Eschers EM-Tagebuch, Tag 22: Zu spät

Heute kommt das Tagebuch etwas zu spät. Das könnte daran liegen, dass ich über das Zuspätkommen schreibe. Ich finde, Toni Kroos‘ Abschied aus der Nationalmannschaft kommt – ähnlich wie Löws – etwas zu spät. Für die belgische Nationalmannschaft wiederum kam dieses Turnier zu spät. In den Beobachtungen dreht sich alles um die Partie Spanien gegen die Schweiz.

(Zu) später Abgang eines Großen: Toni Kroos

Toni Kroos ist aus der Nationalmannschaft zurückgetreten. Sein Abschied hinterlässt bei mir gemischte Gefühle. Für mich gibt es zu Toni Kroos zwei Wahrheiten, die sich scheinbar widersprechen: Würde ich eine Allzeit-Elf der deutschen Nationalmannschaft aufstellen, stünde Kroos vielleicht auf dem Feld, mindestens säße er aber auf der Bank. Seine Klasse ist unbestritten. Ich finde aber auch: Kroos hätte sich schon 2018 zu einem Rückzug aus der Nationalmannschaft durchringen sollen.

Kroos‘ Geschichte in der Nationalmannschaft ist unweigerlich mit Joachim Löw verbunden. In seinen 106 Länderspielen hat Kroos nur einen Nationaltrainer kennengelernt. An ihm lässt sich recht gut die Ära Löw nacherzählen. 2010 und 2012 schien Kroos noch zu jung, zu grün hinter den Ohren, als dass Löw ihm bedingungslos hätte vertrauen können. Kroos mimte damals noch den kunstvollen Zehner. Gegen Spanien kam er 2010 nach einer Stunde auf das Feld und blieb ohne Wirkung. 2012 entwarf Löw im EM-Halbfinale gegen Italien einen komplizierten Plan, der Kroos als Manndecker für Andrea Pirlo vorsah. Der Plan ging nicht nur schief, sondern offenbarte auch, dass Löw die Qualitäten von Kroos (noch) nicht richtig einzusetzen wusste.

Doch Kroos wuchs als Spieler, genauso wie Löw als Trainer reifte. Mit den Jahren entdeckten Kroos‘ Trainer dessen strategische Fähigkeiten, er rückte nach und nach tiefer ins Mittelfeld. Auch Löw lernte Kroos‘ Spielintelligenz zu schätzen. Während der WM 2014 ließ er ihn einen Hybrid aus Achter und Zehner spielen, wie ihn damals nur Kroos spielen konnte. Spätestens während der EM 2016 avancierte Kroos zum besten deutschen Nationalspieler: Er lenkte das deutsche Spiel, verlagerte es klug mit seinen Pässen und verschärfte das Tempo im richtigen Moment. Löws Transformation vom Konter- zum Ballbesitztrainer war in erster Linie Kroos zu verdanken.

Löw mag seine Liebe für den Strategen Kroos entdeckt haben. Die deutsche Öffentlichkeit tat das nie. Selbst zu seinen besten Zeiten wurde er allenfalls geschätzt, nie aber bewundert oder gefeiert. Ihm haftete der Ruf des Querpass-Tonis an: Zu häufig mache er das Spiel langsam, zu selten spiele er in die Tiefe. Dass so gut wie jeder seiner Pässe das Spiel bereichert und verändert, sahen die wenigsten. Madrid ist zu weit weg, als dass eine breite deutsche Zuseherschaft seine Leistungen mit eigenen Augen sah.

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Und doch: Spätestens seit 2018 lässt sich der Vorwurf des Querpass-Tonis nicht mehr komplett als Spinnerei von Fußball-Eventschauern abtun. Seine Präsenz in der Nationalmannschaft wuchs und wuchs. Während im Klub Luka Modric auf halbrechts ein Gegengewicht zu Kroos bildete und Casemiro die defensiven Schwächen der beiden aufzufangen wusste, stand in der Nationalmannschaft allein Kroos im Fokus. Er ließ sich wie im Klub ständig auf die halblinke Seite fallen. Anders als bei Real Madrid waren diese Bewegungen aber nie in eine größere, zielgerichtete Spielidee eingebunden. Kaum jemand schuf die passenden Optionen für Kroos, um das Spiel zu beschleunigen.

