Philipp Lahm macht Werbung für Philipp Lahm

Zwei Wochen nach dem deutschen WM-Aus meldet sich Philipp Lahm mit einer Thesensammlung zu Wort, die es auf den ersten Blick in sich hat. Die junge Generation: egoistisch. Löws Führungsstil: überholt. Die Erdogan-Debatte: vom DFB schlecht gehandhabt. Mit manchen Aussagen trifft Lahm einen wunden Punkt. In der Gesamtheit ist Lahms Text aber ein wenig stimmiges Potpourri aus kaum haltbaren Thesen, die nur ein Ziel haben: sich selbst in ein möglichst gutes Licht zu rücken.

Dabei möchte ich gar nicht Lahms grundsätzliche These anfechten, nach der die Spieler heute stärker an ihre eigene Karriere denken als an ihre Mannschaft. Tatsächlich gibt es für diese These genügend Anhaltspunkte. Durch die Nachwuchsleistungszentren ist Fußballspieler ein Ausbildungsberuf geworden. Die Spieler entwerfen heute bereits in der Pubertät Karrierepläne mit ihren Beratern. Der Fußball hat sich in diesem Punkt in den letzten zehn, zwanzig Jahren gewandelt. Trainer aus den Nachwuchsleistungszentren beklagen diese Kultur des Egoismus bereits seit Längerem unter der Hand an.

Doch lässt sich dieses grundsätzliche Problem des deutschen Fußballs, das Lahm anspricht, tatsächlich mit dem Ausscheiden bei der WM 2018 verknüpfen, wie Lahm dies tut? Das Hauptproblem von Lahms Argumentation: Schon seine Grundprämisse ist faktisch nicht haltbar. „Die Generation an Spielern, die 2014 das Gerüst der Mannschaft gebildet hat, ist zwar bereits in den Jugendleistungszentren ausgebildet worden, hat aber noch zu Hause, bei ihren Familien gelebt. Das heißt, sie sind nicht nur von den Trainern der Leistungszentren fußballerisch ausgebildet worden, sondern haben gleichzeitig eine Prägung durch ihre Familien erlebt.“

Tatsächlich hat sich in den vergangenen Jahren die Zahl der Nationalspieler erhöht, die ihre Jugend in den Internaten der Vereine verbracht hat. Spieler wie Joshua Kimmich, Niklas Süle, Antonio Rüdiger, Sebastian Rudy, Marvin Plattenhardt und Julian Brandt sind allesamt bereits vor der A-Jugend in ein Internat eingezogen. Zusammen kommen die Internats-Spieler aber nicht einmal auf 600 der 2970 deutschen Einsatzminuten. Bis auf Kimmich war keiner der jungen NLZ-Internatsschüler eine Säule der Mannschaft.

Im Gegenteil: Auch 2018 hat noch eine Generation an Spielern „ das Gerüst der Mannschaft gebildet“, die bei ihren Familien groß geworden ist. Manuel Neuer, Jerome Boateng, Sami Khedira, Thomas Müller, Mesut Özil und Timo Werner haben allesamt sehr lange bei ihren Eltern gelebt. Auch Schüsselspieler und Champions-League-Sieger Toni Kroos zog erst in der A-Jugend ins Internat der Bayern, vorher lebte und spielte er in seiner Heimatstadt Greifswald. Der 2014er-Vergleich wird noch hanebüchener, wenn man bedenkt, dass Bastian Schweinsteiger, unbestritten einer der Schlüsselspieler des Weltmeister-Teams, mit 16 Jahren in das Internat von Bayern München zog.

Lahm liefert ohnehin kaum Anhaltspunkte, warum die Prägung durch die Familie ein derart wesentlicher Faktor sein soll für den angeblich weniger ausgeprägten Egoismus der älteren Generation. „Ein wesentlicher Grundstein dieser familiären Prägung ist für mich der Blick fürs Ganze: für die Familie, aber auch für die jeweilige Mannschaft, deren Teil du bist“ – ein nichtssagender Satz, der in dieser Form auch gut in einem Flyer des CSU-Heimatministeriums stehen könnte.

Seine Schlussfolgerung, die heutige Generation bräuchte wieder eine stärkere Führung, dürfte ebenfalls kaum zu halten sein. Der Confed Cup 2017 vermittelte schließlich ein gänzlich anderes Bild: Hier schien eine Gruppe an Spielern, die wesentlich jünger war als die Mannschaft 2018, sehr gut auf Löws kollegialen Führungsstil anzusprechen.

Auch auf der allgemeineren Ebene würde ich anzweifeln, dass eine vermeintlich egoistischere Generation eine straffere Führung benötigt. Lahm listet vermeintliche Fragen auf, die sich die junge Generation stellt: „Wie komme ich weiter? Was hilft meiner Karriere? Welche Begleitumstände sind für mich am besten?“ Ein guter Trainer muss Antworten auf diese Fragen geben. Wieso sollte ein Spieler, der wissen will, wie ihm eine taktische Rolle in einem System weiterbringt, auf eine autoritäre Führung ala „Du machst, was ich dir sage!“ positiv reagieren?

