WM-Tagebuch, Tag 15: Weiter, immer weiter!

Diese Weltmeisterschaft kennt keine Gnade. Gerade noch war die Gruppenphase zu Ende gegangen mit teils spektakulär spannenden Spielen. Nun läuft bereits die K.O.-Phase. Zeit der Regeneration? Keine vorhanden im engen Terminkalender zwischen europäischer Saison und Winter-Weltmeisterschaft. Dass Argentinien und Australien nur drei Tage Pause bekamen nach ihren anstrengenden Spielen am Mittwoch, war in ihrem Achtelfinale zu spüren. Am Ende entstand ein vogelwildes Spiel, in dem beide Teams mehr wankten als rannten. Der Spannung tat das keinen Abbruch. Australien kratzte an der Sensation, auch wenn diese angesichts der totalen argentinischen Dominanz über weite Strecken der Partie unverdient gewesen wäre.

Heute möchte ich an dieser Stelle vorausblicken auf den heutigen Tag. Vor allem der Senegal steht im Fokus. Außerdem gibt es einen Blick zurück auf den niederländischen Sieg gegen die USA sowie unterschiedlichste kleine Beobachtungen.

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Senegal: Die afrikanische Hoffnung

Zwei afrikanische Teams im WM-Achtelfinale? Das gibt es nach 2014 erst zum zweiten Mal bei einer Weltmeisterschaft. Ein afrikanisches Team im Viertelfinale? Das gab es seit Ghanas knapper Niederlage gegen Uruguay 2010 nicht mehr. Ein afrikanisches Team im Halbfinale? Das wäre Geschichte. Auch wenn Marokko etwas höhere Chancen haben dürfte, Geschichte zu schreiben, greift heute mit Senegal die erste afrikanische Nation nach den Sternen.

Den afrikanischen Fußball gibt es dabei genauso wenig, wie es einen distinguierten europäischen oder südamerikanischen Fußballstil gibt. Die Nationen Nordafrikas unterscheiden sich in ihrem Spielstil und ihrem fußballerischen Temperament wesentlich von den Ländern Westafrikas. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass Trainer Aliou Cissé mit der senegalischen Mannschaft eine Symbiose geschafft hat aus den unterschiedlichen Stilen des Kontinents. Seine Mannschaft verteidigt aggressiv und zugleich taktisch diszipliniert, sie setzt auf ihre körperlichen Vorteile genauso wie auf die technische Klasse ihrer Außenstürmer. Sie vereinen die Intensität im Pressing, die nordafrikanische Teams auszeichnen, mit der körperlichen Wucht mittelafrikanischer Teams und der Verspieltheit vergangener WM-Teilnehmer aus Westafrika.

Schlüsselspieler des aktuellen Teams ist Idrissa Gueye. Damit ist gar nicht so sehr seine offensive Rolle gemeint; kaum ein anderer senegalesischer Spieler wagt weniger Linien-brechende Pässe. Viel eher sticht er defensiv heraus. Sein Herausrücken aus dem zentralen Mittelfeld gibt vor, wann die Mannschaft zum Pressing übergeht. Er hält den Druck auf das gegnerische Mittelfeld hoch. Englands Declan Rice wird das heute zu spüren bekommen.

Offensiv fokussiert sich der Senegal vor allem auf seine linke Seite. Abdou Diallo begann die erste Partie als Linksverteidiger und rückte gegen Katar und Ecuador auf die halblinke Innenverteidiger-Position. Dafür kam Ismail Jakobs als hochschiebender Linksverteidiger zum Einsatz. Der frühere Kölner unterstützt Linksaußen Ismaila Sarr. Die Aufteilung auf links ist klar geregelt: Diallo spielt die progressiven Pässe – kein Senegale wagte mehr Zuspiele nach vorne. Jacobs bietet sich für diese Pässe an – kein Spieler der Viererkette agierte höher. Gemeinsam bringen sie Sarr in Dribbling-Positionen – er wies in der Vorrunde die sechstmeisten Dribblings aller WM-Spieler auf. Gegen England könnte Trainer Cissé wieder Diallo auf die Linksverteidiger-Position schicken, um die defensive Stabilität zu erhöhen.

