Das Spiel Österreich gegen die Türkei war spannend, hochdramatisch, voller Wendungen. Am Ende gewannen die Türken – und doch ärgern sich die Österreicher über eine unverdiente Niederlage. Aber war sie wirklich so unverdient? Ich versuche mich an unterschiedlichen Erzählungen über das letzte Achtelfinale.
Österreich gegen Türkei: Zwei Erzählungen, die nicht wahr sind
Fußball ist keine Mathematik. Das hat Karl-Heinz Rummenigge schon vor zwanzig Jahren gewusst. Dennoch kann es durchaus erhellend sein, Fußball durch das Brennglas der Zahlen zu betrachten.
Mit Expected-Goals-Werten beispielsweise kann man allerhand Rechenspiele anstellen. Man kann ausrechnen, wie hoch angesichts der erspielten Chancen die Siegwahrscheinlichkeit einer Mannschaft ausfällt. Oder wie hoch die Wahrscheinlichkeit für beide Teams ausfällt, ein, zwei oder drei Tore zu schießen.
Jagt man das Spiel Österreich gegen die Türkei durch das Rechenprogramm von Danny Page, ergeben sich folgende Werte: In 77 von 100 Fällen gewinnt Österreich angesichts der erspielten Chancen das Achtelfinale. Die Wahrscheinlichkeit eines türkischen Siegs lag angesichts ihrer Chancen bei 8%. Knapp ein Prozent höher war die Wahrscheinlichkeit, dass Österreich die Partie mit vier Toren Vorsprung gewinnt.
Man könnte das Achtelfinale Österreich gegen die Türkei anhand dieser Zahlen erzählen. Es wäre eine große Erzählung darüber, wie ungerecht und unberechenbar der Fußball sein kann. Eine Mannschaft kann sich über neunzig Minuten hinweg Chancen erarbeiten, um den Gegner drei Tore einzuschenken. Am Ende gewinnt doch das andere Team, zwei Standard-Treffern und einem überragenden Torhüter sei Dank.
Fußball ist aber, wie eingangs zitiert, keine Mathematik. Man kann dieses Spiel auch gänzlich anders erzählen.
Eine alternative Erzählung klänge weniger nach Mathe-Unterricht und mehr nach Kitsch. Es wäre eine Geschichte über Kampf, Kraft und die Macht der Leidenschaft. Von der ersten Minute an warfen die Türken alles in die Waagschale, was sie hatten. Sie verteidigten mit Herz und viel Willen. Gäbe es einen statistischen Wert für „Expected Ballgewinne durch Grätschen“ – Ferdi Kadioglu hätte seinen erwarteten Wert um das Vielfache übertroffen.
Selbst als die Türken nach der 60. Minute praktisch auf dem Zahnfleisch über den Rasen krochen, gaben sie das Grätschen und Beißen und Bällewegköpfen nicht auf. Torhüter Mert Günok hielt in der letzten Minute einen Ball, der eigentlich nicht zu halten ist. Leidenschaft, Kampfgeist und das lautstark beteiligte Publikum führten die Türkei zum Sieg.
Es sind zwei schöne Geschichten, die sich die Lager der Fans nach dem Spiel erzählen können. Die Österreicher fühlen sich vom Fußballgott um ihren Sieg betrogen, die Türken feiern das Feuer ihrer Mannschaft und ihrer Zuschauer.
Erzählungen sind ein Weg der Menschen, sich in der Welt zurechtzufinden. Wir biegen eine komplexe Angelegenheit in Muster, die wir wiedererkennen. Nicht immer geben die Geschichten am Ende akkurat das Geschehene wieder.
So können sich die Österreicher nach dem Spiel keineswegs auf dem Argument Pech ausruhen. Jede Ecke, die in den österreichischen Fünfmeterraum kam, wurde gefährlich. Torhüter Patrick Pentz hatte keine Kontrolle über den Strafraum, seine Vordermänner halfen ihm nur wenig. So waren die türkischen Tore kein Zufallsprodukt; sie hatten ihre Ecken genauso geplant.
Gerade in der ersten Halbzeit schienen die Österreicher überfordert mit dem Gegner. Vincenzo Montella hat seine türkische Mannschaft anders aufgestellt, als die Österreicher erwartet hatten. Die Fünferkette hinten sicherte die Breite, während die Akteure im Zentrum eine enge Manndeckung ausführten. Das türkische Mann-gegen-Mann überforderte Österreich.
Trainer Ralf Rangnick hat zwar die richtigen Schlüsse gezogen. Marcel Sabitzer wechselte auf die rechte Seite, nach der Pause stand ein Zwei-Mann-Sturm im Strafraum für Flanken bereit. Viel mehr als hohe Hereingaben fiel den Österreichern nicht ein.