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Kroos legt im Klub wesentlich mehr Torchancen auf als in der Nationalelf. Rund jeder 30. Kroos-Pass bei Real Madrid ist eine Vorlage für einen Torschuss. Der Wert ist recht konstant, egal ob in der Liga oder in der Champions League. Rechnet man in der Nationalmannschaft die WM 2018, die Nations League und die EM 2021 zusammen, leitete nur rund jeder 43. Pass direkt eine Torchance ein. Rein auf die EM 2021 bezogen lag dieser Wert sogar bei 74.

So fragt man sich im Nachhinein unweigerlich, ob Löw richtig entschieden hat, nach 2018 weiter auf Kroos zu bauen. Klar, Kroos war 2018 nur 28 Jahre alt, bei Real Madrid hat er auch in den vergangenen Jahren große Leistungen gezeigt. Doch diese Leistungen konnte er immer seltener in das DFB-Team transferieren.

Egal, ob Ilkay Gündogan, Leon Goretzka oder Joshua Kimmich an der Seite von Kroos spielte: Niemand harmonierte so richtig mit dem Spielgestalter. Das deutsche Mittelfeld avancierte immer öfter zur Schwachstelle, was Konterabsicherung und Verschieben im Raum betraf. Kroos stand 90 Minuten auf dem Platz beim 0:3 gegen die Niederlande, beim historisch schlechten 0:6 gegen Spanien und nun auch bei allen EM-Spielen. Nicht in allen Partien agierte er schlecht. Aber in keiner konnte er rechtfertigen, dass Löw ausgerechnet um ihn herum seine Mannschaft aufbaute und nicht etwa um Joshua Kimmich oder Thomas Müller. So trifft auch Löw eine Mitschuld an der Misere.

Kroos ist ein Stratege, auf und neben dem Platz. Er denkt stets zwei Schritte weiter als alle anderen. Schon 2018 liebäugelte er mit dem Gedanken, aus der Nationalmannschaft zurückzutreten. Löw habe ihn zum Weitermachen überredet, hieß es damals. Mit drei Jahren Abstand muss man sagen: Kroos‘ strategische Instinkte lagen auch in dieser Frage nicht falsch. 2018 und 2021 werden an ihm nicht so stark hängenbleiben wie an Löw. Aber es bleiben Makel in einer ansonsten recht makellosen Karriere.

Dieses Turnier kam zu spät für Belgien

Der Begriff goldene Generation wird heutzutage inflationär gebraucht. Jede halbwegs brauchbare Länderspiel-Truppe erhält den Ritterschlag, die goldene Generation ihrer Nation zu sein. Leider wird dabei gerne übersehen, dass das Adjektiv „golden“ ausdrücklich auf Titel verweist. Goldmedaillen erhält man nur, wenn man gewinnt, nicht für besonders großes Talent.

Belgiens Generation außergewöhnlicher Fußballer konnte sich auch im Jahr 2021 nicht das Prädikat „golden“ verdienen. Im direkten Duell mit den Italienern wirkten die Belgier als das, was sie waren: Individuell mögen sie eine der stärksten Nationalmannschaften der Welt stellen. Bei dieser EM waren sie aber vor allem die mit Abstand älteste Mannschaft.

Die Spielidee, welche die Italiener verfolgten, war noch vor drei Jahren jene von Belgiens Coach Roberto Martinez. Die Italiener vertrauen auf ein Ballbesitzsystem, das klare Laufwege und Positionen für die einzelnen Spieler vorsieht. Nach Ballgewinnen setzen sie wuchtig nach, auch im Pressing schießt die Mannschaft nach vorne. Die Italiener haben die Spritzigkeit vorne und die defensive Klasse hinten, um solch ein Pressing zu praktizieren.

Die Belgier nicht – oder nicht mehr, müsste man sagen. Die belgische Abwehr mag nicht so alt sein wie die italienische, sie ist aber trotzdem unbeweglicher. Vor allem in der Beschleunigung fällt die Dreierkette ab. Das Mittelfeld sichert schwächer ab als in der Vergangenheit. Den Außenverteidigern fehlt die defensive Klasse.

