WM-Tagebuch, Tag 22: Titel, Tränen, Sensationen

Am ersten Viertelfinal-Tag schuf der Fußballgott das Drama. Am zweiten Tag schuf er noch mehr Drama. Die Weltmeisterschaft machte am Samstag dort weiter, wo sie Freitag aufgehört hatte. Elfmeterschießen und Beinahe-Schlägereien suchte man am Samstag zwar vergebens. Dafür gab es mit dem Weiterkommen Marokkos eine Sensation historischen Ausmaßes. Frankreich und England boten wiederum die wohl hochkarätigste Partie dieser Weltmeisterschaft. Stürzen wir uns in die Analyse!

.

Marokko: Sind sie zu stark, bist du zu schwach

21-mal wurde die Fußball-Weltmeisterschaft bereits ausgetragen. 81 Länder haben sich im Verlaufe der Fußballgeschichte für eine Weltmeisterschaft qualifiziert. Nur 24 dieser 81 Länder haben irgendwann einmal das Halbfinale erreicht. 18 dieser Nationen stammen aus Europa, vier aus Südamerika, eine aus Nordamerika (die USA bei der WM-Premiere 1930) und eine aus Asien. Marokko ist die 25. Nation, die ein Ticket für das Halbfinale buchen konnte. Sie haben Geschichte geschrieben, denn sie sind die erste Nation des afrikanischen Verbands, die ein Halbfinale erreichen konnte.

Diese Einordnung unterstreicht, wie historisch der marokkanische 1:0-Sieg gegen Portugal ausfällt. Es ist nicht einfach nur ein weiterer Triumph eines Außenseiters über einen haushohen Favoriten. Es ist ein Stück Fußballgeschichte. Bei der ersten Weltmeisterschaft, die in einem mehrheitlich muslimischen Land stattfindet, qualifiziert sich eine Nation aus der arabischen Hemisphäre für ein Halbfinale.

Marokkos Spielsystem zu analysieren, dauert nicht lange. Sie verteidigen das eigene Tor, als ginge es darum, ihr Leben zu schützen. Sie bauen sich im 4-5-1-System in der eigenen Hälfte auf. Der Gegner darf den Ball relativ ungestört vor der ersten marokkanischen Abwehrlinie laufen lassen. Erst wenn der Ball zwischen die Linien oder diagonal auf den Flügel gespielt wird, geht Marokko zum Zweikampf über. Dann stürzen sich zwei oder mehr Spieler voller Tatendrang auf den Ballführenden.

Marokko ist sich seines Außenseiter-Status bewusst. Das Spiel sollen der Gegner gestalten. Die Ballbesitzwerte sprechen eine deutliche Sprache: Nach 35% gegen Kroatien, 33% gegen Belgien und 23% gegen Spanien zeigte die Kurve wieder leicht nach oben. Gegen Portugal kam Marokko immerhin auf 27%. Das lag aber einzig an einer längeren Pass-Sequenz zum Ende der ersten Halbzeit. In der zweiten Halbzeit hatten sie im Schnitt 18%. Das drückt sich in der schönen Zahl 45 aus. Das war nicht etwa die Spielzeit der zweiten Halbzeit – da legt die Fifa ja gerne zehn oder fünfzehn Minuten oben drauf. Nein, es war die Anzahl der marrokanischen Pässe, die ankamen. Ein Schnitt von unter einem gelungenen Pass pro Minute muss man auch erst einmal schaffen.

Das soll aber gar nicht in einer Kritik Marokkos ausarten. Sie machen das, was sie können, und sie tun das mit hoher taktischer Intelligenz und noch mehr Leidenschaft. Die Kritik trifft eher die Portugiesen. Ihnen gelang es in 100 Minuten nicht, sich durchgehend klare Torchancen herauszuarbeiten gegen das marrokanische Bollwerk.

Mich ärgert im Nachhinein, dass ich Portugals Sieg über die Schweiz nicht stärker relativiert habe. In diesem Achtelfinale passte alles für Portugal: eine indisponierte Schweiz, die Portugal zu Kontern einlud; ein Torhüter, der mehrfach patzte; eine portugiesische Mannschaft, die 2,3 Expected Goals in sechs Tore umwandelte. Dass sich dieser Abend gegen Marokko nicht wiederholen würde, war eigentlich bereits vor dem Anpfiff vorauszuahnen. Die Schweiz hatte bereits in der Vorrunde drei Gegentore kassiert. Marokko im gesamten Turnierverlauf eins.