Noch am Vortag hatte Rangnick im Interview mit dem Spiegel betont, sein Spielstil bestehe nicht mehr nur aus Pressing und Umschalten. Er lasse auch viel Ballbesitzspiel trainieren. Davon war gegen die Türkei wenig zu erkennen. In die Halbräume kamen sie praktisch nie. Österreichs Niederlage lag nicht nur am Abschlusspech, sondern auch an einer gehörigen Portion Unvermögen.
Auch die Türken wären gut daran bedacht, nach dem Spiel kritisch mit der eigenen Leistung ins Gericht zu gehen. Montella hatte eine Strategie entworfen, die derart viel Kraft raubte, dass seine Mannschaft nach sechzig Minuten praktisch stehend K.O. war. Irgendwann sprintete Baris Alper Yilmiz im Konter an allen Österreichern vorbei, spielte den Ball blind in den Strafraum – nur um dann festzustellen, dass sich kein einziger Mitspieler im letzten Drittel befand. Sie standen allesamt am Mittelkreis mit den Armen in der Hüfte und prusteten.
Im Endeffekt beruhte die türkische Strategie auf der Hoffnung, dass die Österreicher in der letzten halben Stunde keine Mittel und Wege finden würden, ein Tor zu schießen. Das kann man durchaus so machen. Man braucht sich am Ende aber auch nicht zu wundern, wenn ein besserer Gegner vier oder fünf Tore schießt.
Für uns neutrale Zuschauer hatten die offensichtlichen Makel beider Teams eine gute Sache: Es entstand ein bis zum Abpfiff hochspannendes wie dramatisches Fußballspiel. Am Ende behielten die Türken die Oberhand. Welche Erzählung nach dem Abpfiff verfängt, bleibt jedem selbst überlassen.
Kurze Beobachtungen
- Doppeltorschütze Merih Demiral zog die Schlagzeilen auf sich – allerdings nicht für seine Auszeichnung als „Man of the Match“. Sein zweites Tor hat er mit dem Wolfsgruß gefeiert. Diese Geste wird von rechtsextremen türkischen Organisationen genutzt. (Mehr Infos dazu gibt es bei der Sportschau.) Pikant: Im Land des Gegners Österreich ist dieser Gruß verboten. Demiral versuchte sich nach dem Spiel damit herauszureden, dass seine Aktion nicht politisch gewesen sei. Ich denke aber nicht, dass die Uefa ihm dies durchgehen lässt. Immerhin ließ sie auch den Albaner Mirlind Daku sperren, nachdem er „F*** Mazedonien“-Gesänge angestimmt hat. Neben Orkun Gökcu und Ismail Yüksek würde dann im Viertelfinale eine dritte Zweikampfsäule gesperrt fehlen.
- Im Viertelfinale trifft die Türkei auf die Niederlande. Ich habe das Spiel gegen Rumänien nur halb verfolgen können, aber die Niederlande wirkte auf mich stark verbessert im Vergleich zu den Gruppenspielen. Erstmals in diesem Turnier gefiel mir ihre Mischung aus 3-4-3 und 4-2-3-1, auch weil Cody Gakpos Rolle als inverser Flügelspieler viel präsenter war als zuletzt. Joker Donyell Malen empfahl sich mit seinen beiden Treffern für höhere Aufgaben. Wenn die Türken wieder so spielen wie gegen Österreich, tippe ich auf mindestens ein Tor von Wout Weghorst. Der wäre nach Flanken deutlich gefährlicher als Michael Gregoritsch.
- Morgen gibt es im Tagebuch einen Tag Pause. Ich versuche, am Freitag mit einer kleinen Vorschau auf das Spiel Deutschland gegen Spanien zurückzukehren.
Das Titelbild zeigt den (etwas jüngeren) österreichischen Stürmer Marko Arnautovic und stammt von Granada. Lizenz: CC BY-SA 4.0.
Das österreichische Ballbesitzspiel war aber in der Gruppenphase und vor allem gegen die Niederlande weit besser als gestern, findest du nicht?
Das Ausscheiden schmerzt, vor allem die Art und Weise und ausgerechnet gegen die Türkei.
Aber es ist mir doch noch lieber mit dieser Spielweise in den KO-Runden zu scheitern, als mit für die Augen kaum verkraftbarer Offensivverweigerung ins Viertelfinale zu kommen (damit ist nicht unbedingt die Türkei gemeint).
Danke…und kleine Anmerkung….der Corner vor dem 2ten Tor war nicht zu geben.
https://www.newyorker.com/cartoon/a21435
😉