Am Tag vor dem „vorgezogenen EM-Finale“ gibt es auch ein „vorgezogenes Finale“ für das Tagebuch. Knapp 2000 Wörter Vorschau gibt es auf die Partie Deutschland gegen Spanien. Wer geht als Favorit in das Duell? Wie kann die deutsche Elf Spanien schlagen? Gibt es tatsächlich Schwachstellen, welche die deutsche Mannschaft ausnutzen kann?
Der Favorit heißt Spanien
Eines der sinnlosesten sportjournalistischen Genres ist der „Head to Head Vergleich“. Dabei stellen Sportreporter die Spieler beider Mannschaften gegenüber. Welches Team hat den besseren Torhüter, wer den besseren Stürmer? Was kommt heraus, wenn Linksverteidiger auf Linksverteidiger trifft? Wer am Ende mehr der elf Duelle gewinnt, geht als Favorit ins Spiel.
Deutschland scheidet im „Head to Head Vergleich“ gar nicht so schlecht ab gegen Spanien. Vor dem Namen Manuel Neuer haben die Gegner mehr Respekt als vor Unai Simon. Toni Kroos und Rodri verkörpern beide Weltklasse. Jamal Musiala muss sich nicht vor Pedri verstecken, Kai Havertz hat bei dieser EM häufiger getroffen als Álvaro Morata. Wovor soll sich die deutsche Elf also fürchten?
Das ganze Unterfangen ist deshalb sinnlos, weil Fußball ein Team- und kein Individualsport ist. Es werden nicht die Ergebnisse der einzelnen Individualisten zusammengerechnet und am Ende daraus ein Ergebnis ermittelt. Die Fußballer müssen zusammenspielen, sich ergänzen, eine Einheit bilden. Wieder und wieder geht es in diesem Blog darum, dass gute Nationalmannschaften manchmal auf Stars verzichten sollten, um eine möglichst kohärente Mannschaft aufzustellen.
Die Rechnung ist für mich daher simpel: Spanien geht als Favorit in das Viertelfinale, weil sie die bessere Mannschaft stellen – mit Betonung auf Mannschaft.
Trainer Luis de la Fuente hat die spanische Mannschaft in den vergangenen zwei Jahren weiterentwickelt. Sie beherrscht noch immer das klassische Positionsspiel der Barca-Schule. Die Spieler halten im 4-3-3 mustergültig ihre Positionen, die Passwinkel untereinander sind stets derart vorbildhaft, dass man den Screenshot praktisch jeder Aufbau-Szene in ein Lehrbuch kleben könnte.
Die Spanier kennen mittlerweile jedoch auch andere Wege, ein Spiel zu dominieren. Ihre Flügelzange kann sich selbst an drei Gegenspielern problemlos vorbeischummeln. Die Achter gehen wesentlich häufiger in den Strafraum und sorgen somit für Torgefahr. Und falls gar nichts hilft, packt Sechser Rodri einfach einen Fernschuss aus.
Spanien hat gegenüber Deutschland zwei konkrete Vorteile. Erstens: Sie sind das deutlich eingespieltere Team. Vor einem Jahr gewann Spanien die Nations League. Zwar starteten damals nur sechs der elf Akteure, die wahrscheinlich gegen Deutschland in der Startelf stehen werden. Diese sechs Spieler bilden jedoch die gesamte zentrale Achse, angefangen bei Torhüter Simon und dem Innenverteidiger-Pärchen Le Normand und Laporte über die Dopplsechs Rodri-Ruiz bis hin zu Stürmer Alvaro Morata.
In derselben Woche, in der Spanien das Nations-League-Finale nach Elfmeterschießen gewann, hat die deutsche Elf 0:2 gegen Kolumbien verloren. Deutschland begann in einer Dreierkette. Antonio Rüdiger, Ilkay Gündogan, Jamal Musiala und Kai Havertz standen zwar auf dem Platz – allerdings in gänzlich anderen Rollen als heute. Kein Wunder: Vor zwölf Monaten hieß der Bundestrainer noch Hansi Flick. Man vergisst angesichts der guten deutschen Leistungen bei dieser WM, dass das aktuelle Gebilde noch nicht einmal zehn Spiele zusammen bestritten hat.
