EM-Tagebuch, Tag 24: Die zentrale Achse

Auch zwei Tage nach dem Abpfiff beschäftigt mich das Spiel Deutschland gegen Spanien noch. Ich erkläre, warum ich Nagelsmanns Aufstellung für einen Fehler halte. Es gab aber auch am gestrigen Samstag ein Viertelfinale, das Fußball-Europa im Atem hielt: Die Türkei verlor gegen die Niederlande, was mein Lob an die türkische Mannschaft nicht schmälert.

Die Nachwirkungen des deutschen Aus

Es gibt eine einfache Regel, wenn man Welt- oder Europameister werden will: Ab der K.O.-Phase muss deine zentrale Achse stehen. Auf den Außenpositionen mögen die Trainer ihr Personal noch austauschen können. Wer aber einen Titel gewinnen möchte, muss sein Zentrum spätestens ab dem Viertelfinale durchspielen lassen. Dass ein Team noch in der K.O.-Phase eine Veränderung in der zentralen Abwehr oder im zentralen Mittelfeld vornimmt und am Ende ein Turnier gewinnt, passiert so gut wie nie.

Das ist keine dieser gefühlten Wahrheiten. Man kann alle Europameister und Weltmeister durchgehen, seit es bei bei Turnieren längere K.O.-Phasen gibt. Bei 17 von 22 der von mir überprüften Welt- und Europameister standen in sämtlichen K.O.-Spielen in der Innenverteidigung und im zentralen Mittelfeld dieselben Spieler auf dem Rasen.

Die Ausnahmen hatten in drei von fünf Fällen mit Verletzungen und Sperren zu tun. Frankreich musste 1998 seine zentrale Achse angesichts von Rot-Sperren mehrfach umbauen. Italien bestritt 2021 das Achtelfinale ohne den angeschlagenen Giorgio Chiellini, kehrte ab dem Viertelfinale aber prompt zur Stammformation zurück. Große Ausnahme ist der deutsche Weltmeister 2014: Joachim Löw hat 2014 erst ab dem Viertelfinale Philipp Lahm aus der Zentrale auf die Außenverteidiger-Position geschoben. (Wobei man hier klugscheißen könnte, dass dies bereits während des Achtelfinals gegen Algerien passierte.) Im Finale fiel dann Sami Khedira aus.

Aber im Grunde gilt: Finde bis zur K.O.-Phase dein defensives Zentrum, lass es spielen, gewinne den Titel.

Damit wären wir bei dem Punkt, der mich auch zwei Tage nach dem verlorenen Viertelfinale gegen Spanien nicht loslässt. Julian Nagelsmann tat das, was kaum ein Titel-Trainer in der Geschichte des Fußballs zuvor gewagt hat: Er baute seine zentrale Achse um. Ganz ohne Not. Niemand hatte sich verletzt, niemand fehlte gesperrt. Doch Nagelsmann wollte neue Akzente setzen.

Er erklärte seine Entscheidung, Emre Can statt Robert Andrich aufzustellen, mit dessen höherer Geschwindigkeit. Can könnte die Läufe der gegnerischen Achter besser aufnehmen. Damit wäre die deutsche Mannschaft defensiv besser gewappnet gegen Pedri und Fabian Ruiz, hoffte Nagelsmann.

Die Hoffnung erfüllte sich nicht. Can wirkte wie ein Fremdkörper im deutschen Spiel. Er erfüllte seine defensiven Aufgaben zwar. Allerdings schlich sich nach rund zwanzig Minuten immer wieder Nico Williams in seinen Rücken. Bei Ballbesitz wiederum positionierte sich Can häufig schlecht. Die Deutschen kamen praktisch nicht vorbei an der spanischen Manndeckung.

