WM-Tagebuch, Finale: Das Beste kam zum Schluss

Da ist das Ding. Nach vier erfolglosen Anläufen durfte Lionel Messi im fünften Versuch endlich den lang ersehnten WM-Pokal in die Luft recken. Als Gonzalo Montiel den entscheidenden Elfmeter versenkte, versammelte sich die gesamte Mannschaft um Messi. Wenn es noch eines Beweises bedurfte, wem dieses Team den Pokal widmete – man sah ihn in der Sekunde des Siegs. Die Kameras folgten in der nächsten Stunde Messi, wie er zunächst den Pokal als bester Spieler entgegennahm und dann – in einem seltsamen Dress – den WM-Pokal erhielt. Später trugen ihn die Fans auf Schultern durch das Stadion.

Es war ein langer, steiniger Weg zu diesem Triumph. Zweimal sah Argentinien bereits wie der sichere Sieger aus. Nach der 2:0-Führung schien das Spiel bereits in der ersten Halbzeit auszuplätschern. Frankreich gab bis zur 68. Minute keinen Torschuss ab, ehe Kylian Mbappe mit einem Doppelpack sein Team aus dem Nichts zurückbrachte. Als Messi dann in der Verlängerung das 3:2 erzielte, wirkten sie abermals wie der sichere Sieger – nur um erneut von Mbappe gestoppt zu werden. Zwei Tore Messi, drei Treffer Mbappe: Es war das Privatduell der zwei Superstars dieser WM.

Natürlich war dies nicht die einzige Geschichte, die dieses Finale schrieb. Lasst uns hineintauchen in die Analyse eines herzzerreißenden Fußballspiels.

Di Maria als Schlüsselspieler

Vor dem Spiel rätselte ich, welche taktische Variante beide Trainer wählen werden. Frankreichs Trainer Didier Deschamps ging wie erwartet vor. Er stellte seine beste Mannschaft auf in der bekannten Mischung aus 4-3-3 und 4-2-3-1. Der französische Weltmeister-Trainer ist nicht bekannt für taktische Experimente.

Ganz anders Lionel Scaloni. Er hatte sich bereits in mehreren Spielen taktische Pläne ausgedacht, um sich an den jeweiligen Gegner anzupassen. Gegen Frankreich überraschte er mit einer Personalie: Erstmals seit dem Achtelfinale stand Angel di Maria wieder in der Startelf. Während di Maria in der Gruppenphase und gegen Polen auf dem rechten Flügel zum Einsatz kam, schickte ihn Scaloni im Finale auf den linken Flügel.

In der ersten Halbzeit sollte sich dieser Kniff als entscheidender Faktor entpuppen. Frankreich stand – wie jede andere Mannschaft des Turniers – vor der Herausforderung, Lionel Messi zu stoppen. Er agiert am Liebsten aus dem halbrechten Halbraum. Hier empfängt er Bälle, startet ins Dribbling, gestaltet das Spiel. Viele Gegner entschieden sich, in dieser Zone zusätzliche Verteidiger aufzustellen.

Nicht so Frankreich. Die Franzosen blieben ihrer Struktur treu. Das bedeutete, dass sie gerade im Mittelfeld zahlenmäßig unterbesetzt waren. Kylian Mbappe verblieb als Linksaußen weit vorne, auch Olivier Giroud stockte das Mittefeld nicht auf. Es war allein an Aurélien Tchouaméni, Adrien Rabiot und Antoine Griezmann, Argentiniens offensives Mittelfeld zu stoppen. Gegen Messi erhielten sie Unterstützung von den Verteidigern – allerdings nicht zu viel. Frankreich wollte nicht die Gasse öffnen für geniale Messi-Pässe.

Um Messi aufzuhalten, musste Frankreichs Mittelfeld auf seine Seite verschieben. Weit auf seine Seite. Rabiots Heatmap wirkte lange Zeit so, als würde er linker Verteidiger spielen und nicht etwa linker Achter. Die gesamte französische Formation war verschoben in Richtung Messis Seite.

Auftritt Angel di Maria. Er lauerte auf dem linken Flügel für Verlagerungen. Ousmane Dembele war sich nicht immer einig mit sich selbst, ob er nach hinten kommen und di Maria verfolgen soll – oder ob er lieber vorne auf Konter lauert. Die Abstimmung mit Außenverteidiger Kounde verlief katastrophal, sodass di Maria hier eigentlich immer frei an den Ball kam. Und wenn er erst einmal startete, war er nicht zu stoppen.

