Aus. Aus. Das Spiel ist aus. Vier Wochen lang war die Welt zu Gast in Katar. Es wurde diskutiert, gefeiert, boykottiert, wieder diskutiert und am Ende auch ein wenig Fußball gespielt. Was bleibt von dieser Weltmeisterschaft?
Die nüchterne Bilanz
Betrachtet man das Turnier nüchtern, muss man zunächst einmal der Fifa widersprechen. Wenn wir die Bewertung rein auf die Organisation des Turniers reduzieren, haben wir sicher nicht „die beste WM aller Zeiten“ erlebt. Die Stimmung vor Ort mag gut gewesen sein. Selten übertrug sich diese Stimmung auf den Zuschauer am TV-Bildschirm. Als Lionel Messi eine Stunde nach Abpfiff des WM-Finals durch das Stadion getragen wurde, saß fast niemand mehr im Publikum. Man vergleiche das mit den Szenen bei vergangenen Weltmeisterschaften, als noch Stunden nach dem Abpfiff die Fans auf den Tribünen feierten. In Erinnerung blieben auch die Bilder der Spiele des Gastgebers, als die Fans bereits in der Halbzeit das Stadion verließen. Stimmung lässt sich nicht von oben verordnen.
Sogar in der K.O.-Runde klafften sichtbare Lücken auf den Tribünen der Stadien. So gut wie nie gelang es den Organisatoren, sämtliche Stadionbesucher rechtzeitig auf ihre Plätze zu schleusen. Zur Stimmung trugen fast ausschließlich Fans aus Südamerika und aus der arabischen Welt bei. In Doha mögen sich auf kleinstem Raum tausende Menschen getroffen und ein großes Fest gefeiert haben. Diese Atmosphäre transportierte sich selten nach außen.
Dennoch hat FAZ-Autor Michael Horeni nicht Unrecht, wenn er schreibt, dass gerade Deutschland sich an Katar messen lassen muss. In zwei Jahren findet hierzulande die Europameisterschaft statt. Wir haben die Chance, ein Turnier auf die Beine zu stellen, das Inklusion lebt und zugleich bombastische Stimmung aus den Stadien in die Welt trägt.
Zugleich weist Horeni nicht zu Unrecht darauf hin, dass wir von Katar lernen sollten – zumindest im organisatorischen Bereich. Der Wüstenstaat bot manches, woran es in Deutschland hakt: eine reibungslose Internetversorgung etwa oder eine auf die Sekunde pünktliche Metro. Der Vergleich eines arabischen Emirats mit einem mitteleuropäischen Flächenland mag unfair klingen. Doch gerade im Bereich der Digitalisierung kann niemand behaupten, Deutschland gehöre zur Weltspitze. Es wird sicher manchen internationalen Journalisten geben, der in zwei Jahren stöhnt, wenn die Bahn mal wieder eine Stunde zu spät kommt oder das Internet im Stadion nicht funktioniert.
Die sportliche Bilanz
Der Gastgeber hatte das große Glück, dass gleich mehrere Nationen sich während der WM auf einer historischen Mission befanden. Brasiliens Elf um Superstar Neymar wollte sich aus dem Schatten der Vergangenheit lösen, Cristiano Ronaldo ein letztes Mal angreifen, Frankreich die historische Titelverteidigung erringen, Marokko Geschichte schreiben für Afrika, Arabien und vor allem für sich selbst. Diese Geschichten prägten die Weltmeisterschaft.
Keine Geschichte strahlte so hell wie jene von Lionel Messi. Allen war bewusst, dass dies Messis letzte Weltmeisterschaft sein wird: den argentinischen Fans, den Spielern, vor allem aber Messi selbst. Wie ein alternder Rocker lieferte er noch einmal ein Medley seiner besten Hits, von unglaublichen Assists über großartige Dribblings bis hin zu zahlreichen Toren. Das funktionierte nicht mehr über 90 oder gar 120 volle Minuten. Aber situativ sahen wir in Katar den Messi, der uns 15 Jahre lang verzaubert hat. Dass er am Ende den Pokal gewann, war das folgerichtige Ende dieses Turniers.