Dass die Portugiesen dann aber derart planlos wirkten im eigenen Ballbesitzspiel, erschütterte mich. Bernardo Silva und Bruno Fernandes trabten ständig in die eigene Abwehrlinie, um sich dort Bälle abzuholen. Als wäre ihre Präsenz weiter vorne auf dem Feld nicht nützlicher! Überhaupt sah man bei den Portugiesen selten Strukturen, die Pässe über mehr als zwei Stationen erlaubt hätten. Ständig bewegten sich irgendwelche Spieler in irgendwelche Räume, nie orientierten sie sich an den Prinzipien, die man aus erfolgreichen Mannschaften kennt. Sprich: Raum aufteilen, Zonen besetzen, Synergien schaffen.

Spätestens in der zweiten Halbzeit verkam der portugiesische Ansatz zum „Wir müssen jetzt das Tor erzwingen!“. Der unvermeidliche Cristiano Ronaldo kam, ohne wirklich einen Eindruck zu hinterlassen. Portugal löste das Mittelfeld auf und versuchte, den Ball irgendwie in den Strafraum zu befördern. Marokko genügte es, auf ein 5-4-1 umzustellen, um die Offensive der Portugiesen gänzlich abzuwürgen. Auf der anderen Seite fuhren die Marokkaner sogar noch einige Konter. Ihr Schachzug, in Eins-gegen-Eins-Duelle gegen Pepe auf dessen halblinker Seite zu gelangen, ging beinahe auf. Aber sie sind eben nur ein Außenseiter, der sich auf das Verteidigen beschränkt. Das gelang ihnen: Auch gegen Portugal ließen sie nur Schüsse zu mit einem Expected-Goals-Wert von insgesamt 0,9. Da hatte sogar Spanien mehr Möglichkeiten.

Marokko ist dank Leidenschaft und Mauertaktik ins Halbfinale eingezogen. Es gilt die alte Weisheit aus der „Fishermen’s Friend“-Werbung: Sind sie zu stark, bist du zu schwach. Das gilt für Portugal bei dieser WM genauso wie für Spanien oder Belgien. Die Marokkaner indes können den nächsten Triumph anpeilen. Bislang standen ausschließlich europäische und südamerikanische Nationen im Finale einer Weltmeisterschaft: 13 aus Europa, drei aus Südamerika. Die anderen Kontinentalverbände stellten noch nie einen Finalisten. Marokko wird es nicht etwa wagen…?

England: Das Projekt Southgate verpasst seine nächste Stufe

Was soll man England nach dieser 1:2-Niederlage vorwerfen? Alle Statistiken sprechen für sie: Sie hatten mehr Ballbesitz, gaben fast doppelt so viele Torschüsse ab und erzielten einen Expected-Goals-Wert, der um ein Tor höher lag als der des Gegners (2,3 zu 1,2). Am Ende ging das Spiel 1:2 aus – und das, obwohl Harry Kane in er 84. Minute die große Chance hatte, mit einem Elfmeter sein Team zu retten. Er vergab kläglich. England braucht nicht einmal Elfmeterschießen, um aufgrund vergebener Elfmeter auszuscheiden.

Wobei ich damit nur die alten Witze wiederkaue. Gareth Southgate würde mir diesen Spruch um die Ohren hauen! Genau darum geht es schließlich während seiner Zeit als englischer Nationaltrainer: den Engländern all die Dämonen der Vergangenheit auszutreiben. Den Elfmeterschießen-Fluch haben sie bereits 2018 gebrochen, als sie Kolumbien aus dem Turnier warfen. Auch viele andere Geister der Vergangenheit verjagte Southgate. England gewann unter ihm sämtliche Auftaktspiele, er trieb seiner Mannschaft den Leichstinn aus und führte England bei drei Turnieren in Folge ins Viertelfinale. Das ist eine bemerkenswerte Bilanz einer Nation, die über Jahrzehnte hinweg an sich selbst scheiterte.

Das Spiel gegen Frankreich sollte der nächste Schritt werden. Es sollte der erste Sieg gegen eine große Fußball-Nation sein außerhalb des Wembley-Stadiums. Seit dem WM-Sieg 1966 gingen alle K.O.-Spiele gegen die Top-Nationen verloren. Zugleich hatte England nach dem 0:1 ebenfalls die Chance, erstmals seit dem Finale im eigenen Land einen Rückstand zu drehen. Sie schafften den Ausgleich, nur um kurz vor Schluss wieder in Rückstand zu geraten. Kane hatte sogar noch die große Möglichkeit, das 2:2 zu erzielen.