Zweitens: Dass die Spanier ihre Rollen derart gut kennen, hat viel mit der Jugendausbildung zu tun. Das 4-3-3 im Ballbesitz inklusive des Barca-mäßigen Positionsspiels bekommen die Spieler ab der U16 eingebläut. Egal, wie die spanischen Kicker in ihren Vereinen spielen: Sobald sie das rote Trikot überstreifen, wissen sie, welche Aufgaben sie zu erfüllen haben.
Deutschland kennt eine solche Philosophie nicht. Die Nachwuchsarbeit hat in den vergangenen Jahren stark auf individuelle Klasse sowie auf taktische Vielfalt gesetzt. Der Weg war kein falscher. Dass Nagelsmann binnen kürzester Zeit eine schlagkräftige Mannschaft formen konnte, verrät viel über die Klasse und Anpassungsfähigkeit der Spieler. Am Ende – so zumindest meine Erfahrung – setzt sich meistens Eingespieltheit und Routine durch. Einfach mal in Madrid nachfragen.
Das alles bedeutet nicht, dass die deutsche Nationalmannschaft das Spiel verlieren wird. Keineswegs. Es soll nur etwas in Relation setzen, auf was für einen Gegner die deutsche Elf trifft. Einen schwereren Viertelfinal-Gegner hätte die deutsche Elf kaum erwischen können.
Der Ball ist unser Freund
Ich habe einen klassischen Autorentrick angewendet. Im ersten Teil des Tagebuch-Eintrags habe ich miese Stimmung verbreitet. Nun kann ich am Tiefpunkt ansetzen und Hoffnung schüren. Denn es gibt aus deutscher Sicht gute Gründe, optimistisch zu sein.
Die Taktikvorschauen auf das Spiel stürzen sich vor allem auf einen Punkt: Spaniens Restverteidigung. Georgien hat bewiesen, dass die Spanier durchaus anfällig sind im Konter. Die Georgier entblößten vor allem die aggressive Rolle der Außenverteidiger. Diese sollen helfen, im Zentrum abzusichern, wenn die Achter im Pressing nach vorne rücken. Das schafft wiederum Lücken auf den Flügeln. Überhaupt schiebt die gesamte spanische Elf meist kompakt auf eine Seite, sodass sich automatisch Räume auf der ballfernen Seite ergeben.
Deutschland könnte diese Lücken im Konter provozieren und dann ansteuern. Beispielsweise könnte die deutsche Elf sofort den Weg über den rechten Flügel in Richtung Kimmich suchen – nur um im Anschluss die Verlagerung auf die andere Seite zu spielen. Hier stehen die Spanier teils katastrophal offen.
Auf dem Papier sind das schöne Gedankenspiele. Deutschland lässt Spanien kommen, spielt ein paar präzise Pässe auf die Flügel und kontert sich zu einem ungefährdeten 3:0-Sieg. Halbfinale, wir kommen!
Ich persönlich halte diese Strategie für riskant. Vor allem glaube ich, dass Julian Nagelsmann sie nicht eingehen wird. Schnelle Konter zu spielen, würde nämlich vor allem eins bedeuten: schnelle Ballverluste. Denn sind wir ehrlich: Deutschland wird nicht jeden Konter zu Ende spielen können. Wenn wir aber zu stark auf Konter spielen, wird Spanien automatisch mehr Ballbesitz sammeln als wir.
Und wenn Deutschland eins nicht möchte, dann ein Spiel, in dem sie weniger Ballbesitz haben als der Gegner.
Es ist kein Geheimnis, dass sich die deutsche Mannschaft im tiefen Verteidigen nicht wohlfühlt. Dafür braucht es keine tiefgreifende Taktikanalyse. Man muss nur die Namen des deutschen Mittelfelds vorlesen: Toni Kroos, Robert Andrich, Jamal Musiala, Ilkay Gündogan und Florian Wirtz bzw. Leroy Sané. Eineinhalb dieser Spieler traue ich zu, Rodri, Pedri oder Ruiz vom Ball zu trennen. Andrich könnte jedoch gegen die breit agierenden Spanier als dritter Innenverteidiger aushelfen müssen, und Gündogan hat als höchster deutscher Spieler die Aufgabe, das Pressing zu koordinieren.
