Eschers EM-Tagebuch, Tag 10: Türkei, der ganz geheime Geheimfavorit

Herzlich Willkommen zu meinem EM-Tagebuch, heute in der Geheimfavoriten-Variante! Die Gruppenphase neigt sich dem Ende entgegen, und das erste Team hat sich bereits verabschiedet. Heute geht es um die Schwachpunkte der Türkei sowie die allgemeine Unlust der Trainer, ihr taktisches System zu verändern.

Geheimfavorit Türkei hält seine Stärken geheim

Es gibt den alten Witz, dass Geheimfavoriten meist aus guten Grund „geheim“ seien. Denn würden sie wirklich gut spielen, wären sie richtige Favoriten. Es gibt gewiss Ausnahmen von der Regel; so etwa 2016, als mein Spielverlagerung-Kollege Martin Rafelt den sensationell wirkenden Halbfinal-Einzug der Waliser ziemlich exakt vorhergesagt hatte. Ich habe jedoch in meinem Leben mehr Geheimfavoriten scheitern als triumphieren sehen.

Die Türkei hatten ziemlich viele auf dem Zettel. Ihr Geheimfavoriten-Status speiste sich aus zwei Gründen. Der eine waren die Leistungen in der Qualifikation: Gerade einmal drei Gegentore kassierten die Türken; ein herausragender Wert in einer Gruppe mit Frankreich und Island. Gegen Weltmeister Frankreich holte man sogar vier Punkte. Diese defensive Stabilität sollte das Team durch das Turnier tragen.

Hinzu kommt ein Kader, der individuell Einiges zu bieten hat. Hakan Calhanoglu hat sich in Mailand zum Spielgestalter weiterentwickelt. Stürmer Burak Yilmaz hat auf seine alten Tage Lille zum französischen Titel geschossen. Hinzu kamen Premier-League-Veteranen wie Caglar Soyünyü und Cengiz Ünder.

Diese vermeintlichen Stärken konnte die Türkei bei der EM allerdings nie ausspielen. Von der defensiven Stabilität war nichts zu erkennen. Die Türken sind auf dem Weg, das defensiv schwächste Team dieser EM zu werden. Das bezieht sich nicht nur auf die acht kassierten Tore, sondern auch auf die Anzahl der zugelassenen Torschüsse und den schwachen Expected Goals Wert.

Wir erleben gerade eine Europameisterschaft der verschlossenen Zentren. Das ist ja grundsätzlich nichts Neues; auch 2016 und 2012 und 2008 ging es darum, dem Gegner möglichst wenig Raum in der Spielfeldmitte zu öffnen. Das ist bekanntlich eine der wichtigsten Aufgaben eines jeden Defensivsystems: Im Zentrum hat der Gegner die meisten Optionen und den direktesten Weg zum Tor. Gerade vor der Abwehr darf kein Gegner schalten und walten, wie er will.

Tja, außer die türkischen Gegner. Deren Mittelfeld hat es nie geschafft, den Bereich vor der Abwehr zu schließen. Schon im ersten Tagebucheintrag hatte ich gescherzt, dass Okay Yokuslu angesichts seiner defensiven Schwächen eher Mäßig Yokuslu heißen sollte. Er wurde nach zwei schwachen Spielen ausgetauscht gegen Kaan Ayhan. Den kennen wir alle aus der Bundesliga als Innenverteidiger; entsprechend unsicher war sein Raumgefühl als alleiniger Sechser. Man schaue sich einfach nur das zweite Tor der Schweiz an: Seferovic, Zuber und Shaqiri durften den Ball vor der gegnerischen Viererkette seelenruhig passen, ohne dass ein Türke eingriff. Das sah man bei dieser EM selten.

Die zweite Enttäuschung waren die individuellen Leistungen der Spieler. Calhanoglu war nie der Fixpunkt, den sich türkische Fans erhofft hatten. Ein Stück weit liegt hier das Syndrom vor, das ich wieder und wieder in meinem Tagebuch anspreche: Calhanoglu hatte bei der EM durchschnittlich mehr Ballkontakte als im Klub, was aber seinem Spiel gar nicht unbedingt zuträglich ist. Er ist ein guter Spielgestalter, vor allem aber ein überragender Mann für den finalen Pass. Bei der Nationalelf wurde er dafür zu häufig zu früh im Angriffsverlauf eingebunden.

Bis zuletzt hat Trainer Senol Günes nach der idealen Position für Calhanoglu gesucht. Er kam sowohl auf Linksaußen, als Zehner und auch als Achter zum Einsatz. Das zeigt das größere Problem: Eine eingespielte Elf konnte Günes nicht aufs Feld schicken. Keins seiner personellen Experimente funktionierte. Am Ende lassen sich beide Probleme sogar verknüpfen: Wenn die Rollen und die personelle Aufstellung im Mittelfeld von Spiel zu Spiel wechseln, fehlen die Automatismen, um das Mittelfeld defensiv zu kontrollieren.

Der krasse Gegensatz zur Türkei dürfte Wales sein: eine Nationalmannschaft, die dank ihres Systems besser ist als die Summe ihrer Teile. Die ihre Stars in festen und klaren Rollen einbindet. Der Türkei gelang Beides nicht. Der Geheimfavorit fährt nun also heim.