Trotz der guten Leistungen in der Vorrunde dürfte das Spiel gegen England schwer werden für den Senegal. Nicht immer steht die Doppelsechs hinter Gueye gut, sodass sich hier Räume für Harry Kane oder Jude Bellingham öffnen könnten. Konter sind gegen die englische Restverteidigung nur schwer möglich. Senegal wird die wenigen Gelegenheiten nutzen müssen. Ihre Chancenverwertung war bisher nicht ihre Stärke. Selbst wenn die Senegalesen ausscheiden sollten, können sie diese Weltmeisterschaft als Erfolg verbuchen. Auch ohne Superstar Sadio Mane überzeugten die Westafrikaner mit schön anzusehendem Fußball.

Dass ausgerechnet 2022 afrikanische Nationen eine derart erfolgreiche Weltmeisterschaft spielen, sollte ein Weckruf sein für die Verbände des Kontinents, die sich nicht qualifizieren konnten. Zu häufig setzten afrikanische Nationen in der Vergangenheit auf verblasste Trainer-Legenden aus dem europäischen oder südamerikanischen Ausland, anstatt eigene Trainertalente in die Pflicht zu nehmen. Bei dieser WM war dies anders: Alle afrikanischen Nationen reisten mit Trainern aus ihrem Land an. Zwei kamen ins Achtelfinale, die übrigen drei scheiterten knapp am Weiterkommen. Cissé beweist, dass das negative Bild afrikanischer Trainer auf Klischees beruht. Sein Team ist taktisch nicht minder gut eingestellt wie die Teams anderer Kontinente, im Gegenteil. Vielleicht heckt er etwas vor dem Spiel aus, um die Engländer zu ärgern.

Niederlande: Die glücklichen, unglücklichen Sieger

Da hatte ich mal wieder Unrecht. Vor den Achtelfinals ordnete ich in meinem Ranking die USA in der dritthöchsten Kategorie B ein, die Niederländer landeten hingegen in Gruppe C. Laut mir ging also die USA als Favorit ins Duell mit der Fußballnation Niederlande. Das Spiel entpuppte sich dann aber als recht einseitige Angelegenheit: Der niederländische Sieg war zu keiner Zeit wirklich in Gefahr.

Nach dem frühen 1:0 konzentrierten sie die Niederländer auf ihre Defensive. Laut Fifa-Statistiken verbrachten sie 25% ihrer Verteidigungszeit in einem mittleren Block, 27% in einem tiefen Block, sprich: weit in der eigenen Hälfte. Das sind Werte, die bei dieser WM sonst Außenseiter wie Marokko oder Australien erzielten. Davy Klaassen nahm in der ersten Halbzeit Tyler Adams in Manndeckung. In der zweiten Halbzeit konterten die Niederländer häufiger. Den Amerikanern fehlte gegen das niederländische 5-3-2 jegliche Kreativität. Ein klarer 3:1-Sieg war die logische Folge.

Marco van Basten hingegen zeigte sich unbeeindruckt. Im niederländischen Fernsehen kritisierte er während der Halbzeit deutlich die Leistung von Louis van Gaals Team. „Als Fußball-Liebhaber frage ich mich: Was schaue ich mir da gerade an? Wenn wir die Weltmeisterschaft gewinnen, sind alle glücklich. Aber ich weiß nicht, ob ich mir das noch viel länger antun mag.“ Und: „Wir alle haben mit dem Fußball angefangen, um Spaß zu haben, oder? Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Jungs Spaß haben.“ Bondscoach Louis van Gaal und Daley Blind mussten sich entsprechend kritische Fragen gefallen lassen. Sie antworteten routiniert. Der niederländische Eistonne-Moment blieb aus.