Nagelsmann hatte nicht nur bei dieser Personalwahl den falschen Riecher. Leroy Sané konnte als Rechtsaußen seine Dribblingstärke nie gewinnbringend einsetzen. Florian Wirtz gelang dies nach seiner Einwechslung deutlich besser. Auch das abgeklärte Positionsspiel eines Maximilian Mittelstädts funktionierte aus meiner Sicht besser als die dynamischen Vorstöße eines David Raum. Nagelsmann musste diese Entscheidungen bereits in der ersten Stunde des Spiels korrigieren. Dadurch konnte Deutschland in der Verlängerung völlig platte Akteure wie Toni Kroos oder Antonio Rüdiger nicht mehr vom Feld nehmen.

Man kann sogar, wie Matthias Dersch es im Kicker getan hat, die beiden deutschen Gegentore auf diese Fehlentscheidungen Nagelsmann zurückzuführen. Andrich „benötigte nach seiner Einwechslung Zeit, um ins Spiel zu finden“, schreibt Dersch. Und: „Um nicht noch mehr zu ändern, ließ er den gelb-vorbelasteten David Raum auf dem Feld. Mit der Folge, dass der Außenverteidiger in der Entstehung der spanischen Führung zu zaghaft gegen Spaniens Wunderkind Lamine Yamal agierte.“ Beim zweiten Tor kann Deutschland die Verlagerung nicht verhindern, da Kroos nach mehreren Krämpfen nicht mehr aus der Abwehr herausrücken kann. Der nicht minder platte Rüdiger steigt bei der Flanke nicht einmal mehr zum Kopfball hoch.

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Dennoch muss man aufpassen, die Partie nicht zu sehr aus der Retrospektive zu verdammen. Hätte Wirtz anstatt Sané begonnen und sich an der noch fitten spanischen Defensive festgebissen, hätte man diese Aufstellung genauso kritisieren können wie einen etwaigen Fehler Mittelstädts. Wirtz oder Sané sowie Mittelstädt oder Raum waren 50:50-Entscheidungen eines Trainers, die immer mal schiefgehen können.

Insofern sticht die Can-Aufstellung für mich heraus. Sie kam vollkommen unvorbereitet. Selbst wenn Andrich in der 7. statt der 52. Minute zu spät gegen Dani Olmo gekommen wäre, hätte niemand gesagt: „Tja, da hätte der Nagelsmann wohl besser Can aufgestellt!“

Die Can-Aufstellung, man muss es so fies sagen, war ein Vereinstrainer-Schachzug. Aus Sicht eines Vereinstrainers war es auch kein schlimmer Fehler: Deutschland war auch in der ersten Halbzeit nicht komplett unterlegen. Nach der Pause korrigierte Nagelsmann seine Aufstellung und die Mannschaft erkämpfte sich ein verdientes Unentschieden. Ein 50:50-Spiel, das in keiner Liga eine Meisterschaft entscheiden würde.

Nationalmannschaftsfußball ist kein Klubfußball. Kleinste Fehlentscheidungen haben in einem K.O.-Spiel größte Wirkungen. Es ist eben kein Zufall, dass Didier Deschamps mit seinen Franzosen nunmehr in vier der vergangenen fünf Turniere das Halbfinale erreicht hat – mit einem Fußball, der langweiliger kaum sein könnte.

Nagelsmann sagte vor dem Turnier, mit einer Nationalmannschaft käme kein Trainer in ein Taktikbuch. Darum gehe es hier nicht. Gegen Spanien hat er seine eigenen Worte nicht genügend beachtet.

Aber: Es war letztlich nur ein kleiner Fehler in einem Turnier, in dem Nagelsmann ansonsten auf wie neben dem Platz sehr viel, wenn nicht sogar alles richtig gemacht hat. Es ist ein Fluch der guten Tat: Wenn man selbst ein so starker Trainer ist wie Nagelsmann, messen Meckerköpfe wie ich ihn an seinen kleinen Fehlern und nicht an den tausend Details, die er richtigmacht.