Systemwechsel? Fehlanzeige!

Für die 11Freunde nehme ich zusammen mit Tobias Ahrens einen Podcast auf. Bei „Nur stellen!“ reden wir über die taktischen wie strategischen Themen dieser Europameisterschaft. Mein Co-Moderator wies mich in der vergangenen Ausgabe daraufhin, dass es ja bisher kaum Systemwechsel gegeben haben bei dieser EM. In der Tat: Fast alle Trainer setzten im zweiten Spiel auf dasselbe System wie im ersten Spiel. Auch personelle Wechsel sind rar gesät. Einen radikalen Systemwechsel vollzog einzig Dänemark: vom aktiven 4-3-3 hin zum Defensivfokus im 5-4-1.

Stabilität lautet die große Überschrift dieser EM, und diese findet sich auch im taktischen Bereich wieder. Hatten wir bei den vergangenen Turnieren noch einige wenige Top-Nationen, die mit Flexibilität punkten wollten, geht es nun darum, feste Abläufe zu etablieren. Selbst wenn es nicht läuft, wie bei England oder Spanien, heben die Trainer hervor, nicht zu viel verändern zu wollen. Die Gruppenspiele werden eher als Chance wahrgenommen, die A-Elf einzuspielen. Taktische Experimente bleiben auf der Strecke.

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Aber auch innerhalb der Spiele gab es bisher selten taktische Umstellungen. Groovt sich die Dynamik einer Partie erst einmal ein, verändert sich wenig am Spielfluss. Das zeigt sich auch in den größtenteils deutlichen Ballbesitz-Verhältnissen der Partien: Eine Mannschaft gestaltet das Spiel, die andere kontert – von der ersten bis zur letzten Minute.

Dieser Fokus auf Stabilität ist einerseits verständlich: Gerade den Top-Nationen geht es um den Turniersieg, nicht darum, mit Experimenten in der Gruppenphase die Fachwelt zu begeistern. Etwas mehr Wagemut würde man sich schon wünschen, auch im Interesse der Teams. England, Kroatien oder Spanien punkten schließlich nicht konstant genug, als dass sie unbedingt an ihren Spielsystemen und Grundstrategien festhalten müssten. Mal schauen, wer sich am finalen Spieltag der Gruppenphase etwas Neues ausdenkt.

Kurze Beobachtungen

  • Ich habe gestern leider das Spiel Italien gegen Wales nicht verfolgen können. Verfolgt man die Elogen auf Twitter und die allgemeine Berichterstattung, haben sich die Italiener ein echtes Luxusproblem eingehandelt. Marco Verratti hat beim 1:0-Sieg gegen Wales offenbar getan, was ein Verratti so tut: das Spiel diktieren, seine Kollegen mit Pässen füttern, immer zwei Schritte vorausdenken. Eigentlich hatte Trainer Roberto Mancini sein Spielsystem ohnehin um den Weltklasse-Spielgestalter herum gebaut. Doch Manuel Locatellis starke Leistungen in den ersten beiden Spielen werfen die Frage auf, wer im Achtelfinale aufläuft. Der Stratege Verratti? Oder der etwas vorwärts gerichtete Locatelli? Ich würde immer auf Verratti setzen, verstehe aber auch die Argumente pro Locatelli. Ein waschechtes Luxusproblem.
  • Nordmazedonien wird heute sein letztes EM-Spiel austragen. Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich kein großer Fan des 24er-Formats bin. Die Qualität des Turniers verwässert, wenn sich halb Europa qualifiziert. Wir haben nun zwei Wochen nonstop Fußball erlebt, nur um acht Teams zu verabschieden. Das wiegt aus meiner Sicht stärker, als die Möglichkeit, dass kleinere Nationen Farbe in den Wettbewerb bringen. Umso wichtiger, dass die kleinen Teilnehmer wirklich Abwechslung ins Turnier bringen. Das tat Nordmazedonien vielleicht nicht auf, aber wenigstens abseits des Platzes. Und Goran Pandev kann ich immer zuschauen. Insofern ist es aus meiner Sicht gut, dass die Uefa den alternativen Qualifikationsweg über die Nations League geschaffen hat. So speisen sich nicht alle Teilnehmer aus dem Pool der „Mal dabei, mal nicht“-Fraktion, für die so ein Turnier am Ende des Tages auch nichts Besonderes ist.

Leseempfehlungen

The Athletic: Italy’s Xavi is back – Marco Verratti looked like he had never been away

11Freunde: Fußballmacht Belgien. Das Land der grünen Bananen.

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Das Titelbild stammt von jorono auf Pixabay.

One thought on “Eschers EM-Tagebuch, Tag 10: Türkei, der ganz geheime Geheimfavorit

  1. Was das Turnierformat betrifft warte ich nur noch auf die Erhöhung auf 32 Teams die dann damit begründet wird dass man sich der Kritik am 24er-Modus angenommen hat (nur um dann wieder mehr Spiele und mehr Übertragungszeiten zu haben und so noch mehr Geld zu generieren). Tippe mal auf 2028.

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