Argentinien bot den taktisch flexibelsten Fußball der WM. Doch auch die anderen Teilnehmer spielten modernen, teils spektakulären Fußball. Spanien und Deutschland lieferten sich bereits in der Gruppenphase ein Spiel, das man sonst nur in der Champions League erlebt. England und Frankreich duellierten sich in der K.O.-Runde auf noch höherem Niveau. Für die Wow-Effekte sorgten Argentiniens Spiel gegen die Niederlande oder die atemberaubenden Leistungen der Brasilianer und Portugiesen im Achtelfinale. Wer Underdog-Geschichten liebt, musste mit Marokko mitfiebern. Sportlich war für jeden etwas dabei.
Das ist keine Selbstverständlichkeit. Bei den vergangenen Turnieren war man froh, auch nur ein Spiel zu erleben, das die Dramatik des diesjährigen Finals erreicht hat. Die WM in Katar mag uns eine historisch hohe Anzahl an 0:0-Ergebnissen geschenkt haben. Ab dem Achtelfinale fielen jedoch auch mehr Treffer als je zuvor in einer K.O.-Phase. Diese Torflut sorgte nicht nur für spannende, sondern auch für spektakuläre Spiele.
Sportlich profitierte diese Weltmeisterschaft von ihrem historisch einmaligen Zeitpunkt. Die großen Stars des Weltfußballs reisten mitten in der Saison nach Katar. Fast alle standen vollständig im Saft, niemand wirkte erschöpft von einer körperlich wie emotional anstrengenden Saison. Bei manchen Akteuren wirkte es fast so, als hätten sie ihr Training so ausgelegt, dass sie Anfang Dezember ihr körperliches Plateau erreichen. Kein Champions-League-Finale und kein Meisterschaftsrennen standen dem im Weg. Eine Weltmeisterschaft kitzelt zudem bei jedem Spieler zusätzliche Energiereserven frei, egal ob sie in England oder Katar stattfindet.
Auch die Trainer trugen ihren Teil zum hohen Niveau bei. Die Trends, die wir im Klubfußball seit einem halben Jahrzehnt beobachten, sind flächendeckend bei den Nationalmannschaften angekommen. Das bedeutet: flache Spieleröffnung aus der Abwehr, mitspielende Torhüter, ausgeklügeltes Positionsspiel, eine weit nach vorne schiebende Abwehrreihe.
Fast alle Viertelfinalisten haben diese Trends befolgt, wenn auch mit einem Fokus auf Stabilität. Es war schließlich noch immer eine WM, und eine Niederlage kann hier schon das Ausscheiden bedeuten. Wir Deutschen haben das schmerzlichst zu spüren bekommen. Diesen Fokus auf Stabilität würzten alle erfolgreichen Teams mit einer ganz eigenen Spielweise. Alle Viertelfinalisten unterschieden sich voneinander in ihrer Herangehensweise, teils sogar krass. Nachdem das Spiel dreißig Jahre lang immer globaler und damit uniformer wurde, nationalisiert sich die Weltmeisterschaft wieder ein Stückchen weit. Rein sportlich gesehen tat das dem Turnier gut.
Beizeiten habe ich in den Sozialen Medien die Einschätzung gelesen, es sei die langweiligste WM aller Zeiten gewesen. Das dürfte eher das Wunschdenken der Boykott-Fraktion gewesen sein. Seit der EM 2000 verfolge ich Fußball-Turniere intensiv. Die WM 2022 war reicher an Höhepunkten und Geschichten als jedes andere Turnier in dieser Zeit. Der Sport hat nicht viel übrig für die Frage, unter welchen Bedingungen eine Weltmeisterschaft vergeben wird.
Die Kontroversen
In Deutschland schlug diese Weltmeisterschaft große Wellen, aber anders als sonst. Katar wurde seit Jahren heiß diskutiert als Gastgeber. Ihren Höhepunkt erreichte die Welle der Erregung rund um den Beginn der Weltmeisterschaft. Zig unterschiedlichste Themen hatten sich aufgetürmt. Beschwerden über eine WM im Winter oder ein Alkoholverbot im Stadion standen plötzlich gleichberechtigt neben Themen wie Katars Umgang mit Arbeitsmigranten oder der unendlichen Gier im internationalen Sportsystem. Alles wurde in einen Topf geworfen und solange vermischt, bis ein kaum zu verdauender Brei entstand. Alina Schwermer schrieb: „Es entstand eine Eigendynamik des Ekels, die irgendwann völlig das Maß verlor.“
Zugleich blieb die Ablehnung zu diffus für konstruktive Forderungen, gekränkt im eurozentrischen Fußballweltbild („Schlechte Stimmung“, „Winter-WM“, „Keine Tradition“). Es entstand eine Eigendynamik des Ekels, die irgendwann völlig das Maß verlor. Dass Ultras in Massen zum Frauenfußball oder Amateursport gingen, war empowernd, zeugt aber auch von einem unterkomplexen Verständnis: das vermeintlich Echte und Bodenständige gegen den bösen Kommerz. Es fehlt nicht nur Funktionär:innen, sondern auch vielen Organisator:innen von Protest an kritischem Wissen.
