehrkette. Die deutsche Mannschaft hatte es leicht, diese Lücken zu bespielen. Entweder flog der Ball auf den Flügel zu Kimmich – oder aber die deutsche Elf fand irgendeinen der offensiven Dreierreihe im Halbraum.
Grundsätzlich hakt die deutsche Formation ziemlich viele Punkte auf der taktischen To-Do-Liste ab. Dreieck- und Rautenbildung im Aufbau? Check! Gute Passwinkel zwischen den einzelnen Akteuren? Check! Überzahl in wichtigen Räumen im Zentrum? Check! Dennoch Breite und Tiefe im letzten Drittel? Check! Möglichkeit ins Gegenpressing zu gelangen? Check!
Gegen Schottland hat das System funktioniert. Wie sieht es gegen andere Gegner aus? Was mir persönlich nicht gefällt, ist der große Raum, den Robert Andrich im Mittelfeld allein beackern muss. Der Standard vieler Spitzenteams im Vereinsfußball sieht einen Spielaufbau aus einer 3-2- oder 2-3-Variante vor. Damit hat die Mannschaft eine hohe Präsenz im Mittelfeldzentrum, die besonders dann wichtig ist, wenn doch einmal etwas schief- und der Ball verlorengeht.
Die deutsche Mannschaft hatte diese Präsenz gegen Schottland nicht. Es war schlicht kein Raum, der für die deutsche Mannschaft besonders wichtig zu verteidigen war. Schottland spielt nach Ballgewinn den ersten Pass entweder auf die Flügel oder lang, nie aber über die Halbräume. Genau dort wäre die deutsche Formation verwundbar.
In den Testspielen hat die deutsche Mannschaft die Lücken neben Andrich über ein Einrücken der Außenverteidiger kaschiert. Maximilian Mittelstädt und/oder Joshua Kimmich rückten diagonal ins Zentrum ein. So entstand das „standardmäßige“ 3-2 oder gar ein 3-3 im Aufbau. Gerade gegen Griechenland sorgte dies jedoch dafür, dass vorne jegliche Breite fehlte. Die Deutschen konnten auch deshalb das Pressing der Griechen nicht überspielen, weil Kroos und Rüdiger als äußere Spieler der Aufbau-Dreierkette isoliert waren. Ein Pass weiter nach Außen war schlicht nicht möglich.

Bei den beiden folgenden Spielen wird sich die Frage der Mittelfeldbesetzung etwas dringender stellen. Sowohl Ungarn als auch die Schweiz scheinen mit einem 3-4-3 in das Turnier zu gehen. In höheren Pressingphasen könnten sie mit ihren drei Stürmern eine Gleichzahl gegen die drei deutschen Aufbauspieler herstellen. Dann wäre die Frage, wie gut die deutsche Elf in die zweite Aufbaulinie gelangt – und wie sie reagieren, wenn der Gegner das Zentrum stark zustellt, aber in den Halbräumen und/oder auf Außen Lücken lässt.
Der Test gegen Griechenland hat gezeigt: Ballverluste in der ersten oder zweiten Linie kann die deutsche Elf mit dieser Struktur schwerlich reparieren. Dazu fehlt dann auch die Geschwindigkeit im Mittelfeld – weder Kroos noch Andrich erreichen hier Spitzenwerte.
Insofern bin ich gespannt, wie Nagelsmann seinen Spielaufbau gegen andere Gegner anpassen wird. Ich rate daher, das 5:1 gegen totalpassive Schotten nicht überzubewerten. Es gilt die alte Weisheit von José Mourinho: „Ein Trainer muss die Stärken und Schwächen seines Teams kennen.“ Ich habe das Gefühl, Nagelsmann hat sehr genau erkannt, was seine Elf kann und was nicht. Der zweite Teil des Zitats ist aber nicht minder wichtig: „Eines der Geheimnisse des Trainerseins lautet: ‚Kannst du deine Schwächen vor dem Gegner, vor allem aber vor den Journalisten verstecken?“ Ob das gelingt, wird sich erst in den kommenden zwei Spielen zeigen.
Kurze Beobachtungen
- Die Zeit der kurzen Beobachtungen beginnt erst so richtig ab morgen. Es gab schlicht noch nichts zu beobachten. Ich freue mich auf jeden Fall auf die heutigen Spiele. Ungarn gilt in der Taktik-Bubble auf Twitter als interessantester EM-Teilnehmer. Ich halte den Hype um den „Relationismus“ für etwas übertrieben, freue mich aber dennoch auf die etwas andere Taktik der Magyaren. Mehr dazu dann morgen!
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Das Titelbild zeigt Bundestrainer Julian Nagelsmann und stammt von Steffen Prößdorf, Lizenz: CC BY-SA 4.0.