Ich bin mir aber sicher: Die Heim-EM ist eine Erfahrung, an der er auch als Trainer wachsen wird. Für 2026 bleibt damit nur noch zu hoffen, dass er rechtzeitig seine zentrale Achse findet.

Türkei: Der Fußball kämpfende Anachronismus

Die türkische Mannschaft hat, das muss man neidlos anerkennen, einige der denkwürdigsten Spiele dieser Europameisterschaft abgeliefert. Das ging los mit dem bis zum Schluss spannenden 3:1 gegen Georgien, führte sich im nicht minder spannenden Gruppenfinale gegen Tschechien fort und mündete im wohl spektakulärsten K.O.-Spiel dieser EM gegen Österreich.

Auch das türkische Viertelfinale gegen die Niederlande stand bis zum letzten Pfiff des Schiedsrichters auf der Kippe. Die Türkei warf in der Schlussphase alles nach vorne. Bart Verbruggen musste eine Parade auspacken, wie sie dem türkischen Keeper Mert Günok wenige Tage zuvor gegen Österreich gelungen war. Nur so konnte die Niederlande die Verlängerung verhindern.

Die Türkei ragt aus dem Teilnehmerfeld dieses Viertelfinals heraus. Sie haben mich in jeder Hinsicht an das marokkanische Team bei der WM 2022 erinnert: Individuelle wie taktische Mängel machten sie durch pure Leidenschaft wett. Sie hatten richtig Lust auf das Verteidigen. Sobald sich ein Gegenspieler dem Strafraum näherte, sprangen die Türken ihm entgegen. Gewonnene Tacklings feierten sie wie andere Teams Tore.

Das türkische Spiel hatte eine heilige Ernsthaftigkeit, die dem restlichen europäischen Fußball abgeht. Da wird der Ball nicht routinemäßig von links nach rechts geschoben, wie dies mittlerweile standardisierte Praxis ist. Jede Balleroberung wurde direkt zu Stürmer Baris Alper Yilmaz weitergeleitet, der sich gegen fünf Gegenspieler durchtanken wollte. Jungstar Arda Güler tauchte überall auf dem Platz auf, als wäre er ein Spielmacher aus dem Jahr 1984 und nicht 2024.

Ins Viertelfinale kam die Türkei aufgrund einiger cleverer taktischer Anpassungen von Trainer Vincenzo Mortella und aufgrund der besten Standard-Bilanz aller EM-Teilnehmer. Vor allem aber erkämpften sie sich die Teilnahme an diesem K.O.-Spiel.

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Der türkischen Mannschaft fehlte jedweder Zynismus, der gerade den internationalen Fußball dieser Tage dominiert. Nach knapp einer Stunde stürmte ein einsamer Yilmaz nach vorne. Jeder andere Stürmer hätte den Rückpass gespielt oder – noch besser – das Foul gezogen, anstatt ernsthaft zu versuchen, das Solo des Jahrhunderts zu starten. Wenige Minuten später bekamen die Türken einen Freistoß im Mittelfeld zugesprochen. Jeder andere EM-Teilnehmer hätte den Ball in die Hand genommen und von Spieler zu Spieler weitergereicht, bis mindestens eine Minute von der Uhr gelaufen wäre. Die Türken führten den Freistoß sofort aus und jagten die Kugel nach vorne. Keine fünf Sekunden später war der Ball wieder in den niederländischen Reihen.

Es ist wie so oft im Leben: Die große Stärke der Türken – ihre bedingungslose Hingabe – war zugleich ihre größte Schwäche. Nach der Halbzeitpause lief die Partie nur noch in eine Richtung. Die Niederländer hatten mit Wout Weghorst einen klassischen Strafraumstürmer eingewechselt. Sie hatten sich vorgenommen, ihn mit hohen Hereingaben zu füttern.