Alina Schwermer in der taz
Überhaupt trifft Alinas Einschätzung zur Boykottbewegung viele Nägel auf dem Kopf. Ich mag mit ihren Schlussfolgerungen selten übereinstimmen; dazu ist mein eher liberales Weltbild zu weit von ihren linken Forderungen entfernt. Aber wenn sie schreibt, der deutsche Boykott habe mehr Interesse an Haltung gehabt als an Wirkung, muss ich heftig mit dem Kopf nicken.
Zwischenzeitlich ging es hierzulande um alles, nur nicht mehr um die Frage, die doch eigentlich vor der WM die drängendste war: Wie soll man umgehen mit einem reichen Staat, der für uns wirtschaftlich unabkömmlich ist, dessen Reichtum aber zugleich auf der Ausbeutung von Menschen aus ärmeren Ländern fußt und der ein erzkonservatives, fundamentalistisch-religiöses Weltbild verfolgt? Schon bei der Fragestellung lässt sich erahnen, wie komplex die Antworten auf diese Frage ausfallen müssen. Ausbeutung durch quasi-staatliche Unternehmen, globale Migrationsströme, Profiteure im Westen und im Osten, Unterschiede zwischen arabischer und europäischer Lebenswelten und der Einfluss eines kleinen Golfstaates auf Unternehmen und Verbände: All das sind hochkomplexe Themen, über die sich zu reden lohnt.
So weit kam die Debatte selten. Sie endete zu oft bei „Katar ist böse“ und „15.000 Menschen mussten sterben für diese WM“. Dass letztere Zahl nicht nachweisbar ist, dass überhaupt so vielen Menschen wichtig zu sein scheint, eine exakte Zahl der Toten benennen zu können, erscheint mir grotesk. Als wäre nur ein toter Mensch ein Opfer eines Systems der Ausbeutung. Und genau das ist es ja: ein System der Ausbeutung. Sicherlich, Katar ist nicht der erste Staat, der Immigranten schikaniert, und er tut das nicht einmal auf die schlimmstmögliche Art. Ein Blick über die Grenzen nach Saudi-Arabien oder in die Vereinigten Arabischen Emirate würde genügen. Von den Reformprozessen, die Katar angestoßen hat, sind diese Staaten meilenweit entfernt. Dennoch lässt sich nicht in Abrede stellen, dass Menschen in Katar übermäßig lange arbeiten in einem gefährlichen Klima – und dann teilweise nicht einmal ihren Lohn erhalten.

Die Fifa brüstet sich damit, mithilfe dieser WM Katar zu Reformen verleitet zu haben. Es ist eine falsche Sichtweise. Der internationale Druck zwang Katar, Reformen anzukündigen. Ob diese in einem halben oder zwei Jahren noch Bestand haben, wenn die internationale Medienkarawane weitergezogen ist – daran darf man Zweifel haben.
Was die Fifa aber getan hat, fasste Nicholas McGeehan recht treffend zusammen. „Die Menschen sollten wütend sein über ein Fußballturnier, das eine Millionen zusätzliche Migrantenarbeiter in dieses System geschleust hat.“ Ja, den Wanderarbeitern in Katar wäre es keinen Deut besser ergangen, hätte die WM in Australien oder den USA stattgefunden. Aber es wären deutlich weniger Menschen in dieses System geraten. Das ist die Schuld der Fifa. Diese wehrt sich indes immer noch gegen einen Hilfsfonds für die Menschen, die mit dem Bau der Stadien die Weltmeisterschaft überhaupt erst ermöglicht haben.