So richtig ist der niederländische Glaube an den schönen Fußball noch nicht gestorben. Jahrzehntelang waren die Niederländer berühmt für ihre Spielkunst, für totalen Fußball und Positionsspiel, für Johann Cruyff und Dennis Bergkamp. Dieses Klischee ist aber mittlerweile seit mindestens zwanzig Jahre veraltet. Erfolge feierte der niederländische Fußball in diesem Jahrtausend eigentlich nur mit extrem pragmatischen Fußball. 2010 foulte und rumpelte sich die Mannschaft unter Bert van Marvijk ins Finale, 2014 erzielten sie unter van Gaal in drei K.O.-Spielen zwei Tore.

Van Gaal hat die Blaupause des Turniers in Brasilien aus dem Aktenschrank gefischt und noch mehr defensive Stabilität hinzugefügt. Das führt dazu, dass van Basten das Team kritisiert und Taktik-Nerds wie ich die Mannschaft unterschätzen. Es ist aber auch ein gangbarer Weg für ein Turnier, in dem jedes Gegentor das potentielle Aus bedeuten kann. Die Niederländer haben in vier Spielen nur zwei kassiert, und das Gegentor gegen die USA war derart skurill, dass es zu Zweifeln an den physikalischen Naturgesetzen anregt.

Gänzlich überzeugt bin ich auch nach dem Achtelfinale nicht. Die Niederländer verteidigten clever. Sie wussten, dass die USA ein großes Vakuum im Sturmzentrum aufbieten. Die tiefe Defensive und die Mannorientierungen auf die Außenstürmer verdammten die USA zur Wirkungslosigkeit. Die USA durfte in ungefährlichen Zonen spielen, ohne wirklich Durchschlagskraft entwickeln. Und trotzdem kamen die US-Boys zu 17 Abschlüssen, darunter Großchancen wie jene von Pulisic kurz nach dem Anpfiff. Argentinien wird der erste Prüfstein für die niederländische Elf. Dann wird sich zeigen, ob der ultra-rationale Fußball eines van Gaals tatsächlich zum Titel führen kann.


Kurze Beobachtungen

  • Gestern befürchtete ich, dass die Hälfte der Leserschaft abspringt, nachdem die deutsche Mannschaft ausgeschieden ist. Pustekuchen. Der gestrige Tag war der bisher zweiterfolgreichste während dieser WM. Was wieder einmal die alte journalistische Weisheit bestätigt: Tiere, Katastrophen und Rankings ziehen immer.
  • Die palästinensische Fußballnationalmannschaft mag sich nicht für diese Weltmeisterschaft qualifiziert haben. Dennoch dürfte die palästinensische Flagge eine der meist geschwenkten sein in Katar. Zahlreiche Fans aus Katar, aber auch aus den anderen Ländern der arabischen Hemisphäre nutzen die Weltmeisterschaft, um politische Botschaften zu senden zugunsten Palästinas. Ich möchte ungern in die heiß diskutierten Details eines Konflikts eintauchen, der älter ist als meine verstorbenen Großeltern. Dennoch empfehle ich den Text der Deutschen Welle unter den Leseempfehlungen. Interessantes Detail: Während der Fifa und den katarischen Gastgebern eine „One Love“-Armbinde ein rotes Tuch zu sein scheint, hat sie nichts dagegen, wenn marokkanische Spieler ihren Achtelfinal-Einzug mit einer palästinensischen Fahne feiern. Ohne das Verhalten der Marokkaner kritisieren zu wollen, kann man doch zumindest leise anmerken, dass solch eine Fahne nicht weniger politisch ist als eine „One Love“-Armbinde. Letztere – und das werde ich bis an mein Lebensende betonen – stellt ja nicht einmal einen Regenbogen dar.
  • Zum Schluss noch etwas hohe Politik. Der US-Verband versuchte sich bei dieser WM an einer Kampagne, um das Wort „soccer“ zu verbreiten. „Soccer, not football!“ lautete ihr Slogan. Selbst US-Präsident Joe Biden machte mit und sagte in einem Video-Statement: „It’s called soccer!“ Nach dem Achtelfinale konterte der niederländische Premier Mark Rutte: „Sorry Joe, football won.“ Die Niederlande ging auch außerhalb des Platzes als Sieger hervor.

