Eschers EM-Tagebuch, Tag 9: Der vergessene Joshua Kimmich

Herzlich Willkommen zu meinem EM-Tagebuch! In unregelmäßigen Abständen möchte ich an dieser Stelle meine Gedanken zur Fußball-Europameisterschaft 2021 teilen. Das kann alles sein, von Einschätzungen zum Thema des Tages über taktische Analysen bis hin zu semiwitzigen popkulturellen Anspielungen. Nach dem zweiten Deutschland-Spiel drehe ich den Scheinwerfer und beleuchte Joshua Kimmich sowie die portugiesische Mannschaft.

Identifikationsfigur Gosens überdeckt Schlüsselspieler Joshua Kimmich

Ach, wie freut es mich, falsch gelegen zu haben! Vor dem Portugal-Spiel hatte ich ein mulmiges Gefühl. Zu sehr misstraute ich Joachim Löw und seiner Mannschaft, zu tief hatte sich die Enttäuschung der vergangenen Jahre in mich gefressen. Dabei servierte Portugal die Zutaten für einen deutschen Sieg auf dem Silbertablett. Die Portugiesen fanden mit ihrem seltsam-engen Viererketten nie eine Antwort gegen die deutschen Außenverteidiger. War der Ball auf der einen Feldseite, stand der deutsche Außenverteidiger auf der gegenüberliegenden Flanke frei. Joshua Kimmich und Robin Gosens nutzten diesen systemischen Vorteil gnadenlos aus. Wann kam es zuletzt vor, dass ein am Reißbrett entworfener Spielzug so gut funktionierte, dass er glatt zu vier Toren führte? (Mit Gosens frühem Abseitstor waren es sogar fünf!)

Womit wir beim Medienthema des Tages wären: Robin Gosens! Noch mehr als im Klubfußball geht es bei Nationalmannschaften um Geschichten. Und welch schönere Geschichte gibt es dieser Tage als die Schmonzette vom spätberufenen Italien-Legionär! Wie er sein Tor feiert, wie er sich im Interview nach dem Spiel freut, wie er unbekümmert auftritt: Das berührt Deutschland. Der DFB sollte Gott jeden Tag für Gosens danken. Endlich haben wir einen neuen Podolski gefunden!

Der Vergleich mit Podolski ist natürlich heilloser Schwachsinn. Nur fürs Protokoll möchte ich bemerken, dass Gosens mit 2,0 einen besseren Abi-Schnitt hat als ich und mit Psychologie ein Fach studiert, in dem auch Rene Maric einen Abschluss hat. Heutzutage reichen halt ein paar kernige Sprüche, um das neue Podolski zu werden. Schubladendenken ist real.

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Aber sei’s drum: Gosens kann nichts dafür, dass er überhöht wird. Er hat es irgendwo auch verdient. Guter Typ, noch besserer Fußballer. Sachliche Analysten werden feststellen, dass Gosens gegen Portugal einfach nur das gemacht hat, was er im Klub regelmäßig tut. Seine Stürmer-Instinkte nutzt der Linksaußen, um im richtigen Moment diagonal in den Strafraum zu sprinten. Je weiter vorne Gosens eingebunden wird und je dynamischer die Situation ist, umso besser. Bei Atalanta kriegt er regelmäßig Zuspiele in oder knapp vor dem Strafraum. In der Nationalmannschaft nun auch.

So gut Gosens seine Rolle ausfüllte: In erster Linie profitierte er von einer makellosen Mannschaftsleistung. Gerade das Thema Strafraumbesetzung hatte sich im Vergleich zum Frankreich-Spiel massiv verbessert. Gnabry, Havertz und Müller beschäftigten die drei Verteidiger im Sechzehner, sodass Gosens zwangsläufig am zweiten Pfosten freistand.