Insofern sympathisiere ich auch nach dem Abpfiff der WM mit denjenigen, die mit diesem Turnier nichts zu tun haben wollten. Kein Fußballspiel der Welt war das Leid wert, das für die Ausrichtung dieser Spiele notwendig war. So wird Katar für mich nicht nur als sportlich starke, sondern auch als unnötige WM in Erinnerung bleiben. Die Qualität der Spiele wäre nicht schlechter gewesen in Australien, Indien oder Paraguay.
Die Grenzen des Protests
Gleichzeitig hat mir diese WM jede Hoffnung genommen auf einen ernsthaften Versuch, Wandel in das korrupte System der Fifa zu bringen. Zu viele Menschen innerhalb des Systems profitieren. Von außerhalb kann dieser Druck nur aus Europa kommen. Der Rest der Fußballwelt schert sich kaum um die Rechte von Arbeitern oder Minderheiten. Und wer will es ihnen auch verübeln? Ein kenianischer Fan erlebt zu Hause wesentlich schlechtere Arbeitsbedingungen als der nepalesische Wanderarbeiter in Doha, ein chinesischer Anhänger lebt genauso unfrei wie ein homosexueller Katari, ein argentinischer Fan freut sich, auch endlich ein Sommermärchen zu erleben. Wieso sollten sie sich zwanghaft über etwas aufregen, nur weil wir uns aufregen?
Die einzige Möglichkeit, die bliebe, wäre ein echter europäischer Boykott. Kein halbgarer wie der deutsche, der im internationalen Vergleich untergeht. Nicht etwa der Welt diktieren, wie eine Fußball-WM abzulaufen hat oder dass sie unbedingt zu dem Zeitpunkt stattfinden muss, der uns Europäern am besten passt. Es sollte um so banal klingende Dinge gehen wie die Frage, ob tatsächlich Menschen ausgebeutet werden müssen für den Bau von Stadien in der Wüste, die nachher sowieso niemand mehr nutzt. Ob es nicht möglich sein kann, alle Menschen willkommen zu heißen, unabhängig von Herkunft, Sexualität und Geschlecht.
Es gäbe Argumente für all das, die über ein einfaches „Ihr macht es falsch!“ hinausgehen. Gesellschaften profitieren nachweislich von einer fairen Behandlung aller Arbeiter, im Sinne von höherer Kaufkraft, weniger Verbrechen und einer höheren Produktivität der einzelnen Arbeiter. Ähnliche Argumente lassen sich für das Thema Gleichberechtigung finden. Wir diskutieren solche Fragen aber nicht mehr auf einer Sachebene, sondern nur noch als Haltungsfragen. Wenn der Gegenüber eine andere Haltung einnimmt, verteufeln wir ihn.
Nancy Faesers Auftritte vor und während der WM stehen für mich sinnbildlich für den deutschen Umgang mit diesen Themen. Vor der WM war ihr wichtig, vom Gastgeber den Satz zu hören, Homosexuelle seien während der WM in Katar sicher. Während der WM posierte sie mit der „One Love“-Binde auf der Tribüne. Beide Aktionen haben ihr Respekt eingebracht bei allen, die ihre Haltung teilen. Für die Verhältnisse vor Ort dürften sie nichts gebracht haben, im Gegenteil: Die deutsche Haltung hat viele in der Welt vor den Kopf gestoßen. Man könnte sagen: Haltung 100%, Wirkung 0%.
Letzte Abfahrt vor der Verzwergung
Im deutschen Protest steckte auch immer eine Art Selbstvergewisserung: Der deutsche Weg ist der richtige, der katarische ist der falsche. Wenn dieses Turnier aber eins unterstreicht, dann die bittere Wahrheit, dass die westliche Hegemonie an ihre Grenzen stoßt. Wirtschaftlich holen die Staaten Asiens rasant auf. Autoritäre Herrscher greifen die westliche Vorherrschaft mit zunehmendem Selbstbewusstsein an, unterstützt von einer wachsenden Mittelschicht in ihren Ländern, die immer stärker die nationale Propaganda ihrer Führer aufsaugt. Sie erfreuten sich an der WM in Katar. All sports, no politics!