Die Türken ließen sich hinten reindrängen. Schon gegen Österreich hingen sie nach spätestens 70 Minuten in den Seilen. Gegen die Niederlande geschah dies bereits nach einer Stunde. Sich die Kräfte einzuteilen, gehört nicht zu den Stärken einer Mannschaft, die sich in jeden Zweikampf wirft. Wenn man dann auch noch die wenigen Ballbesitz-Momente wegwirft, weil man einen Freistoß im Mittelfeld direkt ausführt, braucht man sich nicht beschweren, wenn die zwanzigste Flanke des Gegners im Tor landet.

Allein mit Leidenschaft kann man keine Europameisterschaft gewinnen. Das ist spätestens nach dem türkischen Aus klar. Aus sportlicher Sicht haben sie die EM trotzdem bereichert. Mit ihrer Leidenschaft haben sie der Europameisterschaft einen Farbstempel aufgedrückt, der sich vom ewiggleichen Positionsspiel-Manndeckung-Grau abhebt.


Kurze Beobachtungen

  • Nach der ersten Halbzeit im Spiel England gegen Schweiz war ich versucht zu sagen: „Mensch, die Engländer können es ja doch!“ Die Raumaufteilung im neu formierten 3-4-3 griff wesentlich besser als im bislang praktizierten 4-2-3-1. Sie sicherten eigene Angriffe gut ab und kamen sogar zu Chancen. Das „neue England“ hielt gerade einmal 45 Minuten. Als die Schweizer nach der Pause auf mehr Raumdeckung umstellten, zogen sie den Engländern den Zahn. Es folgten 75 uninspirierte, leidenschaftsarme, systemlose Minuten. Irgendwie retteten sich die Engländer ins Elfmeterschießen. Das ist ja mittlerweile ein Heimspiel für sie. Drei der vier gewonnenen Elferschießen der englischen Fußballgeschichte fallen in die Ära Southgate. England beweist, dass man bei dieser EM nicht gut spielen muss, um ins Halbfinale zu gelangen.
  • Apropos Elfmeterschießen: Was einst England war, ist heute die Schweiz. Siebenmal mussten die Schweizer in diesem Jahrtausend zum Elfmeterschießen antreten. Sechsmal haben sie verloren. Besonders Leid tut es mir für Manuel Akanji. Er hat schon 2021 im EM-Viertelfinale gegen Spanien seinen Elfmeter verschossen. 2024 war er erneut der Pechvogel. Dabei spielte er eine starke Europameisterschaft. Als Innenverteidiger steht er auf meiner Shortlist für die Mannschaft des Turniers.
  • Apropos Mannschaft des Turniers: Mein Kopf verknotet sich dieser Tage, da zwei meiner persönlichen Entdeckungen des Turniers auf derselben Position spielen. Ferdi Kadioglu ist die personifizierte Leidenschaft auf Seiten der Türkei und der wohl beste Defensivzweikämpfer des Turniers. Michel Aebischer ist ein Tausendsassa, der von der linken Seite aus das gesamte Feld beackert. Mich beeindruckt vor allem seine Fähigkeit, Räume zu erkennen und auch unorthodoxe Laufwege zu wählen. Blöderweise spielen Kadioglu und Aebischer beide auf der Linksverteidiger-Position – und dann gibt es ja auch noch Marc Cucurella. Mal sehen, wie ich das Dilemma löse.

Das Titelbild stammt von Raimond Spekking, Lizenz: CC BY-SA 4.0.

13 thoughts on “EM-Tagebuch, Tag 24: Die zentrale Achse

  1. Großartig deine Analysen. Bei Deutschland fehlen mir zur Wahrheit die vergebenen Chancen von Havertz oder Füllkrug. Im ko Spiel ist das tödlich.

  2. Hallo Tobias,

    mich würde interessieren welches die anderen beiden Ausnahmen in Hinsicht auf IV und ZM waren. Ansonsten nochmals herzlichen Dank für die bisherigen Analysen.

