Eschers EM-Tagebuch, Tag 17: Portugal braucht eine offensivere Taktik

Herzlich Willkommen zu meinem EM-Tagebuch! Diesmal steht das Tagebuch ganz im Zeichen der iberischen Halbinsel. Ich schaue mir die aus meiner Sicht zu defensive Spielweise der Portugiesen an. Außerdem singe ich ein kleines Loblied auf die Spanier vor ihrem Spiel gegen Kroatien (, weshalb die Partie für Spanien nur schiefgehen kann). In den Beobachtungen geht es (mal wieder) um Corona und um das Ausscheiden der Niederländer.

Diese portugiesische Generation verdient etwas Besseres

Ich denke, wir hatten uns alle etwas mehr erhofft vom Spiel Belgien gegen Portugal. Kevin de Bruyne, Eden Hazard und Romelu Lukaku auf der einen, Cristiano Ronaldo, Bernardo Silva und Raphael Guerreiro auf der anderen Seite: Das versprach Flair, Klasse, Spektakel. Es blieben nur Versprechungen. Die erste Halbzeit plätscherte vor sich hin, die zweite Halbzeit bot mehr Rudelbildungen als gelungene Kombinationen. Ein Fußballturnier ist eben eine ernste Sache, kein Wunschkonzert für Fußballliebhaber.

Dennoch hat man das Gefühl, dass die defensive Ausrichtung beiden Teams nicht gutgetan hat. Vor allem den Portugiesen nicht. Ihnen gelang es selten bis nie, die technische Klasse ihrer Einzelkönner abzurufen. Fast schon klischeehaft wirkten die Versuche von Ronaldo, Joao Felix und Renato Sanches, über Fernschüsse das Spiel zu drehen. Der Star ist der Star, nicht die Mannschaft.

Portugal ist ein Opfer des eigenen Erfolgs. Nach 2016 sah sich Fernando Santos bestätigt, dass sein Weg der Stabilität das erfolgversprechende Mittel darstellt. Santos reiht sich damit ein in eine Generation portugiesischer Trainer, die das Verteidigen und das Konterspiel als heiligen Gral des Fußballs sieht. Jose Mourinho ragt aus dieser Generation heraus, aber auch Nuno Espírito Santos und (in Teilaspekten) Andres Vila-Boas sowie Paulo Fonseca gehören dieser Denkschule an.

Nun haben die Portugiesen eine Spielergeneration ausgebildet, die nicht mehr so recht passen will zu den Ideen der alten Trainergeneration. Längst bedienen sich die großen europäischen Ballbesitz-Klubs am portugiesischen Talente-Pool. Gleich drei Spieler von Manchester City hätten im Kader Portugals gestanden, wäre Cancelo nicht wegen einer Corona-Infektion ausgefallen.

Elemente des Fußballs von City-Coach Guardiola sah man bei Portugal aber kaum. Auch Raphael Guerreiro oder Diogo Jota durften nicht so offensiv auftreten, wie sie es aus ihren Vereinen gewohnt sind. Wunderkind Joao Felix saß sogar über weite Strecken des Turniers auf der Bank. (Zugegeben: Er war verletzt angereist.) Stattdessen war es die alte portugiesische Masche: Stabil stehen, nicht zu weit vorrücken, nicht zu viele offensiv ausgerichtete Spieler gleichzeitig aufstellen, und wenn gar nichts geht, treten sie den Gegner eben aus dem Rhythmus.

Die Ironie des Ganzen: Santos mag sich nach 2016 einreden, dieser Stil führe zu Erfolg. Das ist aber Augenwischerei. 2016 hat sein Team genau ein Spiel gewonnen und einen Punkteschnitt von 1,29 erzielt. Portugal hat sämtliches Glück zusammengeklaubt, um Ronaldo seinen internationalen Titel zu schenken. Wiederholen lässt sich solch ein Erfolg nur schwerlich.