Dass dieser Kniff so gut funktionierte, hatte einen weiteren Hintergrund. Sein Name war Enzo Fernandez. Als Sechser genoss er gegen Frankreich überraschend viele Freiheiten. Giroud lief ihn zwar einige Male an, so richtig in Manndeckung nahm er ihn aber nicht. Offenbar hatte Giroud mehr Respekt vor Amrabat als vor Fernandez. Der Elfmeter, der zum 1:0 führte, war ein Angriff, den Scaloni so am Reißbrett geplant haben dürfte. Fernandez konnte den Ball im Zentrum führen. Frankreich zog sich zusammen, Rabiot und Upamecano richteten ihre Blicke auf Messi. Der Ball ging jedoch nach Linksaußen, wo di Maria freistand. Er umkurvte Dembele und holte den Elfmeter aus.

Frankreich: Auferstanden von den Toten

So gut Argentinien vorbereitet war: Die erste Halbzeit war auch ein erschütterndes Dokument französischer Fahrlässigkeit. Wie stark hier die Erkältungswelle hineinspielte, welche das Team unter der Woche plagte, wird Gegenstand von Spekulationen bleiben. Die Franzosen wirkten nicht so spritzig wie die Argentinier. Das war aber nicht alles. Wie so oft in der Vergangenheit wirkten sie schlecht auf den Gegner vorbereitet. Defensiv bekamen sie keinen Zugriff auf Messi, offensiv hingen die Angreifer in der Luft.

Wie erbost Trainer Deschamps von der Leistung seines Teams war, zeigte sich in der 41. Minute. Noch in der ersten Halbzeit mussten Giroud und Dembele das Feld verlassen. Es kamen mit Kolo Muani und Marcus Thuram zwei Bekannte aus der Bundesliga.

Doch auch die frühen Wechsel verbesserten das Spiel nicht. Die Idee, Mbappe ins Sturmzentrum zu stellen, verwarf Frankreich schnell wieder. Bald griff Thuram durch die Mitte an, Mbappe kam über die linke Seite und Muani über rechts. Frankreich stabilisierte sich nun zumindest defensiv. Di Maria ging die Kraft aus, er verließ nach 64 Minuten das Feld. Muani hatte zuvor besser gegen ihn ausgesehen als Dembele.

Obwohl ich die Phase nach der 70. Minute mittlerweile zweimal angesehen habe, bin ich mir noch immer nicht sicher, warum sich das Spiel so plötzlich drehte. Frankreich hatte bis zur 68. Minute keinen einzigen Torschuss verbucht. Danach kamen immerhin sechs dazu.

Ein Faktor dürfte die nachlassende Kraft der Argentinier gewesen sein. Während sie in der ersten Halbzeit famos im 4-4-2 pressten, zogen sie sich nun weiter zurück. Wie schon gegen die Niederlande verzichteten sie darauf, über Ballbesitz das Spiel zu verwalten. Zwischen der 60. Minute und dem zweiten französischen Treffer nach 81 Minuten gab es die einzige Phase des Spiels, in der Frankreich mehr Ballbesitz sammelte als Argentinien.

Scaloni verzichtete darauf, einen weiteren Verteidiger einzuwechseln. Das wäre vielleicht nötig gewesen. Nach der Auswechslung von Griezmann griffen die Franzosen im 4-2-4 an. Ein zusätzlicher Verteidiger hätte eine Überzahl in der letzten Linie bewirkt. So konnte Frankreich über die schiere Präsenz an der letzten Linie Szenen erzwingen, obwohl sie in allen anderen Bereichen des Feldes eigentlich nicht gut aufgestellt waren.

All die taktischen Erklärungen greifen letzten Endes zu kurz. Frankreich erzielte die beiden Tore innerhalb einer kurzen Zeitspanne. Beide Treffer wurden eingeleitet durch unnötige Ballverluste der Argentinier. Die einfachste Erklärung, warum Frankreich wiederkam, findet sich in ihrer individuellen Brillanz. Auf der halbrechten Seite war Muani kaum zu stoppen, und auf links drehte Mbappe den Swag-Regler auf vollen Anschlag. Sie wuchteten Frankreich in die Verlängerung.

Das Drama! DAS DRAMA!!!

So unerklärlich Argentiniens Kontrollverlust war, so unerklärlich war auch die Tatsache, dass sie mit Anpfiff der Verlängerung plötzlich wieder die Kontrolle erlangten. Sie versuchten nun wieder, den Gegner in Messis halbrechten Raum zu ziehen, um anschließend die freien Lücken auf den Außen zu finden. Lautaro Martinez war hier ein wichtiger Puzzlestein mit seinen Tiefenläufen, vor allem aber die unermüdlich ackernden Außenspieler hielten den Druck hoch.