    Danke
    Klaus

  3. Um bei der Linksverteidigerposition allen gerecht zu werden, muss man wahrscheinlich zwei Mannschaften des Turniers aufstellen. Eine mit Fünferkette, eine mit Viererkette, die Aufgaben sind da schon klar unterschiedlich. In der Viererkettenmannschaft führt dann aber an Cucurella kein Weg vorbei. In der gerne etwas unterschätzten Disziplin Konterabsicherung ist er allen anderen Spielern im Turnier klar überlegen.

  4. Zur Wahrheit der Leistung der Türkei gehört allerdings auch, dass sie gestern bis zur Schlussoffensive bei 0,06 xG aus dem Spiel standen.
    Das ist natürlich angesichts ihrer Möglichkeiten völlig okay, aber zeigt auch den klaren Fokus in den KO Spielen.

  5. Interessant auch, dass alle Mannschaften, die rausgeflogen sind im Viertelfinale, einen höheren xG-Wert hatten als ihre jeweiligen Gegner.

  6. Lieber Tobi, vielen Dank jetzt schon für deine Analysen. Mich würde noch eine Einschätzung aus der Abteilung „Klugscheissen“ im Nachinein interessieren:
    Wie kann man die Einwechslung von Müller in der 80 Min. erklären? Nur die Hoffnung das er einen „reinmüllert“? Wäre nicht Undav oder Führich in puncto Tempo und Torgefahr die sinnvollere Optionen gewesen? Genau für diese Situationen (für welche sonst?) waren sie doch im Kader.

  7. Sehr schöne Analysen. Vielen Dank dafür.
    Habe nach Schlusspfiff der Deutschen direkt ausgeschaltet und deswegen nicht mehr das Interview mit JN gesehen. Und damit auch nicht, ob und was er zum Halbzeitwechsel Can -> Andrich gesagt hat.
    Meine Vermutung zur Halbzeit war, dass dies Konditionell begründet sein könnte.
    JN hat vor dem Speiel gesagt, dass diese Rolle extrem Laufintensiv ist und eigentlich fast nicht zu schaffen ist. Könnte es sein, dass er dies bewusst auf 2 Spieler aufteilen wollte?

  8. „Man kann alle Europameister und Weltmeister durchgehen, seit es bei bei Turnieren längere K.O.-Phasen gibt. Bei 17 von 22 der von mir überprüften Welt- und Europameister standen in sämtlichen K.O.-Spielen in der Innenverteidigung und im zentralen Mittelfeld dieselben Spieler auf dem Rasen.“

    Das riecht mir jetzt aber doch stark nach Survivorship Bias. Waren Welt- und Europameister nicht ohnehin meistens (Mit-)Favoriten? Müsste man sich für eine fundierte Aussage nicht alle KO-Duelle betrachten und jeweils sowohl die Änderung der Zentrumsbesetzung bewerten und gewichten als auch die Aufstiegsquoten vor dem Spiel berücksichtigen?

  9. Tobi, vielen Dank für deine interessanten Beiträge zu dieser EM!

    Ich bewerte Can vs. Andrich auch so, wie du es hier tust, aber finde diese Wahl für sich sowie das Verändern der zentralen Achse trotzdem weniger entscheidend als die Grundgedanken dahinter. Es ging nicht nur um Tempovorteile im Vergleich mit Ruiz – die Personalwahl auf allen (drei fraglichen) Positionen haben denselben Hintergrund. Für die Startelf ausgewählt wurde jeweils der schnellere/dynamischere gegenüber dem kombinativ stärkeren Spieler. Geführt hat dies zu einer extremen Spielanlage, die in den Analysen überraschend wenig thematisiert wurde, so weit ich das überblicke.