Europa ist nicht mehr der Nabel der Welt. Prognosen zufolge wird Europas Anteil am weltweiten Bruttosozialprodukt bis 2050 auf unter 10% sinken. Beim Bevölkerungsanteil liegen wir bereits jetzt bei 10%, bis 2050 könnten wir auf 7% fallen. Deutschland stellt nicht einmal mehr einen Prozent der Weltbevölkerung. Wir sind nur ein kleiner Teil einer großen Welt.

Der Fußball ist hier nur ein Schauplatz von vielen. Aber er ist für uns ein wichtiger. Der mittelalte europäische, zumeist männliche Fußball-Fan war es gewohnt, dass sich das Spiel seinen Sehgewohnheiten angepasst hatte. Um ihn drehte sich die Welt – vor allem die Welt der Sponsoren, welche das Geld gaben. Das bedeutete: Weltmeisterschaften fanden im Sommer statt, es wurde Bier getrunken und Schwein gegrillt, während wir die Spiele in Ländern verfolgten, deren Städtenamen uns bekannt klangen.
Doch diese Zeit endet. Für jeden europäischen Sponsor, der abspringt, öffnet eine saudi-arabische, chinesische oder indonesische Firma das Scheckbuch. Es schauen mehr als genug Menschen zu. Die Fifa kann auch mit dieser WM neue Zuschauer- und Einnahmenrekorde vermelden. Das hat viel mit dem Siegeszug der mobilen Bildschirme zu tun. Selbst ärmste Menschen in Afrika besitzen heutzutage Smartphones und können auf den Geräten WM-Spiele schauen. Doch nicht nur so lassen sich die Rekorde erklären. Fußball entwickelt sich zum beliebtesten Sport in Asien, er macht riesengroße Schritte in Nordamerika. Warum sollte es die Fifa jucken, wenn in Deutschland 14 statt 21 Millionen Menschen das Finale schauen? Der potenzielle Markt in Indien, China und Indonesien umfasst drei Milliarden Menschen.
Diese Verschiebungen im Machtgefüge verstehen wir Europäer nur langsam. In Deutschland kommen diese Veränderungen noch langsamer an, solange wir als größtes europäisches Land zumindest auf diesem Kontinent noch großen Einfluss genießen. Irgendwann müssen wir aber anfangen, uns der Frage zu stellen, wie wir in einer globalisierten Welt bestehen wollen. Wie wir Menschen in anderen Ländern überzeugen können, dass wir unseren Weg nicht nur aus Bequemlichkeit gehen, sondern dass es gute Gründe dafür gibt.
Diese WM sollte ein Anlass sein, darüber nachzudenken, wie wir Verbündete gewinnen. Saudi-Arabien steht bereits in den Startlöchern, um Weltmeisterschaft 2030 auszutragen. Sie wollen sich mit Ägypten und Griechenland zusammentun. Dieses Paket strahlt viel aus: Eine Länder, Regionen und Ethnien umspannende Weltmeisterschaft! Man mag sich gar nicht ausmalen, wie die Fifa solch ein Turnier für ihre eigenen Zwecke ausschlachtet.
Der europäische Fußball hat noch immer viel zu bieten – und sei es nur, dass die besten Spieler der Welt hierherkommen, um Millionen zu verdienen. Dieses Gewicht könnte der europäische Fußball nutzen. Nicht noch einmal sollten wir in die Situation kommen, politischen Protest auf die Ebene des privaten Boykotts zu delegieren. Die Fans können nichts verändern, die Spieler sind die falschen Ansprechpartner für solch komplexe Themen. Vom DFB braucht es nicht nur mehr Haltung – sondern auch mehr Wirkung abseits von der Hoffnung, irgendwann mal wieder ein Turnier ausrichten zu dürfen.
Wenn wir unseren Ansatz nicht verändern, stehen wir in acht Jahren wieder am selben Punkt. Dann können wir erneut Haltung zeigen, während der Rest der Welt eine Party in einem Land feiert, das Menschenrechte mit Füßen tritt. Aber der Fußball, der wird sicher wieder gut sein.
Danksagung und Blick in die Zukunft
An dieser Stelle gilt es nur noch, Dank zu sagen. Ein herzliches Dankeschön an all die Geduldigen da draußen, die Tag für Tag die Beiträge gelesen haben. Ich hoffe, meine Ergüsse zum Fußball und zum Drumherum dieses Turniers haben euch Freude bereitet!