Somit kann ich heute in meinem Tagebuch nicht über den großen Wandel schreiben, über die letzten Zweifel und Ängste aus der Vergangenheit, die Southgate vertrieben hat. Sondern ich muss eine unglückliche Niederlage analysieren.

Was lief schief? Vor dem 0:1 rückte England etwas halbherzig heraus, als Mbappe sich vor der Abwehr zeigte. Beim Schuss von Aurélien Tchouaménis hatte Jude Bellingham Pech, dass er den Ball nicht blocken konnte. Torhüter Jordan Pickford sah in dieser Szene nicht gut aus: Er machte einen Schritt zu viel, der Absprung geriet nicht explosiv genug. Für das 1:2 wiederum sorgte eine Schläfrigkeit der Abwehrkette. Oliver Giroud durfte völlig frei einköpfen. Zuvor war er bereits frei zum Schuss gekommen, doch Pickford wehrte ab.

Das Ding ist: Gegen Frankreich nur zwei große Chancen zuzulassen und ein Tor per Fernschuss zu kassieren, ist gut. Sogar sehr gut. Die französische Offensivreihe war gegen England nicht zu sehen. Obwohl Southgate auf eine Fünferkette verzichtete, bekamen die Engländer mit ihrem 4-1-4-1 alle Räume geschlossen. Die Außenverteidiger bekamen Unterstützung von den Außenstürmern und den Achtern, sodass Kylian Mbappe und Ousmane Dembélé keine Faktoren waren. Das hat bei dieser WM noch kein Team geschafft, und es ist fraglich, ob irgendeiner der drei verbliebenen WM-Teilnehmer das hinbekommen wird.

Ich kann aus diesem Grund auch nicht die Kritik teilen, England hätte mehr aus den Räumen machen müssen, die Mbappe hinter sich anbot. Erstens hat England das über den ausweichenden Jordan Henderson einigermaßen gut hinbekommen. Zweitens ist das klassisches Sofa-Expertentum – also etwas, das man eigentlich eher einem Typen mit der Web-Domain Laptoptrainer.de vorwerfen sollte. Es ist eben sehr leicht, auf dem Sofa sitzend zu fordern, Mbappe allein stehen zu lassen und ein paar Meter weiter nach vorne zu rücken. Da muss nur ein Pass schiefgehen, und der Verteidiger weiß genau: Scheiße, jetzt hole ich Mbappe erst ein, wenn der französische Angriff abgeschlossen wurde.

Für England hätte das Spiel gegen Frankreich der Abschluss einer Metamorphose sein können. Es wurde zum Rückschritt auf die Hoffnung, irgendwann wieder ein großes Turnier gewinnen zu können. Doch die Zukunft erscheint hell: Der Kader ist jung, einige Leistungsträger haben ihre besten Jahre noch vor sich. I am looking at you, Jude Bellingham! Nur ob Southgate dann noch dabei sein wird, ist unsicher. Englischen Medienberichten zufolge stehen Mauricio Pochettino oder Thomas Tuchel als Nachfolger bereit. Egal, ob Southgate weitermachen darf oder nicht: Er wird seinen Platz finden in der Geschichte des englischen Fußballs. Da bin ich mir ganz sicher.