Zudem muss Gosens Abzüge in der B-Note bekommen für sein Verhalten vor dem 0:1: Während Cristiano Ronaldo zum Tiefensprint ansetzte, deckte Gosens einen toten Raum. Manndeckung wäre in dieser Situation die passende Wahl gewesen. Das hätte Havertz wiederum ermöglicht, Ronaldo aus den Augen zu lassen und sich auf Diego Jota zu fokussieren. Der stand so im ballfernen Raum vollkommen frei. Dieser Fehler soll an dieser Stelle nicht überbewertet werden. Gosens hat ansonsten ein nahezu perfektes Spiel abgeliefert als linker Wing-Back.

Blöderweise habe ich den Fehler gemacht und mir die Kicker-Noten zum Spiel angeschaut. Da wurde mir so richtig deutlich, dass der Gosens-Hype ein ganz konkretes Opfer kennt: Joshua Kimmich.

Kimmich wird als Spieler ohnehin unterbewertet. Deutschland bringt Respekt für ihn auf, aber wenig Liebe. Das Locker-Fröhliche eines Gosens geht dem Bayern-Star vollständig ab, er wirkt stets verbissen und vom Ehrgeiz getrieben. (Dass er mit 1,7 einen noch besseren Abischnitt als Gosens hat, macht die Sache nicht leichter.) Wenn Deutschland darüber diskutiert, ob Kimmich rechts oder zentral spielen soll, hat das stets einen akademischen Touch. Wirklich emotional wird die Debatte nicht geführt.

Gegen Portugal hat Kimmich ein Meisterstück als rechter Verteidiger abgeliefert. An allen deutschen Treffern war er beteiligt: Beim zweiten und beim vierten Treffer spielte er den letzten Pass, beim ersten Tor den vorletzten und beim dritten Treffer war er als drittletzter Spieler am Angriff beteiligt.

Das Video startet beim dritten deutschen Treffer. Einfach mal auf Kimmichs Position achten.

Das dritte Tor unterstreicht, wie wahnwitzig Kimmichs Leistung war: Er beteiligte sich an diesem Treffer als vorderster deutscher Akteur, quasi als Mittelstürmer. Während Havertz den rechten Flügel besetzte, rückte er ins Zentrum und spielte eine Doppelpass-Ablage auf Müller. Kimmich schien in diesem Spiel alles zu sein: klassischer Flankengeber auf rechts wie erster Mann im Spielaufbau, einrückender Außenspieler wie Aushilfs-Stürmer.

Und was macht der kicker? Gibt Kimmich eine 2,0. Eine 2,0!!! Was zur Hölle hätte Kimmich denn besser machen sollen? Hätte er noch mehr Tore vorbereiten sollen? Hätte er noch mehr als 94% seiner Pässe zum Mitspieler bringen müssen? Muss man erst selbst ein Tor schießen, damit das Fachblatt für Fußball den besten deutschen Spieler dieser Tage mehr zubilligt als die Abitur-Durchschnittsnote von Gosens???

Ich entschuldige mich für den Ausbruch. Noten sind im Fußball ohnehin Quatsch. Kicker-Noten sind ein billiger Adressat für diesen Rant. Es ist ja nicht nur der Kicker: Fast jeder Bericht schwärmt vom leidenschaftlichen Gosens und lässt den still-brillanten Kimmich einfach links liegen. Das ist leider das Schicksal eines Spielers wie Kimmich: Er performt zu regelmäßig zu konstant, als dass man Schwankungen nach oben wahrnimmt. So wichtig Gosens Leistung und seine Rolle als Identifikationsfigur für die Stimmung im Land sind: Willst du Europameister werden, brauchst du einen Überspieler wie Kimmich, der in allen Spielphasen und -situationen brilliert.

Portugal und das Potential

Jetzt stimme ich an dieser Stelle bereits in die Lobeshymnen auf das deutsche Team ein. Eigentlich wollte ich das vermeiden. Denn dazu erschienen mir die Portugiesen an diesem Abend zu schwach. Als neutraler Zuschauer drängt sich die Frage auf: Wie kann Portugal nur zulassen, dass Deutschland viermal per Flanke auf den zweiten Pfosten einen Treffer erzielt? Wieso hatten sie vor dem Spiel keinen Plan gegen diese Spielzüge? Und warum hat Trainer Fernando Santos nicht spätestens nach den ersten zwei Gegentoren taktisch reagiert? Die Einwechslung von Renato Sanchez zur Pause änderte nichts, aber auch rein gar nichts an den portugiesischen Problemen.

