WM-Tagebuch, Tag 12: Die DFB-Elf ist sich selbst der größte Gegner

Auftaktspiel verloren, am Ende doch recht souverän ins Achtelfinale eingezogen: Argentinien zeigte Deutschland am Mittwochabend, wie es laufen kann. Von der Nervosität aus dem zweiten Spiel war bei Argentinien nichts mehr zu spüren. Von der ersten Minute an schnürten sie die Polen an deren Strafraum ein, spielten Handball rund um den Sechzehner, fanden fast immer die Lücke. Es war fast schon gut, dass Lionel Messi den unberechtigten Elfmeter in der 39. Minute vergab. So kann im Nachhinein niemand behaupten, der 2:0-Sieg wäre nicht gerechtfertigt.

Zwei Dinge beeindruckten mich an Argentinien ganz besonders. Da wäre zum Einen das Gegenpressing. Die gesamte Abwehr verteidigte kompromisslos nach vorne, sobald Polen zum Konter ansetzte. Gegenstöße würgte Argentinien bereits im Ansatz ab, Robert Lewandowski verhungerte vorne. Diesen Mut muss eine Mannschaft in einem Quasi-K.O.-Spiel erst einmal aufbringen. Ihr Gegenpressing war auch der Garant dafür, erneut nur 0,2 Expected Goals zuzulassen. Einzig Brasilien (bisher 0,5 xG zugelassen) hat noch die Chance, in der Gruppenphase weniger xG zu kassieren.

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Zum Anderen wirken die Argentinier weniger abhängig von Messi als in der Vergangenheit. Auch gegen Polen hatte er seine genialen Momente, wenn er im Dribbling drei Gegenspieler auf sich zog oder mit dem Außenrist das Spiel auf die ballferne Seite verlagerte. Er produzierte jedoch auch Ausschussware, verlor Bälle, vergab Chancen und sogar einen Elfmeter. Keine Frage: Er war immer noch der herausragende Akteur. Keiner spielte so viele „line breaking passes“. Doch er war eben nicht mehr der Alleinunterhalter; di Maria unterstützte ihn mit seinen Dribblings, McAllister mit seinem Vorwärtsdrang, Acuna mit seiner extrem offensiven Interpretation eines Außenverteidigers, der ständig diagonal zum Tor sprintet. Es war eine Mannschaftsleistung und keine Einzelleistung, die Argentinien ins Achtelfinale führte.

Können die Argentinier mit ihrem Sieg ein Vorbild sein für die deutsche Mannschaft? Im Tagebuch blicke ich voraus auf die deutsche Partie gegen Costa Rica, aber auch zurück auf zwei Enttäuschungen dieser Weltmeisterschaft.

Deutschland kann sich gegen Costa Rica nur selbst schlagen

Heute steht das letzte Gruppenspiel der deutschen Mannschaft an. Von einem schmachvollen Gruppenaus bis hin zu einer am Ende doch recht souveränen Qualifikation für die K.O.-Runde ist alles möglich.

Ich will an dieser Stelle gar nicht zu tief ins Detail eintauchen. Das gibt, so ehrlich muss man sein, der Gegner Costa Rica nicht her. Aus einem ohnehin defensiven Teilnehmerfeld stechen die Mittelamerikaner noch heraus. Sowohl im 4-4-2 gegen Spanien als auch im 5-4-1 gegen Japan haben sie verzweifelt versucht, über Kompaktheit und tiefes Verteidigen die Null zu halten. In einem Spiel hat das funktioniert, im anderen Spiel nicht.

Auch gegen Japan fand ich die Defensive von Costa Rica keinesfalls überragend. Die neu formierte Fünferkette löste zwar das größte Problem der Costa-Ricaner aus dem Spanien-Spiel, nämlich das Verhalten der Abwehrkette an den Schnittstellen zwischen Außen- und Innenverteidiger. Doch das Herausrücken einzelner Verteidiger blieb weiterhin ein Problem. Gut gerüstete Gegner können Verteidiger aus der costa-ricanischen Abwehr locken, um anschließend sofort in die Tiefe zu spielen. Deutschland scheint mit Spielern wie Ilkay Gündogan oder Jamal Musiala bestens gerüstet für diese Aufgabe.

Personell tippe ich auf einen Startelf-Einsatz von Niclas Füllkrug. Nicht nur, dass er binnen weniger Tage zum Liebling der Nation avancierte. Es ergibt schlicht Sinn, gegen einen tiefstehenden Gegner Präsenz im Strafraum zu haben, besonders wenn dieser tiefstehende Gegner Lücken auf den Außen hat. Flügelangriffe ohne Abnehmer im Strafraum war schon 2018 das Rezept für ein Vorrunden-Aus. Leroy Sané könnte ein weiterer Baustein sein, um die Defensive des Gegners zu testen. Lukas Klostermann wäre als Rechtsverteidiger eine offensivere Option. Defensive Absicherung benötigt Deutschland gegen Costa Rica kaum, gerade wenn diese im 5-4-1 verteidigen. Costa Rica ist auf dem Papier eine Kontermannschaft, die in der Praxis aber nie kontert. Kein Team gab bei dieser WM weniger Schüsse ab.