Ich sage es so deutlich, wie ich es persönlich glaube: Je häufiger Kroos, Musiala, Wirtz und Sané aus einem Mittelfeld- oder Abwehpressing die gegnerischen Achter anlaufen müssen, umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit eines deutschen Siegs. Eine Abwehrschlacht gegen Spanien werden wir nicht gewinnen.
Der Weg zum Sieg wird ein anderer sein – und ich bin mir relativ sicher, dass (der ohnehin eher offensiv denkende) Nagelsmann diesen Weg gehen wird. Dieser Weg sieht vor, dass Deutschland mehr Ballbesitz hat als der Gegner. Das würde bedeuten, dass nicht bei jedem Angriff sofort die Lücke auf den gegnerischen Flügeln gesucht wird. Stattdessen müsste Deutschland gegen das aggressive Pressing der Spanier den Ball halten, um im Anschluss in die Räume hinter den Achtern zu gelangen.
Kroatien hat vorgemacht, wie dies funktionieren kann. Dieser Satz mag auf den ersten Blick seltsam klingen, immerhin hat Kroatien gegen Spanien 0:3 verloren. Allerdings haben sie dabei über zwei Expected Goals erspielt. Spanien hat die Partie vor allem aufgrund der höheren Effizienz gewonnen.
Was hat Kroatien also gemacht? Sie haben aus einer sehr tiefen Grundstellung den Ball zirkulieren lassen. Die Außenverteidiger hielten sich zurück, auch die Achter kamen immer wieder entgegen, um den Ball zu erhalten. Spanien reagierte darauf zunächst mit einem furiosen Pressing. Dabei öffneten sich jedoch immer wieder Räume hinter den Achtern. Kroatien steuerte diese an und verlagerte das Spiel erst anschließend auf die Flügel.
Für die deutsche Mannschaft spricht, dass sie erstmals im Turnierverlauf auf einen Gegner trifft, der mit einer Viererkette verteidigt. Grundsätzlich sollte der deutschen Elf das Knacken einer Viererkette leichter fallen, als eine Fünferkette zu beschäftigen. Deutschland verfügt über viel Breite, aber auch eine hohe Zwischenlinienpräsenz. Gegnerische Verteidiger können aus der Abwehr nicht herausrücken, um den Zwischenlinienraum zu schließen. Wenn sie es doch tun, öffnen sich automatisch die Flügel. Eine Win-Win-Situation für das deutsche Team.
Die Strategie, flach hinten herauszuspielen, ist vor allem aus einem Grund riskant: Deutschland hat zuletzt nicht gerade souverän ausgesehen, wenn sie vom Gegner früh angelaufen wurden. Die Schweiz hat vorgemacht, wie man Deutschland mit einem simplen Mann-gegen-Mann-Pressing mattsetzen kann. Die deutsche Elf wird sich in diesem Punkt schlicht steigern müssen. Wenn sie zu häufig den Ball verlieren oder zu früh anfangen, die Kugel planlos Richtung Flügel zu bolzen, wird Spanien mehr Ballbesitz sammeln. Und wenn Spanien mehr Ballbesitz sammelt, werden sie das Spiel gewinnen.
Kleine Faktoren
Gerade K.O.-Spiele werden selten von diesen großen strategischen oder taktischen Fragen entscheiden. Häufig sind es kleine Details, die den Unterschied machen.
Ein Faktor spricht für Deutschland: die Geschwindigkeit. Im Angriff verfügt die deutsche Elf über jede Menge schneller Spieler. Havertz, Musiala und Wirtz bzw. Sané werden ständig die Tiefe attackieren. Gegen Carvajal haben sie ein klares Geschwindigkeitsplus, und auf den ersten Metern sind sie auch schneller als die gegnerischen Innenverteidiger. Punkt für Deutschland.