Kurze Beobachtungen

  • Es hat seine Nachteile, ein Turnier aus der Ferne zu verfolgen. Man ist angewiesen auf die TV-Bilder, welche die Fifa produziert. Man bekommt also nur das zu sehen, was die Fifa zeigen will. Deutlich zu spüren war dies beim Spiel Niederlande gegen Argentinien. Der epische Zwist, den sich beide Teams während des Elfmeterschießens lieferten, wurde mir erst am Tag darauf richtig bewusst. Es gab jede Menge Psychospielchen: Der argentinische Torhüter warf den Ball weg, bevor ein niederländischer Schütze ihn sich schnappen konnte. Die niederländischen Spieler bedrängten die argentinischen Schützen, sobald diese Richtung Elfmeterpunkt liefen. Das verleitete wiederum die Argentinier zu höhnischen Gesten nach dem entscheidenden Siegtreffer. Nach dem Spiel ging es weiter, als Lionel Messi in einem Interview dem nahestehenden Wout Weghorst zuraunte: „Was guckst du so, Dummkopf?“ Im TV war von all diesen Dingen nichts zu sehen. Die Fifa, welche für die Bildregie zuständig ist, zeigte sie nicht. Da kann man schon leise fragen: Zufall? Oder wollte die Fifa ihr Produkt WM nicht beschädigen?
  • Nachdem die Schiedsrichter – von wenigen Ausnahmen abgesehen – bei dieser WM eher eine untergeordnete Rolle gespielt haben, häufen sich nun die Fehler ausgerechnet in jener Phase, in der es um alles geht. England kann sich nach dem Spiel zurecht beklagen, dass Schiedsrichter Sampaio viele 50:50-Entscheidungen zugunsten der Franzosen pfiff. Dem Spanier Mateu Lahoz entglitt die Partie zwischen Argentinien und den Niederlanden vollends. Für Schlagzeilen sorgte auch der argentinische Schiedsrichter Facundo Tello, der die Partie Portugal gegen Marokko pfiff. Also nicht wegen seiner Leistung, gegen die konnte eigentlich niemand etwas haben. Sondern wegen seiner Nationalität. Portugals Pepe witterte eine Verschwörung. „Ich glaube nicht, dass er der richtige Mann am richtigen Platz war“, sagte Pepe und deutete an, die Fifa wolle Messi den WM-Titel zuschustern. Auch Bruno Fernandes schlug in eine ähnliche Kerbe. Es braucht schon Einiges an verzerrter Wahrnehmung, nach dieser Leistung gegen Marokko eine Verschwörung der Fifa zu vermuten. Argentinien würde sicher lieber gegen diese portugiesische Mannschaft spielen als gegen das Bollwerk aus Marokko.
  • An dieser Stelle gibt es nun wieder einen Tag Pause. Am Dienstag geht es weiter!

Leseempfehlungen

Spiegel: Kroatiens Superstar Modrić im WM-Halbfinale. Der erbarmungslose Gentleman.

The Athletic: Morocco are rewriting what football means to an African Muslim like me

Spiegel: Zum Tod des Reporters Grant Wahl. Er glaubte an die Dinge, über die er schrieb.


Das Titelbild zeigt Bernardo Silva und Achraf Hakimi, allerdings während der WM 2018. Es stammt von Anton Saizew, Lizenz: CC BY-SA 3.0.

9 thoughts on “WM-Tagebuch, Tag 22: Titel, Tränen, Sensationen

  1. So sehr ich dich schätze und man auch unterschiedlicher Meinung sein kann, aber findest du es nicht einen sehr hotten Take, dem aktiven Fußballprofi Kramer „Sofa-Expertentum“ vorzuwerfen? Ein Vorwurf, der letztlich impliziert, die Person hätte keine Ahnung vom aktiven, echten Fußball?

    1. Ich hatte extra nicht einen bestimmten Experten wie Kramer angesprochen, da ich finde, dass die Experten durch die Bank weg herausragende Arbeit leisten bei dieser WM und da ich diese These tatsächlich auch auf Magenta gehört habe. Aber ja, Kramer hat die These vertreten, dass England zu defensiv auftrat, und ich halte diese These (nur diese These! Nicht seine gesamte Arbeit!) für Besserwisserei, die man sich nur vom Sofa aus erlauben kann, da bin ich ganz ehrlich. Da ist es dann auch hinfällig, ob jemand auf höchstem Niveau spielt oder nicht, da es sich hier ja um eine taktische Frage handelt, für die es Argumente in die eine oder die andere Richtung gibt.