Die Idee, dass die Spieler der Generation Nachwuchsleistungszentrum eher überzeugt als geführt werden wollen, ist kein Hirngespinst von mir. Ralf Rangnick betonte, dass die junge Generation von Spielern sehr viel aufgeschlossener sei gegenüber Neuem, sagte aber auch: „Du musst dir als Trainer deine Autorität jeden Tag aufs Neue erarbeiten. Die Spieler müssen merken, dass sie durch dein Wirken als Trainer stetig verbessern.“ Domenico Tedesco entwickelt seine taktischen Ideen immer mit den Spielern zusammen: „Das ist entscheidend. Denn wenn der Spieler im Training „Ja!“ sagt, dann muss es auch im Spiel „Ja!“ sein.“ Hier vermischt sich die autoritäre mit der kooperativen Art der Führung. Viele Wege führen nach Rom; ob die heutige Spielergeneration ausschließlich auf autoritäre Ansagen reagiert, wage ich zu bezweifeln. Sie befriedigen nicht das Handlungsmotiv vieler Jungprofis, ihre eigene Leistung zu verbessern.

Weder Grundprämisse noch Schlussfolgerung von Lahms Text sind also zu halten. Gewiss hatte Löws Führungsstil tatsächlich einen Einfluss auf das Ausscheiden. Er war aber nicht der einzige Grund, wie Lahm es suggerieren will „… Das Trainerteam weiß noch immer sehr genau, welche taktischen Kniffe und Tricks es anwenden muss, um die Fähigkeiten unserer Spieler ideal zur Geltung zu bringen.“ Selbst ich, der bekanntermaßen Löw verteidigt habe in den vergangenen Jahren und auch nach dem Vorrunden-Aus, finde eine solche Aussage nach den gezeigten Leistungen geradezu grotesk.

Die sportliche Leistung mag nicht so schlecht gewesen sein, wie sie im Nachhinein gemacht wurde. Aber die schlechte Konterabsicherung gegen Mexiko, die Schwäche bei eigenen Standards, die fehlende Chancenerarbeitung durch das Zentrum – all das waren sportliche Missstände, für die das Trainerteam zur Verantwortung zu ziehen sind. Wenn dann ein Timo Werner plötzlich auf dem Flügel zum Einsatz kommt und ins Eins-gegen-Eins-Dribbling gehen soll, während Leroy Sane den Sommer in der Heimat verbringt, muss man die Nominierungspolitik Löws infrage stellen – und nicht nur seinen Führungsstil, wie Lahm es tut.

Lahm wagt also nur scheinbar einen frontalen Angriff auf Löw: Er klammert sämtliche Fehler von Löw abseits dessen Führung aus. Stattdessen redet er über ein Thema, das massentauglich genug ist, um damit Überschriften zu generieren. Zeitgleich schont er Löw ein Stück weit, indem er sagt, dass er ihm eine solche Veränderung zutraue. Ein Scheinaufreger, der seine Beziehung zu Löw nicht weiter belasten dürfte.

Das Ganze garniert Lahm mit pseudo-intelligenten, aber weitestgehend nichtssagenden Thesen. „Es ist die Aufgabe des Trainerteams, seinen Spielern zu jeder Zeit die notwendige Identifikation mit der Mannschaft zu vermitteln… Führung bedeutet, die Lage hellwach zu sondieren und auch die eigenen Methoden auf den Prüfstand zu stellen und neu zu bewerten… Er muss Individualisten klar machen, dass sie Verantwortung für die gesamte Mannschaft tragen.“ Sätze, bei denen jeder mit dem Kopf nickt – eben weil sie so banal sind, dass sie kaum falsifizierbar sind. Oder wer würde behaupten, Führung bedeute, die Lage mit geschlossenen Augen zu ignorieren und die eigenen Methoden nicht auf den Prüfstand zu stellen?

Im Endeffekt versucht Lahm, anhand eines aktuellen Aufreger-Themas sich selbst ins Gespräch zu bringen und die eigene Kompetenz zu unterstreichen. Er tut dies auf die typische Lahm-Art: Er tritt nach unten, auf die junge Spielergeneration und die durch die Erdogan-Affäre angeschlagenen Özil und Gündogan, anstatt nach oben auszuteilen, an die sportliche Führung. Es ist nicht das erste Mal, dass Lahm solch eine Taktik anwendet. Bereits 2010 nutzte er die Gunst der Stunde, um sich als permanenter Nachfolger zu bewerben für den nicht bei der WM befindlichen Kapitän Michael Ballack. 2011 kritisierte er in seiner Biographie öffentlichkeitswirksam seine Ex-Trainer, während er seine aktuellen Trainer über den Klee lobte. Auch in diesem Text ist Lahm so kritisch, wie er sein muss, um gehört zu werden, aber eben nicht kritischer als nötig.

Vielleicht geht Lahms Taktik ja auf und er selbst profitiert von diesem Text. Einen entscheidenden Beitrag zur Aufklärung des deutschen WM-Aus liefert er allerdings nicht.

Das Titelbild mit Philipp Lahm stammt von Steindy, Lizenz: CC BY-SA 3.0

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