Portugal, so brutal es klingt, war einfach nicht gut. Daran ändern auch vereinzelte Konter über Cristiano Ronaldo wenig. Schaut man sich das Potential der portugiesischen Mannschaft an, müsste nämlich eigentlich mehr herauskommen als ein paar vereinzelte Konter. Sieben der elf portugiesischen Startelf-Spieler haben in dieser Saison in der K.O.-Runde der Champions League gespielt! Diese Mannschaft muss keine vier Gegentore gegen Deutschland kassieren.

Mein Schock über die portugiesische Schwäche sollte nicht so stark sein. Ja, die Portugiesen haben eine Goldene Generation. Diese Generation hat sich mit dem EM-Sieg 2016 bereits in die Geschichtsbücher geschrieben. Doch überzeugende Spiele der portugiesischen Nationalmannschaft lassen sich an einer Hand abzählen. 2016 wie 2018 konnten sie mit ihrem strategisch defensiven Stil kaum überzeugen.

Der Versuch, eine pass- wie spielstarke Mannschaft defensiven Fußball aufzudrücken, ging nie so richtig auf. Leider hat der EM-Titel 2016 Portugal in diesem Weg bestätigt – und auch in seiner Trainerwahl. Das Urteil mag harsch wirken. Doch Fernando Santos weckt in mir nicht das Gefühl, er wisse, wie er das fußballerische Potential dieser Mannschaft abrufen kann.

Auch 2021 kann es für Portugal noch weit gehen. Das Turnierformat und die individuelle Klasse machen es möglich. Wenn ich aber bedenke, wie viel Freude eine Mannschaft mit Bernardo Silva, Bruno Fernandes und Raphael Guerreiro machen könnte – dann bleibt einfach nur die Enttäuschung zurück.

Kurze Beobachtungen

  • Wenn Sie die Debatte „Warum wechselt Gareth Southgate nicht Jadon Sancho ein?“ mochten, dürfte Sie auch interessieren: Warum verschmäht Luis Enrique Dribbelwunder Adama Traore? Der flexibel einsetzbare Dribbler kommt gerade aus einer Premier-League-Saison, in der er einen Rekord für die meisten erfolgreichen Dribblings aufstellte. Nun brachte das spanische Kurzpassspiel weder gegen Schweden noch gegen Polen den gewünschten Erfolg. Trotzdem schmorte Traore 180 Minuten auf der Bank. Seine Dribblings mögen weniger gut in engen Räumen funktionieren als jene von Sancho. Einen Versuch wäre es gegen Polen trotzdem wert gewesen, zumal die Spanier in der zweiten Halbzeit nicht einmal mehr im Passspiel brillierten.
  • Pünktlich zum finalen Spieltag der Gruppenphase erscheinen viele Debattenbeiträge zum Modus der EM (siehe Leseempfehlungen). Und das völlig zurecht! Das System, nach dem vier Gruppendritte weiterkommen, ist unfair und befördert Manipulationen. Das deutsche Team weiß am finalen Spieltag ganz genau, welches Ergebnis für ein Weiterkommen reicht, während die Schweiz vielleicht drei Tage warten muss, nur um dann zu erfahren: Sorry, ihr seid raus! Wenn ich mir etwas wünschen würde, dann wären dies eine Abkehr vom 24er-Format.
  • Wo wir aber schon einmal beim Thema Auslosung sind: Diese fördert ein zweites Problem zutage. Dadurch dass die Achtelfinal-Paarungen bereits gelost sind, kann es auch hier zu Mauscheleien kommen. Beispiel Engländer: Werden sie gegen Tschechien auf Sieg spielen? Sie träfen als Gruppensieger auf den Zweiten der Gruppe F; also wahrscheinlich Deutschland oder Frankreich. Bei einem Unentschieden wären sie Gruppenzweiter – und dürfen gegen den Zweiten der Gruppe E ran. Was besser ist, sei den Engländern überlassen. Das Problem lautet eher, dass sie das überhaupt überlegen dürfen. Mein persönlicher Wunsch: Die K.O.-Runde sollte erst nach Abschluss der Gruppenphase ausgelost werden. Das würde zwar logistische Probleme mit sich bringen; die Teams könnten nicht vorher planen, in welcher Stadt sie spielen und in welchem Hotel sie übernachten. Das können die Gruppendritten derzeit aber auch nicht. Insofern wäre die Lösung, den Gruppenersten einen festen Spielort im Achtelfinale zuzusagen, und den Gegner darauf zu losen, keine große Veränderung zum Status Quo. Es würde aber Möglichkeiten zu Mauscheleien in der Vorrunde senken.