Spanien hat dafür in einer anderen Kategorie einen klaren Vorteil – und zwar bei Standardsituationen. Zwei Treffer gelangen ihnen bei diesem Turnier nach ruhenden Bällen. Fast jeder ihrer Standards fliegt gefährlich in den Strafraum. Neben Stürmer Morata können auch die Innenverteidiger oder Rodri mit ihrer Kopfballstärke punkten. Dani Carvajal hat zudem jüngst nach einer Ecke das Champions-League-Finale entscheiden. Die deutschen Standards gefallen mir hingegen bisher überhaupt nicht. Die Varianten sind häufig zu verkopft, zu verspielt oder zu ungenau.
Zu jeder Spielvorschau gehört auch ein gehöriger Blick in die Glaskugel. Welche Faktoren die Partie entscheiden, wie beide Trainer aufstellen, wer am Ende des Spielglück hat – das entscheidet sich alles heute Abend. Nur eins scheint sicher: Wir dürfen uns auf ein tolles Spiel freuen.
Kurze Beobachtungen
- Vielerorts wird das Duell zwischen Deutschland und Spanien als „vorgezogenes Finale“ bezeichnet. Auch ich habe mir diese Formulierung zueigen gemacht. Diese Auszeichnung haben sich beide Teams im Turnierverlauf verdient. Dennoch werde ich das Bauchgefühl nicht los, dass im ersten Viertelfinale nur das Team ermittelt wird, das am kommenden Dienstag an totaldefensiven Franzosen verzweifelt. Die vergangenen Europameisterschaften haben mich in diesem Punkt zum Zyniker werden lassen: Am Ende triumphierte meist die Nation mit der höheren defensiven Stabilität. Und da kann sich aktuell kein Team mit den Franzosen messen.
- Erst einmal muss Frankreich aber die Hürde Portugal überspringen. Leicht wird das nicht. Social Media stürzt sich selbstredend auf das Duell Cristiano Ronaldo gegen Kylian Mbappe, der alte gegen den neuen König. Bislang hat keiner der Beiden dem Turnier seinen Stempel aufgedrückt. Das Spiel dürfte eher im Mittelfeld entschieden werden. Portugals offensiv auftretendes Mittelfeld trifft auf die zweikampfstarken Franzosen. Ich sehe hier leichte Vorteile für Frankreich, zumal ich noch Zweifel habe an der portugiesischen Konterabsicherung. Andererseits: Trainer Roberto Martinez hat in der Vergangenheit in wichtigen Partien stets überraschende taktische Varianten herausgeholt, etwa im Viertelfinale 2018 gegen Brasilien.
- Ich selbst werde beide Spiele heute nicht live verfolgen können. Ich habe Konzerttickets für Bruce Springsteen. Ich formuliere mal so: Die Chance, dass ich noch einmal ein deutsches Viertelfinale bei einer EM erleben werde, ist höher als die, dass mein 74 Jahre alter Lieblingskünstler noch einmal nach Norddeutschland zurückkehrt. Und das ist ja letzten Endes der Vorteil des Freiberuflers: Ich kann einfach die beiden Spiele im Anschluss sehen und die Nacht durchmachen. Damit wünsche ich uns allen einen tollen Abend.
- Zum Schluss gibt es noch eine Meldung in eigener Sache: Morgen wird es aller Voraussicht nach keinen Eintrag ins Tagebuch geben. Ich schaue, dass ich am Sonntag nach den Viertelfinals einen extralangen Post aufsetze.
Das Titelbild zeigt Bundestrainer Julian Nagelsmann und stammt von Steffen Prößdorf, Lizenz: CC BY-SA 4.0.
Viel Spaß beim Konzert! Vllt. gibt der Boss ja sogar die Spielstände durch.
Bruce. Tobi zeigt Gefühle. Das ist nicht mehr mein Laptoptrainer.
Lesenswert wie immer, schlüssige Prioritätenordnung. Viel Spaß beim Konzert!
Viel Spaß beim Boss
Der Vorteil des Freiberuflers – und der modernen Technik. Viel Spaß auf dem Konzert!
(Doofe Frage: Wo finde ich die Kollegen, deren Schwerpunkt Niederlande ist? Es gab früher auf SV den ein oder andern Autor, aber das ist schon ein paar Jährchen her…
Danke sehr)