Wie bereits vorgestern angedeutet, überlege ich, im kommenden Jahr ein Angebot zur Fußball-Bundesliga zu starten. Ich würde in ähnlicher Form wie in diesem Tagebuch den wöchentlichen Wahnsinn des deutschen und europäischen Fußballs begleiten. Spruchreif ist hier aber noch nichts. Wer auf dem Laufenden bleiben möchte, abonniert am Besten den Newsletter.
Zum Schluss bleibt mir nur noch, euch eine besinnliche Weihnachtszeit zu wünschen. Genießt die Fußball-freie Zeit! Gar nicht mehr lange, dann geht es schon wieder mit der regulären Saison los. Ich muss noch schauen, ob ich den Sprung von Argentinien gegen Frankreich zu Werder gegen Köln schaffe. Es wird auf jeden Fall ein paar Tage dauern!
Das Titelbild stammt von Tim Reckmann, Lizenz: CC BY 2.0.
Danke für das Tagebuch und vor allem diesen letzten Eintrag.
Wie ich uns so kenne, werden wir ganz schön daran zu knabbern haben, dass wir schlicht nicht mehr den Einfluss in der Welt haben (werden) wie es uns unserer Meinung nach zusteht. Sowohl im Fußball als auch in vielen anderen Bereichen.
Aber da ja gerade einen super-duper-Expertenrat aus zukunftsgewandten, unkonventionellen Spezialisten vom DFB eingesetzt wurde, wird sich zumindest auf der Ebene sicher einige tun. Und vermutlich wird es in den VIP-Logen der EM Stadien dann auch flächendecken W-LAN geben.
Danke für die schöne Zeit Tobi! Hat immer Spaß gemacht deinen Blog zu lesen!
Was die Zukunft bringt wird man sehen, fußballtechnisch sehe ich den Kommerz aber noch lange nicht ausgereift, allerdings werden da andere Ligen klare Vorreiter sein (I am looking at you premier league). CL Reformen für mehr Kohle, mehr Teams bei FIFA und UEFA. Das Ausschlachten geht munter weiter.
Und dennoch, Fussball wird weiter geliebt werden und das auch zurecht. Aber immer schön kritisch bleiben 😉
Was ein Schlusswort. Ich hab selten Texte gelesen mit denen ich mich so identifizieren kann wie mit deinen. In einem WM Blog das komplexe Weltgeschehen so besonnen mal eben mit dem Sport Fußball zu verknüpfen ist schon bemerkenswert. Dass ich mal Fan von einem Journalisten werde, hätte ich auch nicht gedacht. Danke für dieses Tagebuch, deine Bücher und ich freue mich auf kommenden Content.
Diesen Kommentar hätte ich auch so denken können, evtl. aber nicht ganz so gut in Worte packen können 🙂
Stimme voll zu. Vielen Dank Tobi!
Amen. Der Beitrag fasst die WM (und ein bisschen von der Welt drumherum) perfekt zusammen. Danke für das Tagebuch, was das einzige WM-Format abseits einiger Livespiele war, das ich komplett verfolgt habe.
Da geht es hier meistens um Fußballstrategie und -taktik und dann haut der Escher auch mal einen für mich gut verständlichen Überblick über die Politik der Welt raus. Und der Überblick ist nicht angenehm, aber nach allem logischen Denken sehr richtig. Europa hat sich auch ausgesprochen lange ausgeruht auf seine „Führung“, während die anderen vor allem lange Zeit keinen Wert auf die restliche Welt legten. Und plötzlich sind sie da und die Veränderungen sind rasant. Nicht unvorstellbar, dass auch das „Fußballgefüge“, also die dortige Rangordnung in 10 Jahren mehr durcheinander kommen wird. Fußball wird finanziell auch auf den anderen Kontinenten relevanter und das hält und zieht Talente an. Wenn dann ein Topathlet dann nicht zu einem Einzelsport wechselt, sondern zum Fußball, dann verändert das extrem viel.
Vielen Dank für die WM Begleitung. Was deine Überlegungen angeht dieses Tagebuchformat auch auf die Bundesliga zu übertragen bzw. das gute alte Bloggen wieder zu reaktivieren: Zur letzten EM hattest Du meiner Erinnerung nach ähnliche Überlegungen angestellt. Die Frage ist also: Warum hast Du dich damals dagegen entschieden und sind diese Kontrapunkte jetzt behoben?