Leseempfehlungen

Sportschau: Modus sorgt für viele Probleme – und soll 2024 trotzdem gelten

The Guardian: Having 24 teams is unwieldy but Euro 2020 is a step up in quality on France

The Athletic: Germany’s new Raumdeuter Kai Havertz arrives on the international scene just when they needed him most

Das Titelbild, das Joshua Kimmich zeigt, stammt von Granada, Lizenz: CC BY-SA 4.0.

One thought on “Eschers EM-Tagebuch, Tag 9: Der vergessene Joshua Kimmich

  1. Die einzelnen Kritikpunkte am Modus kann ich nachvollziehen. Die kritische Haltung insgesamt finde ich aber recht einseitig, und vor allem werden einige Punkte vermischt.

    Im Prinzip geht es dir, Chaled und Jonah um drei verschiedene Aspekte:

    1) 24er-Feld mit Qualifikationschance für Gruppendritte:
    Der Nachteil der Tabelle der Gruppendritte über die Gruppen hinweg liegt auf der Hand.
    Und doch hat das 24er-Feld auch große Vorteile: Im 16er-Feld 2008 fehlte England, 2012 Belgien. Ich mag es, wenn alle Großen bei der Endrunde dabei sind. Auch braucht es mindestens 24 Teilnehmer, um ein Achtelfinale zu spielen. Ich mag die 8 zusätzlichen K.O.-Spiele.
    Alle Sportturniere wachsen. EM, WM, Olympische Spiele. Zurecht. Es gibt mehr Länder als früher (!) und mehr Länder haben Interesse an diesen Wettbewerben. Da halte ich es für eine vernünftige Entwicklung, die Zahl derer, die sich für eine Endrunde qualifizieren, nach und nach zu erweitern.
    Für mich spricht in Summe mehr für 24 Teilnehmer als dagegen. Trotz des Nachteils mit den Gruppendritten.

    2) Gruppen an sich:
    Insofern eine interessante Wendung, als ich über den neuen Champions-League-Modus bisher fast nur Kritisches gelesen habe.
    Aber meiner Meinung nach auch davon ab nicht zu Ende gedacht. Auch eine Gesamtligatabelle führt dazu, dass jene Teams nahe am Cut warten müssen, ob sie sich fürs Achtelfinale qualifizieren, und dass es Situationen geben würde, in denen sich Manipulationssituationen einstellen. Es sei denn, der letzte Spieltag wäre für alle Team gleichzeitig – was wiederum niemand wollen kann.

    3) Fester Turnierbaum vs. Auslosen ab Achtelfinale:
    Das Beispiel England halte ich für falsch (die werden niemals freiwillig aus das Heimspiel als Gruppenerster verzichten), aber die Idee gefällt mir.

    Übergreifend gilt: Dass es in einzelnen Spielen um nichts geht oder taktiert (manipuliert) werden kann, liegt immanent an Systemen mit Tabelle, bei denen der Tabellenplatz wichtiger ist als die Punkte.

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