Bei der Frage, welche Spieler dafür auf die Bank sollten, wird es schon schwieriger. Thomas Müller möchte ich als Raumdeuter gegen einen tiefstehenden Gegner eigentlich nicht missen, genauso wenig Gündogan oder Musiala. Leon Goretzka wäre sicher nicht glücklich, wenn er auf die Bank müsste; er wäre aber der logischste Kandidat. Serge Gnabry überzeugte in den ersten beiden Spielen nicht. Er ist aber als einer von wenigen Spielern im deutschen Kader in der Lage, Tiefe zu erzeugen, selbst wenn der Gegner keine Tiefe anbietet. Einzig der Wechsel Klostermann für Thilo Kehrer würde ohne Probleme funktionieren. Gut, dass ich nicht in Hansi Flicks Haut stecke.

Grundsätzlich sehe ich drei mögliche Verläufe für die Partie. Der wahrscheinlichste: Deutschland erzielt irgendwann den Führungstreffer, Spanien ebenfalls, und dann verleben wir einen ruhigen Abend. Seien wir ehrlich: Spanien und Deutschland gehören bisher zu den stärkeren Teams dieses Turniers, und Japan und Costa Rica nicht. Der unwahrscheinlichste: Japan gewinnt, während sich Deutschland schwertut, die dann nötigen Tore zu erzielen. Ich mag jedoch nicht so recht daran glauben, dass Japans tiefe Defensive gegen die Ballbesitz-Maschine aus Spanien keine Lücken lässt. Das dritte und leider gar nicht so unwahrscheinliche Szenario: Spaniens Spiel gegen Japan läuft im deutschen Sinne, doch die Deutschen selbst vergeben Chance um Chance. Tatsächlich könnte die Gleichung schwache deutsche Chancenverwertung plus Costa Ricas Keeper Keylor Navas ein Desaster ergeben. Mein nonchalanter Tipp: Falls Deutschland ausscheidet, geschieht das aus eigener Dummheit.

Dänemark, die Enttäuschung des Turniers

Vor der Weltmeisterschaft habe ich getippt, dass Dänemark alle überraschen wird. Das haben sie getan – aber nicht in positiver Hinsicht. Das 0:1 gegen Australien besiegelte das Vorrunden-Aus. Klar, Australien beschränkte sich über neunzig Minuten auf die Verteidigung und schloss den einzigen vernünftigen Angriff zum Siegtor ab. Dennoch: Eine Mannschaft, die in diesem Kalenderjahr zwei Siege gegen Frankreich errungen hat, muss gegen einen solchen Gegner mehr als drei Halbchancen kreieren. Immerhin reden wir vom selben Team, das im vergangenen Sommer das Halbfinale der Europameisterschaft erreicht hat. Damals haben sie noch mit Offensivfußball brilliert. Bei diesem Turnier kreierten sie in drei Spielen 2,7 Expected Goals.

Wo lagen die Schwächen der dänischen Mannschaft? Sie litt sicherlich unter der Formschwäche zahlreicher Spieler. Christian Eriksen erreichte nie die Klasse, die man sich von ihm erhoffte. Auch Pierre-Emile Højbjerg setzte aus dem Mittelfeld nur wenig Akzente. Auf den Flügeln knüpfte Joakim Maehle nicht an die Leistungen der vergangenen Europameisterschaft an.

Die Mannschaft plagten nicht nur individuelle Formkrisen, sondern auch taktische Schwächen. Während die meisten Nationen mit einer fest eingespielten Stammelf zur WM reisten, setzte Dänemarks Coach Kasper Hjulmand in den drei Gruppenspielen auf drei verschiedene taktische Ansätze. Doch egal ob die offensive 3-5-2/3-4-3-Mischung gegen Tunesien, das defensive 5-2-3/5-4-1 gegen Frankreich oder der 4-3-3/4-2-3-1-Hybrid gegen Australien: Keine dieser Varianten wirkte eingespielt, nie stimmte die Balance. Seine Hoffnung, ähnlich wie 2021 im Verlaufe des Turnierverlaufs eine feste Elf zu finden, materialisierte sich nie.

In allen Varianten verfolgten die Dänen dieselben Schwächen. Defensiv funktionierte das hohe Pressing nicht konstant genug, um den Gegner wirklich nach hinten zu drücken. In der tiefen Verteidigung fehlten wiederum die Mechanismen, die eingespielte Teams auszeichnen. Offensiv lautete das größte Problem, dass es kaum Anbindung gab zwischen Mittelfeld und Angriff. Eriksen und Højbjerg holten sich die Bälle in der eigenen Hälfte ab, fanden vor sich aber selten freie Mitspieler.