So zogen sich die Belgier im direkten Duell eher zurück, während die Italiener das Spiel gestalteten. Ballbesitztrainer Martinez hätte sicher nichts dagegen gehabt, wenn es andersrum gelaufen wäre. Er wusste aber auch: Mit Axel Witsel, Jan Vertonghen und einem angeschlagenen Kevin de Bruyne kann er keinen Hurra-Offensiv-Fußball spielen. Vermutlich wollte Martinez auch das Risiko nicht eingehen, da er unbedingt diesen Titel brauchte.

Das ist die Krux des Nationalmannschaftsfußballs. Nur alle zwei Jahre hat man die Chance, einen Titel zu gewinnen. Während in der Champions League immer die Hoffnung besteht, kommendes Jahr noch einmal anzugreifen, kann in zwei Jahren im Fußball alles passieren. Dass noch ein extra Jahr Pause hinzukam dank Corona, war ein weiterer heftiger Schlag für diese belgische Generation.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Belgier im Winter 2022 einen neuen Anlauf starten. So lang ist das Turnier nicht mehr hin, und de Bruyne etwa macht keine Anstalten nachzulassen. Bei vielen seiner Mitspielern besteht hingegen ein Fragezeichen, ob sie für dieses Turnier überhaupt noch zur Verfügung stehen. Fünf der elf Startspieler gegen Italien waren älter als 30 Jahre. Zwei weitere werden dies zum Anpfiff der WM 2022 sein. Diese Mannschaft scheint über ihren Zenit. Derweil wächst keine neue Generation nach. Jeremy Dokus furchtloser Auftritt im Viertelfinale war der einzige Hoffnungsschimmer für eine Zukunft jenseits von Katar.

Erst im Nachhinein stellt sich heraus, wie fehlgerichtet Belgiens Trainerpolitik bis zur Verpflichtung von Martinez war. Die Turniere vor 2018 wirken im Nachhinein unnötig vergeudetet. Schon damals hätten die Belgier einen Fußball wie 2018 spielen können. 2021 konnten sie es nicht mehr. Es gibt die Binse: „Dieses Turnier kommt für diese Generation noch zu früh.“ Bei Belgien müsste man sagen: „Dieses Turnier kam für diese Generation zu spät.“

Kurze Beobachtungen

  • Bislang fand ich in diesem Tagebuch meist lobende Worte für die Spanier. Ganz hundertprozentig überzeugt bin ich von ihnen aber nicht. Kein Wunder: Sie sind auf dem Weg, Portugals Punkteschnitt von 2016 zu wiederholen. Von fünf EM-Spielen haben die Spanier gerade einmal eins nach neunzig Minuten gewinnen können. Die Durchschlagskraft bleibt ihr großes Problem. Umso gespannter bin ich, wie sich die Spanier schlagen, wenn sie im Halbfinale auf Italien treffen. Endlich ein Spiel, in dem beide Teams den Ball haben wollen!
  • Wie gewonnen, so zerronnen: Am vergangenen Montag waren die Schweizer noch die Elfmeter-Helden. Nun sind sie die Elfmeter-Deppen. Welchen Unterschied gab es zwischen den beiden Elfmeterschießen? Gegen Frankreich haben die Schweizer den Münzwurf gewonnen und entschieden sich, zuerst zu schießen. Gegen Spanien verloren sie den Münzwurf, die Spanier begannen. Es gibt eine Studie, die besagt, dass die Mannschaft, die den Münzwurf gewinnt und die Reihenfolge festlegt, in 60% aller Fälle das Elfmeterschießen gewinnt. Die Autoren meinen, die Mannschaft habe dadurch den psychologischen Vorteil, etwas entschieden zu haben und nicht dem Gegner ausgeliefert zu sein. Zumindest bei dieser EM trafen die Wissenschaftler mit ihrer These ins Schwarze.
  • Es gibt gute Gründe, gegen den VAR zu sein: willkürliche Eingriffshöhe, lange Pausen, das Abwarten vor einem Torjubel. Aber gerade dann die Abschaffung des VAR zu fordern, wenn er rein gar nichts zu einer Szene beigetragen hat, empfinde ich als heuchlerisch. In einer Welt ohne VAR wäre Remo Freuler gestern genauso vom Platz geflogen – nur dass die üblichen Meckerköpfe auf Twitter nicht den VAR, sondern den Schiedsrichter beleidigt hätten. „Wofür haben wir den VAR, wenn nicht für solche Szenen?“, ist ein Argument für mehr VAR und nicht für dessen Abschaffung. Die wahre Frage, die hinter solch einer Szene steckt: Wie oft und wie tief soll der VAR in das Spielgeschehen eingreifen? Ich sage: Je weniger VAR, desto besser. Der VAR sollte kein Über-Schiedsrichter sein, sondern nur bei krassen Fehlentscheidungen oder bei Nichtwahrnehmung des Schiedsrichters helfen. Beides lag gestern nicht vor, so überhart ich die Rote Karte gegen Freuler fand.