Die spannende Frage für die kommenden Jahre dürfte lauten, ob es Portugal gelingt, die Spielidee wieder den Stärken der Spieler anzupassen. Diese Mannschaft muss offensiv, kreativ, lebensfroh auftreten. Der zynische Stil eines Pepe will nicht so recht passen zu den Offensivkünstlern dieses Teams.

Es ist Zeit für einen Wandel. Und ja, die alte Garde hat mit 2016 ihren Titel bereits im Rücken. Doch Ruben Dias, Felix Jaoa, Bruno Fernandes, Bernardo Silva, Diogo Jota, Andre Silva: Sie alle waren 2016 nicht dabei. Sie alle brauchen einen Trainer, der ihre Stärken erkennt und einzusetzen weiß.

Zumal es nicht so ist, dass es keine jungen, aufstrebenden Trainer in Portugal gäbe. Sportings Rúben Amorim, 36, hat mit einem offensiv ausgerichteten 3-4-3-System gerade den Meistertitel geholt. Porto ist in den Händen des 46 Jahre alten Sérgio Conceição, und auch Benficas Coach Jorge Jesus, 66, ist trotz seines hohen Alters kein Vertreter der Mourinho-Generation. Jetzt müssten die Portugiesen diesen Stil nur in die Nationalmannschaft übertragen.

Wie wichtig das wäre, zeigt das Beispiel ihres Achtelfinal-Gegners. Belgien hat die erste Hälfte dieses Jahrzehnts verschwendet. Die vermeintlich goldene Generation wäre bereits 2014 oder 2016 stark genug gewesen, um Titel mitzuspielen. Trainer Marc Wilmots hielt sie mit seiner konservativen und lahmen Spielweise zurück. Nun sind viele Belgier über den Zenit, gerade in der Defensive fehlt das Tempo. 2021 müssen sie den Erfolg irgendwie erzwingen, ansonsten verschwindet das „goldene“ vor der Generation.

Die wenig inspirierende Leistung gegen Portugal schürt wenig Hoffnung, dass die Belgier mit Italien, Spanien oder Frankreich mithalten können. Es muss ein Mahnmal sein für dieses talentierte portugiesische Team.

Befreit die K.O.-Runde Spanien von taktischen Fesseln?

Spanien hat in der Gruppenphase viele Menschen enttäuscht. 0:0 gegen Schweden, 1:1 gegen Polen, nur Rang zwei in einer vermeintlich leichten Gruppe: Vom Favoritenstatus sind die Spanier derzeit weit entfernt. Dass sie als Favorit ins Achtelfinale gegen Kroatien gehen, dürfte hauptsächlich an der noch schwächeren Gruppenphase der Kroaten liegen.

Ich mahne, die Spanier nicht zu unterschätzen. Tim Rieke beschrieb im Spielverlagerung EM-Heft treffend, weshalb die Spanier eine unpassende Gruppe erwischt haben. Den Gruppengegnern gelang es, Spanien die Dynamik im Angriffsdrittel zu nehmen. Die „Gefahr zu vieler Unentschieden“, die er vorhersagte, traf ein.

Ob auch der zweite Teil von Tims Prognose eintrifft? „In einer möglichen K.O.-Phase gegen andere Top-Nationen werden Mittelfeldkontrolle, Ballsicherheit und Gesamtstabilität für Spanien… zum Tragen kommen.“ Hauptgründe dafür seien Spieler wie Pedri oder Olmo, die Spanien in engen Räumen und dynamischen Situationen einen Vorteil verschaffen.

Grundsätzlich ist diese spanische Mannschaft dynamischer ausgerichtet als in den vergangenen Turnieren. Ich würde Ferran Torres, Morata und vor allem Koke zu den Spielertypen hinzuzählen, die für Schnellangriffe ideal geeignet sind. In der Vorrunde verloren sie sich etwas im eigenen Ballbesitzspiel. Das lag in erster Linie an den Gegnern. Vielleicht glaubten sie aber auch, als spanische Mannschaft müsse man so gegen unterlegene Gegner auftreten.