Das war umso seltsamer, als dass die Dänen eigentlich ein paar formstarke Angreifer hätten aufbieten können. Doch weder Andreas Skov Olsen noch Jesper Lindström wurden so eingebunden, dass sie ihre Fähigkeiten einbringen konnten. Olsen schlug in seinen eineinhalb Spielen keine einzige Flanke. Lindström versauerte auf dem linken Flügel, isoliert von seinen Kollegen und ohne die Möglichkeit, Tempodribblings in Richtung Tor zu starten. Dass dies seine große Stärke ist, weiß jeder Frankfurter Fan zu gut.

Dänemarks Leistungen waren schlicht ungenügend, um die Runde der besten 16 zu erreichen. Man kann nicht einmal behaupten, dass sie Opfer einer schweren Gruppe wurden. Gegen Australien hatten sie ihr Schicksal selbst in der Hand. Wollen wir hoffen, dass Argentinien und nicht Dänemark das Omen für die deutsche Nationalmannschaft wird.


Kurze Beobachtungen

  • Ich möchte es mir ungern erneut mit unseren polnischen Nachbarn verscherzen. Doch ich habe einen heiligen Eid geschworen, die taktische Wahrheit und nicht als die taktische Wahrheit zu beschreiben. Daher muss ich sagen: Polens Leistung gegen Argentinien kann man nur als Frechheit bezeichnen. Das bezieht sich gar nicht so sehr auf ihre defensive Herangehensweise beim Spielstand von 0:0. Die Polen schlossen als Außenseiter die Räume, während Argentinien auf Sieg spielen musste. Sie ließen sich dabei sogar nicht ganz so oft in ein defensives 6-3-1 fallen wie zuletzt. Dass sie in der Halbzeit-Pause sogar leicht offensiv wechselten – ehrenhaft. Was dann aber spätestens nach dem 0:2 folgte, war eine Strategie, die man eigentlich nur mit „Hoffen und Beten“ bezeichnen kann. Die Polen zogen sich im 4-5-1/5-4-1-Geschmisch an den eigenen Strafraum zurück. Sie vertrauten nicht auf die eigene Stärke, sondern einzig darauf, dass weder Argentinien noch Mexiko ein Tor schießen, damit sie über die Fairplay-Wertung eine Runde weiterkommen. Leider vergab Argentinien die durchaus vorhandenen Chancen, und auch Mexiko bestrafte die totale Spielverweigerung der Polen nicht. Ich lege mich fest: Gegen Frankreich wird diese Verweigerungstaktik nicht funktionieren.
  • Geheimtipp: Wer detaillierte statistische Auswertungen der WM-Spiele sucht, wird im Training Centre der Fifa fündig. Hier publiziert die Fifa nach jedem Spiel ein Dokument mit tiefergehenden Statistiken. Dort finden sich neben den Klassikern wie Schüsse, Pässe und Expected Goals auch einige abgefahrenere Kennzahlen. Die Fifa weist aus, wie weit gestreckt die Formation einer Mannschaft in jeder Spielphase steht, also wie weit der Abstand zwischen den äußersten Spielern ist. Außerdem schlüsseln sie für jeden Spieler auf, welche Art von Pässe sie gespielt haben, wie oft sie sich im freien Raum anboten und wie oft sie den Ball zwischen den gegnerischen Linien bekamen. Wer mit den Statistiken nicht auf Anhieb warm wird, findet auch Erklärvideos. Arsène Wenger höchstpersönlich führt den Fußball-Fan in die Feinheiten der statistischen Analyse ein.

Leseempfehlungen

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Ein Shout-Out an dieser Stelle an Budimir Sepac, der mich Tag für Tag mit Artikeln versorgt. Herzlichen Dank!


Das Titelbild zeigt die deutsche Nationalmannschaft im September 2019 und stammt von Steffen Prößdorf, Lizenz: CC BY-SA 4.0.

3 thoughts on “WM-Tagebuch, Tag 12: Die DFB-Elf ist sich selbst der größte Gegner

  1. Seit ich Fussball gucke (1994), ist keine Mannschaft mit einer schlechteren Leistung in die K.O-Phase einer Endrunde vorgestossen als Polen sie gestern gezeigt hat. Schon gegen Saudi-Arabien waren sie schlecht.

  2. „Mein nonchalanter Tipp: Falls Deutschland ausscheidet, geschieht das aus eigener Dummheit.“

    Wenn das nicht der wildeste Escher-Jinx aller Zeiten ist, dann weiß ich auch nicht mehr.

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