Leseempfehlungen

The Athletic: Chiellini. Italy’s one-man barricade who turns defending into an art form.

SZ: Spaniens Talent Pedri. Eine Sensation? Oh ja!

The Guardian: England face an even greater test of their Total Southgate philosophy.

Das Titelbild mit Toni Kroos stammt von Антон Зайцев, Lizenz: CC BY-SA 3.0.

5 thoughts on “Eschers EM-Tagebuch, Tag 22: Zu spät

  1. Zu Kroos: Ich bin und war nie ein Fan, aber ich werde trotzdem nie seine Qualitäten in Abrede stellen. Nicht nur der Erfolg gibt ihm recht, sondern auch vieles mehr. Ähnlich wie Özil benötigt er ein bestimmtes Umfeld auf dem Platz, um wirklich so agieren zu können, wie nur er es kann. Das bot die Nationalelf seit 2016 nicht mehr.

    Zum VAR: Ich finde es teilweise fürchterlich, wie sich so mancher Schiedsrichter enteiert und seinen Job dem VAR überlässt, indem er einfach alles laufen lässt und auf den VAR wartet. Das kam auch einige Male bei der EM vor. Da kann der gute Mann auch komplett zuhause bleiben.

    Zur Schweiz: Auch wenn sie jetzt ausgeschieden sind und man natürlich auch diskutieren kann, ob das ohne die rote Karte auch passiert wäre – wie gut sind denn die Schweizer? Ein Großteil Legionäre aus der Bundesliga, jetzt nicht brachial auffällig. Aber scheinbar prima aufeinander abgestimmt, mit einem guten Plan und viel Vertrauen darin ausgestattet, spielen die gegen Spanien einfach fleissig mit ohne sich hintenrein zu stellen. Eindrucksvoll.

  2. Danke für den wie immer guten Text.
    Finde diese 60-40-Elfermeterstudie interessant. Seit einiger Zeit kennt die anscheinend jeder und aus dem „Wenn du die Wahl hast, schieß zuerst, weil es ein bisschen besser ist“ scheint bei vielen im Kopf „Wer zuerst schießt, gewinnt“ geworden zu sein. Man müsste mal untersuchen, ob das eine Self Fulfilling Prophecy geworden ist, denn ob nun 50-50 oder 60-40 Chance macht in einem einzelnen Elferknacken ja nicht so viel aus.
    Bei der Schweiz lief es ja noch komischer, weil der erste und dritte spanische Elfer verschossen wurde, wo ist da der extra psychologische Druck auf dem Schweizer Schützen? Eher schon krass, dass dieselben Schützen in einer Woche das bestmögliche und mieseste Elferschießen überhaupt hinbekommen. Eher ein Zeichen dafür, dass Elferschießen wirklich Zufall ist.

  3. Kroos hat am besten mit Nebenmann Rudy funktioniert. Das war auch für die eine halbe Stunde gegen Schweden bei der WM 2018 der Fall. Letztendlich war es Löw der seine(n) Spieler während des selbst auferlegten Umbruchs nicht richtig eingebunden hat. Kroos kommt mir hier zu schlecht weg.

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