Leseempfehlungen

Neue Zürcher Zeitung: «Echte Löwen sterben nie» – oder: Afrikas WM-Teams mit einheimischen Trainern im Höhenflug

Spiegel: Wie ich 24 Spiele live im Stadion erlebt habe

Deutsche Welle: Wie der israelisch-palästinensische Konflikt in die WM getragen wird


Das Titelbild zeigt Aliou Cissé und Kalidou Koulibaly nach dem Gewinn des Africa Cups und stammt von Jeanpierrekepseu, Lizenz: CC BY-SA 4.0.

3 thoughts on “WM-Tagebuch, Tag 15: Weiter, immer weiter!

  1. Die USA hatten ihr Peak in der Vorrunde mit den emotional im Vorfeld aufgeladenen Spielen gegen ENG und den Iran. Das hat man gestern gemerkt, gerade die Mittelfeld-Achse mit Adams, McKennie und Musah wirkte nicht so frisch, teilweise gehemmt und letztendlich aus dem Spiel genommen. Dass die Australier bis zuletzt noch im Spiel „drin“ waren, zumindest vom Ergebnis, hat überrascht. Habe das Gefühl dass die Argentinier mehr mit ihrem Nervenkostüm zu kämpfen haben als mit den Gegnern.

  2. Lieber Herr Escher, ich lese Ihre Beiträge immer mit großem Interesse. Aber bitte, Sie haben jetzt schon genug getan, um im Alleingang die deutsch-polnischen Beziehungen, mühsam über 80 Jahre wieder aufgebaut, zu ruinieren. Lassen Sie sich noch auch auf Fehden mit dem muslimischen Raum ein. Und jetzt zum Sport: Argentinien ist aus dem großen Favoritenkreis (ENG, BRA, FRA, SPA, ARG) die mit Abstand schwächste, unausgeglichenste und zu sehr auf Einzelaktionen (Messi, wer sonst) angewiesene Mannschaft. Ich halte ein Ausscheiden gegen die Niederlande für exorbitant wahrscheinlicher als einen Titelgewinn Argentiniens. Würden Sie meiner Einschätzung zustimmen? Mit herzlichsten Grüßen aus Hamburg, P. Ronzheimer

    1. Lieber Herr Ronzheimer, herzlichen Dank für Ihr Lob! Ich persönlich würde mir ja ein Halbfinale zwischen Argentinien und Brasilien wünschen. Aber es ist gut möglich, dass es Wunschdenken bleibt. Auch wenn ich die Analyse nicht ganz teile, dass Argentiniens Leistung zu sehr von Einzelaktionen von Messi abhängt, ist das doch ein starker Faktor. Argentiniens Ballbesitzspiel finde ich weniger raffiniert als jenes der Brasilianer. Die Niederländer sind ein schwieriger Gegner, weil sie bewiesen haben, dass sie defensiv herausragend verteidigen und vorne Konter setzen können. Ich kann mir gut einen Spielverlauf vorstellen, bei dem Argentinien sich vorne festrennt und hinten die Niederlade die ein, zwei entscheidenden Gegenstöße fährt. Ich möchte Argentinien aber nicht abschreiben! Meiner Meinung nach spielen dort ein paar Akteure eine wirklich starke Weltmeisterschaft. Damit meine ich das Mittelfeld und allen voran Verteidiger Otamendi. Wenn der Gakpo in den Griff bekommt, könnte sich Argentinien bis ins Halbfinale spielen.

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