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Doch bereits gegen die Slowakei spielten sie ungleich dynamischer. Das dürfte sicherlich auch am ungemein offensiven Dreiersturm gelegen haben. Gegen Kroatien könnten sie hier etwas auf die Bremse drücken. Olmo dürfte für einen Einsatz gegen seine zweite Heimat Kroatien brennen.

Zudem könnten die Spanier jetzt endlich ihre Stärken im Spiel gegen den Ball zeigen. Sie verfügen über ein enorm gutes Angriffs- bzw hohes Mittelfeldpressing. Fragen Sie mal die deutsche Mannschaft. Die Spanier werden Pässe zu Modric und Kovacic bereits im Keim ersticken.

Einziger Fallstrick könnte eine zu defensiv eingestellte kroatische Mannschaft sein. Wenn diese äußerst tiefstehen und jede Dynamik erwürgen, könnte ein zähes Geduldsspiel entstehen. Die Frage ist, ob die Kroaten ein defensives 4-4-2 mit derselben Intensität und defensiven Präzision ausführen können wie die Schweden. Zumal mit Ivan Perisic der beste Konterspieler für dieses System fehlt.

Ich habe die Spanier nicht abgeschrieben. Ich halte an meinem Tipp fest, den ich bereits vor der Euro abgegeben habe: Die Spanier gelangen ins Halbfinale.

Kurze Beobachtungen

  • Die Niederlande ist raus. Hauptschuld trägt sicherlich Matthijs de Ligt. Dessen Handspiel kennt man eigentlich sonst eher von den Lokalsportplätzen dieser Welt, wo kein Dutzend Kameras jedes Vergehen filmt. Bemerkenswert war aber auch, wie schlecht die Holländer in der ersten Halbzeit die Manndeckung der Tschechen bespielten. Man müsste meinen, dass eine Nation der Manndecker Lösungen findet, wenn der Gegner auf dem ganzen Feld Eins-gegen-Eins-Situationen herstellt. Dribblings? Gegner herausziehen und Lücken besetzen? Fehlanzeige. Dafür warfen sich die Holländer böse Blicke zu und lamentierten viel herum, ehe de Ligt die Niederlage mit seiner Roten Karte besiegelte. Ohne Holland fahr’n wir nach London.
  • Nach London fahren wir ja auch nicht wirklich, sondern maximal die Spieler und ein paar Auserwählte der deutschen Regierung. Was die ganze Idee umso absurder wirken lässt, das Wembley-Stadium auf Biegen und Brechen zu füllen. Die Inzidenz in London läuft auf 100 zu, in ganz England hat man mittlerweile die 150 überschritten. Und das trotz einer Impfquote von 50%. Die Mär von einer Fußballmeisterschaft als Post-Corona-Festspiele kann man so langsam begraben. Ich hoffe, die Briten besinnen sich endlich und rücken von der Idee ab, 60.000 Fans in Halbfinale und Finale zu begrüßen.
  • Gestern war ich verdutzt, als ich die ARD einschaltete. Kevin-Prince Boateng saß gar nicht an der Seite von Stefan Kuntz und (der großartigen) Almuth Schult. Eine Google-Suche später stellte ich fest: Boateng hat ja bei Hertha BSC unterschrieben – und das bereits vor einer halben Woche! Geht es euch auch so, dass ihr während Turnieren im absoluten Tunnelmodus seid?

Leseempfehlungen

Deutschlandfunk: Claudia Roth (Grüne) zur Fußball-Europameisterschaft: „Man hätte die EM so nicht stattfinden lassen dürfen“

Spiegel: Die EM im Fernsehen. Christoph bringt zwei Tüten Flips mit, Almuth ein Sixpack.

Dietrich Schulze-Marmeling: Die DFB-Elf und die Euro 2020 – eine Zwischenbilanz.

Das Titelbild, das Rui Patricio und Cristiano Ronaldo zeigt, stammt von Anna Nessi, Lizenz: CC BY-SA 3.0.

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