      Erstens hat England ja in der Tat den Raum hinter Mbappe genutzt, nur eben über Henderson und nicht über Walker. Zweitens ist das eine Art Argumentation, wie ich sie früher gerne gebracht habe, die mir aber durch meine Gespräche mit Trainern und Ex-Spielern abgewöhnt habe. Nur weil etwas taktisch Sinn ergibt, muss nicht automatisch die Taktik Sinn ergeben. Fußball ist eben kein Schach, bei dem man auf den offenen Raum zeigen und sagen kann: Springer besetzt jetzt rechten Flügel. Walker spielt gegen Mbappé, muss mit dem in Laufduelle gehen, ihn in Schach halten. Lass Mbappé einmal im Konter weglaufen, dann ist dessen Selbstbewusstsein durch die Decke und das von Walker am Boden. Dann geht Walker nur noch halbherzig nach vorne, weil er Angst hat, dass Mbappé erneut im Konter den Ball erhält. Spätestens dann ist die Taktik dahin. Gibt es Argumente dafür, Walker trotzdem nach vorne zu schicken? Ja, weil es offensiv funktionieren könnte. Muss man deshalb England vorwerfen, hier einen Fehler zu begehen? Ich finde nicht, da auch das englische Vorgehen einen klaren Zweck verfolgt und in seiner Gesamtheit aufgeht. England mag nicht den gewünschten Vorwärtsdrang über rechts gezeigt haben – Frankreich hat über Mbappé aber ebenfalls nichts auf die Kette bekommen. Man kann das Eine nicht ohne das Andere diskutieren.

      Und ja, ich vermisse bei dem Take auch etwas Empathie. Das ist das Viertelfinale einer Weltmeisterschaft, da geht es um so viel für Spieler, Trainer, Fans. Ich bin der Letzte, der gegen offensiven Fußball plädiert. Aber es gibt einen Zeit und einen Ort für offensiven Fußball, und das ist sicher nicht das WM-Viertelfinale gegen den amtierenden Weltmeister. Und garantiert nicht von einer Fußballnation, die seit 1966 nicht mehr gegen große Nationen gewinnen konnte bei WMs. Ich bin mir auch relativ sicher, dass Kramer sich gegen solch einen Take von einem Ex-Profi wehren würde, wenn der sagen würde: „Aber ihr Gladbacher hättet gegen Bayern offensiver spielen müssen! Da waren doch Räume!“ That’s not how it works, würde der Engländer sagen.

      Ich will das Thema aber gar nicht größer aufblähen, als es ist. Wie gesagt: Sämtliche Experten bei der WM leisten großartige Arbeit, besser als ich es je könnte. Aber in diesem einen Take widerspreche ich Kramer (und auch den anderen Experten) deutlich.

      1. Argumentation qua Autorität sollte man grundsätzlich nicht ernst nehmen. 😉
        (Ex-)Profis können sehr gut ihren Blick wiedergeben und bieten einen tiefen Einblick in die Denke des Profifußballs (-Sports). Wenn die Analytics Bewegung eins gezeigt hat, dann aber doch, dass Experten nicht unbedingt gut darin sind den objektiv besten Weg zu kennen.
        Zumal bei Fernsehexperten auch noch veranschlagt werden kann, dass sie einen hohen Anreiz haben, einfach bekannte Floskeln und erklärmuster zu übernehmen.

        1. vielleicht täusche ich mich, aber das Interview im FREITAG mit Ivan Ergic, zählt vielleicht in diese Kategorie?

          vorerst hinter der paywall:
          https://www.freitag.de/autoren/michael-angele/serbiens-ex-nationaspieler-ivan-ergic-fussballer-sind-die-arbeiteraristokratie

          p.s. da ich hier wiederholt über Niederlande schwadronierte; für das F-GB Spiel war ich in holländ. Haushalt eingeladen. Dort erfuhr ich was offenbar schon alle längst wissen, dass nämlich Koeman von Anfang an als Nachfolger von LvG geplant war.

  2. Ich als bankwärmender Kreisliga Torhüter (falsch ich eine fachlich falsche Anmerkung habe lässt es sich hiermit relativieren) habe irgendwie Probleme mit dem Satz „Er machte einen Schritt zu viel“ zu Pickfords Aktion beim 1:0 für Frankreich.
    Im ersten Moment hab ich sofort gesagt „Por, ein Neuer hätte diesen Schuß sicherlich gehalten“. In der Zeitlupe sieht man aber, dass Pickford torwarttechnisch eigentlich alles Richtig macht. Springt er sofort muss er in eine maximale Streckung der Arme gehen um überhaupt an den Ball zu kommen. Dann fehlt im Kontrolle in den Händen um den Ball wirklich abzuwehren zu können. Der Schritt ist meines Erachtens also vollkommen richtig und zeugt von guter Technik. Fakt ist aber auch, dass er einfach nicht weit genug in die Ecke kommt.

    Somit stellt sich mir inzwischen die Frage:“ Ist diese Sprung-Technik (kleiner Sitestep vor der Sprungbewegung) auf diesem Niveau veraltet oder bekommt Pickford schlicht zu wenig Kraft in den Sprung?“ Unhaltbar war das Ding meiner Meinung nach (auf diesem Niveau) nicht.