    Nagelsmann hat für diese Spiels einen klaren Umschaltfokus gewählt. Man hat fast über den ganzen Platz Manndeckung gespielt, um Spanien keinen ruhigen Ballbesitz zu geben und aus Umschaltsituationen zu Chancen zu kommen. Gründe dafür gabs wohl mehrere und einige gute. Zum Beispiel die Tempodefizite der spanischen (Innen-)Vertediger als deren grösste Schwäche, die nicht vorhandene Tiefe im deutschen Angriff in vorherigen Partien oder der Wunsch, nicht im tiefen Block verteidigen zu müssen (was ja davor auch weder im 4-4-2 noch 5-3-2 besonders gut geklappt hatte).
    Defensiv ist es gerade noch aufgegangen bis zur Pause, aber herausgekommen ist eine am Ball sehr ungeduldige und unpräzise Leistung. Es hat spielerische Qualität gefehlt, um das (Gegen-)Pressing zu umspielen (Raum, Can) und generell die Ruhe und das Vertrauen am Ball, weil anscheinend bei jeder Gelegenheit möglichst vertikal gespielt werden sollte. Im Rückstand mit den kombinativ stärkeren Spielern auf dem Platz lief dann einiges besser.

    Inwieweit ein kombinativer Ansatz zu Spielbeginn besser funktioniert hätte, ist natürlich kaum zu beurteilen. Insofern will ich das oben auch nicht als Kritik am Matchplan anmerken. Hätte auch sehr blöde ausgehen können, wenn man im tiefen Verteidigen ein Tor gekriegt hätte und dann eben nicht diese spielerischen Optionen von der Bank gehabt hätte…
    Um das Ganze auf die strategische Ebene zu tragen, finde ich es aber sehr bemerkenswert, wie weit der Matchplan von der ursprünglichen Spielidee bzw. der DNA dieses Teams entfernt war. Vor der EM bzw. anfangs waren die Schlagworte ja eher Wusiala, Pärchenbildung, „Leverkusener/Stuttgarter Schule“, usw. Jetzt stand zum Beispiel mit Tah plötzlich nur noch ein (wenig einflussreicher) Spieler dieser beiden Teams in der Startelf, das Spiel gegen den Ball schien mehr Gewicht zu haben als der Ballbesitz und die konkrete Ausgestaltung (Mannorientierungen) sind weder tägliches Brot dieser Spieler in ihren Klubs noch hat man jemals zusammen so gespielt.

    Es ist extrem faszinierend, wie mini Eindrücke aus einem Spiel (z.B. zu wenig Tiefe) sowie Entwicklungen im Turnierverlauf und all die 50:50-Entscheidungen zwischen verschiedenen Spielertypen, Kontinuität oder Veränderung bzw. taktische Gegneranpassung oder eigene Identität verfolgen im Nationalteam den Trainer fordern.
    Nagelsmann hat extrem wertvolle Arbeit geleistet und sehr viele schwierige Entscheidungen richtig getroffen, um das Team überhaupt auf ein bestimmtes Level zu bringen. Und man war praktisch ebenbürtig mit dem wohl besten Team des Turniers. Trotzdem bleibt das Gefühl, dass die Möglichkeiten dieses Teams nicht ganz ausgeschöpft wurden und auf Dauer ein wenig Substanz fehlte entweder in der grundsätzlichen Spielidee (auch gegen den Ball, tiefes Verteidigen, etc.) bzw. bei den improvisierten Lösungen (5-3-2, Mannorientierungen, Tempospieler, etc.)

  10. Tolle Analyse Tobi. Vielen Dank!!!
    Deine Einschätzung aus der Katagorie „Im Nachhinein Klugscheissen und ist sicher auch egal gewesen“: Warum in Gottes Namen wurde Müller eingewechselt? Damit er einen „reinmüllert“. Alle drei Alternativen (Beier, Führich und Undav) hätten dem Spiel insbesondere in der Verlängerung doch mehr geholfen. Müller ist, wenn ich mich richtig erinnere, zweimal im 1:1 Laufduell aufs Tor ganz einfach abgelaufen worden.

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