Defensiv bekamen die Argentinier den französischen Vier-Mann-Sturm nicht gebändigt, was zur wohl besten Verlängerung dieser Weltmeisterschaft führte. Es gab Chancen auf beiden Seiten, zwei Tore – und eine Parade von Emiliano Martínez, die nicht von dieser Welt war. So konnte sich Argentinien wenige Sekunden vor Schluss in das Elfmeterschießen retten.

Der Rest ist Geschichte.

Die Helden dieses Finale, sie haben viele Namen. Emiliano Martínez ist sicher einer von ihnen, nicht nur wegen seines gehaltenen Elfmeters. Enzo Fernandez unterstrich, warum er zurecht den Award als bester junger Spieler des Turniers gewann. Alexis Mac Allister und Rodrigo de Paul opferten sich mal wieder für ihre Kollegen auf. Auf der anderen Seite hätte allein Mbappe den Pokal verdient gehabt. Mit 23 Jahren steht er nun bei zwölf WM-Toren, also auf einer Stufe mit Messi und Pele. Miroslav Kloses Rekord liegt nur noch vier Tore entfernt. Mit seinen drei Toren gegen Argentinien ist er schon jetzt der Spieler mit den meisten Final-Toren.

Und doch gebührte dieser Sieg Messi. Auch im Finale versprühte er wieder jene Magie, die aus erwachsenen Männern wie mir kleine Jungen werden lässt. Wie er den Ball weiterleitet, sich am Gegner vorbeidreht, fünf Gegenspieler auf sich zieht, nur um mit einer Verlagerung die gesamte Abwehr zu entblößen: Das entzieht sich jeder analytischen Betrachtung. Ich bin froh, dass ich Messi zuschauen darf. Er hat mir so viel Freude geschenkt – da war es schön zu sehen, dass dieser WM-Pokal ein Lächeln auf sein Gesicht zaubert. Er hat ihn sich verdient. Nicht nur er: Die gesamte argentinische Mannschaft hat sich diesen Titel verdient. Sie sind ein würdiger Weltmeister.

Kurze Beobachtungen

  • Ich muss gestehen: Nach dem argentinischen Sieg floß eine kleine Träne bei mir. Die Fifa schaffte es jedoch schnell, sämtliche Emotionalität in mir wieder abzutöten. Die Siegesfeier war eine reine Katastrophe. Sie dauerte nicht nur viel zu lang. Sie beging auch den Fehler, die Gratulanten mehr zu feiern als die eigentlichen Sieger. Gianni Infantino zwängte sich in jedes Bild. Der Emir von Katar war dankenswerterweise etwas dezenter. Warum Messi bei der Übergabe ein seltames schwarzes Tuch tragen musste, dürfte höchstens der Emir wissen. Statt echter Emotionen gab es die klassische Fifa-Show. Die Musik schallte über die Lautsprecher, das Feuerwerk sorgte für „Oh“ und „Ah“. Zeit für echte, ungeskriptete Bilder? Nicht mit Infantino.
  • Ein großes Lob gebührt dem polnischen Schiedsrichter Szymon Marciniak. Französische oder argentinische Fans finden sicher Argumente, warum einer der Elfmeter gegen sie garantiert keiner war. Ich fand seine Linie jedoch überzeugend. Vor allem seine Art der Kommunikation imponierte mir. Marciniak pfiff sofort, er wartete nicht die Meinung seiner Assistenten oder des VAR ab. Das Finale lag in guten Händen.
  • Ich habe gestern vor dem Finale ein Fazit zur WM angefangen. Da es bereits im unfertigen Zustand fast 2000 Wörter umfasst, werde ich es als separaten Blog-Artikel posten. Der Artikel sollte am heutigen Nachmittag folgen. Damit wäre diese Weltmeisterschaft nach 27 Beiträgen für mich beendet. Insofern braucht niemand wehmütig zu werden. Der Abschied verzögert sich um einige Stunden.

Leseempfehlungen

The Athletic: Special report: Qatar, the World Cup and the war on truth

The Guardian: Forget Fifa’s power play – Qatar’s World Cup has displayed international football at its finest

New Yorker: How Grant Wahl Changed the Place of Soccer in America


Das Titelbild stammt von Kyrill Venedikt, Lizenz: CC BY-SA 3.0.

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