    1. Man höre dazu die aktuelle Folge Keeperanalyse: https://cavanisfriseur.de/keeperanalyse-folge-43/
      Ab 43:45 wird dort das 1:0 besprochen.

      Jordan Pickford hat mit seinen 1,85 Metern Körpergröße schon von Natur aus nicht die größte Reichweite. Der Sidestep war wohl taktisch richtig, aber er macht einen Auftaktsprung, der ihm am Ende die entscheidenden Sekundenbruchteile kostet, um sauber in den Abdruck zu kommen.

  3. Das Tagebuch finde ich super und auch die Entwicklung, dass du angesichts immer wenigerer Spiele mehr ins Detail gehst!

    Die Auffassung zur Rechtsverteidiger-Sache teile ich vollkommen, gerade, wenn man die Implikationen weiterdenkt. Du sprichst die psychischen an, auch die Folgen für die Zuordnungen sollte man bedenken: Man will logischerweise den beweglichen und schnellen Walker gegen Mbappé spielen sehen. Kramers Vorschläge, Stones und/oder Rice sollten sich bei einem Walker-Aufrücken um Mbappé kümmern, würden krassere Missmatches produzieren. Seine alternative Idee, dann eben Walker als Innenverteidiger aufzubieten, um einen offensiv mandatierten RV zu bringen, halte ich ebenfalls für Quatsch, denn Walker kann man sich aus englischer Sicht kaum in Luftduelle mit Giroud wünschen. Hat mich sehr erstaunt bei Kramer, der sonst (anders als bspw. Mertesacker) immer wieder Interessantes und Lehrreiches zu sagen hat.

    Gar nicht deiner Meinung bin ich bei deiner Bewertung des 2:1:
    „Für das 1:2 wiederum sorgte eine Schläfrigkeit der Abwehrkette. Oliver Giroud durfte völlig frei einköpfen.“
    Kannst du das erläutern?
    Ich habe keine Ahnung, wie man das Tor noch verhindern könnte, nachdem die Flanke Griezmanns Fuß verlässt. Da läuft Giroud in die kleine Lücke zwischen Stones und Maguire. Als hinterer der beiden reagiert dieser sofort, also sehr aufmerksam und alles andere als schläfrig, trotz Girouds Bewegungsvorteil holt Maguire ihn fast ein, ist ganz eng dran, stellt Körperkontakt her (Arm auf die Schulter). Giroud ist nur eine halbe Kopflänge vorher am Ball und gerade weil er eben nicht „völlig frei“ ist, fälscht Maguire den Ball noch ins eigene Tor ab. Für mich steht hier: Stark verteidigt gegen den Bewegungsvorteil des Angreifers, wegen dessen Klasse und eigenem Pech das Tor nicht mehr vereitelbar.

  4. Die Defensivteams dominieren diese WM unterm Strich sehr. Mit Kroaten und Marokka stehen 2 ausserordentlich dezidierte reine „Spielzerstörer“ in den Halbfinals und treten mit Frankreich und Argentinien gegen 2 Teams an, die am ehesten noch Rehagels einstige „kontrollierte Offensive“ vertreten, ihren Fokus aber auch eher darauf haben, hinten die 0 zu halten.

    Was kann man davon mitnehmen? Das Defensive wichtig ist, ist nichts Neues. Aber eventuell kommt durch die Natur des direkten KO-Spiels (nicht Hin- und Rückspiel wie bei CL) die Defensive – und dadurch das Nichtverlieren – noch mal etwas mehr Gewicht. Unterm Strich könnte man sagen, dass der Turnierbetrieb eine andere Herangehensweise erfordert wie der „Liga-Betrieb“. Keine neue Weisheit.

    Zur Niederlande: Irgendwie eindrucksvoll diese letzten 10 Minuten regulärer Spielzeit. Diese Wucht war durchaus beeindruckend und auch interessant, wie schwer sich Argentinien damit tat, damit zurechtzukommen. Da wäre ein Ballbesitzansatz vermutlich eine gute Wahl gewesen, der Niederlande die Luft zu nehmen, aber die Herangehensweise krass zu ändern klappt selten gut.

Schreibe einen Kommentar zu Peda Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Enter Captcha Here : *

Reload Image