Rein finanziell würde sich deine Expertise bei 11freunde oder anderen Fachmagazinen wahrscheinlich lukrativer gestalten.
Danke für das WM-Tagebuch! Ich habe heute bei der Buchhandlung in unserem Stadtteil „bezahlt“. 🙂
Danke Tobi!
„Was die Fifa aber getan hat, fasste Nicholas McGeehan recht treffend zusammen. „Die Menschen sollten wütend sein über ein Fußballturnier, das eine Millionen zusätzliche Migrantenarbeiter in dieses System geschleust hat.“ Ja, den Wanderarbeitern in Katar wäre es keinen Deut besser ergangen, hätte die WM in Australien oder den USA stattgefunden. Aber es wären deutlich weniger Menschen in dieses System geraten. Das ist die Schuld der Fifa. […] Insofern sympathisiere ich auch nach dem Abpfiff der WM mit denjenigen, die mit diesem Turnier nichts zu tun haben wollten.“
Die Schlussfolgerung, dass ohne die WM deutlich „weniger Menschen in das System geraten“ wären und das daraus resultierende Gefühl der Sympathie (insofern es aus diesem Sachverhalt heraus entsteht), basiert kritisch auf der Annahme, dass ohne die WM tatsächlich auch weniger Wanderarbeiter nach Katar gekommen wären und dort gearbeitet hätten und nicht lediglich auf anderen Projekten. Dass diese Alternativhypothese nicht vollkommen abwegig ist, ist auf zwei Faktoren bzw. Ursachen zurückzuführen:
(1) Die Golfstaaten inklusive Katar sind seit Jahrzehnten eine einzige große Dauerbaustelle und der Bedarf an Arbeitsmigranten ist konstant hoch, auch außerhalb der WM (die Bevölkerung Katars ist nach 2010 allerdings um 40 % gewachsen); und
(2) Das Elend vieler Menschen in den Herkunftsländern der Arbeitsmigration in die Golfregion ist _so groß_, dass sich viele derer, die auf den WM-Baustellen gearbeitet haben, mutmaßlich auch ohne die WM auf den Weg Richtung Katar gemacht hätten, um dort Arbeit zu finden.*
Insofern stellt sich die Frage, was der dominante Treiber der Arbeitsmigration in diesem Kontext ist respektive war: Das Elend der Menschen Süd- und Südostasiens, welches sie nach Katar und in andere Golfstaaten treibt, um dort Arbeit zu finden, oder die FIFA mit ihrer WM als „Pull-Faktor“, ohne den durch sie induzierten Bedarf diese Menschen ihren Weg nicht angetreten hätten? Die Antwort ist nach meinem Dafürhalten zumindest nicht unmittelbar offensichtlich und daher sind es auch sämtliche auf diesem Umstand basierende Schlussfolgerungen und negativen Affekte gegenüber der FIFA nicht.
Versteh mich bitte nicht falsch, ich finde die FIFA auch schrecklich, sie ist ein korrupter, nach mafiösen Logiken funktionierender Laden, dessen Handeln auf allen Ebenen sich wieder und wieder als vollkommen indifferent gegenüber üblichen Vorstellungen von Anstand, Moral und Professionalität präsentiert, in sinnfälligster Form verkörpert von dem grotesk-widersprüchlichen Herrscher Infantino an ihrer Spitze. Aber gerade das Leid der Wanderarbeiter in Katar als zentrales sachliches und emotionales Argument gegen die FIFA ins Feld zu führen, und dann auch noch unter Bezugnahme auf eine vermutete Differenz des Leids zu einem Szenario ohne WM in dem Land, finde ich nicht sonderlich überzeugend.
*Insofern finde ich auch den von McGeehan in seinem ansonsten lesenswerten Artikel angeführten Vergleich der Situation der Arbeitsmigration nach Katar mit der Sklaverei nicht besonders treffend. Wenn ich mich recht erinnere, sind während der Zeit der Sklaverei die Sklavenhändler aus ihren Heimatländern gezielt in andere Länder aufgebrochen und haben dort Menschen als Sklaven eingepackt und nach Hause gebracht. Ich glaube nicht, dass Katar das macht, also etwa in Nepal Menschen einkauft und sie dann nach Katar auf die Baustellen verschifft. Diese Menschen kommen (leider) freiwillig (gezwungen durch die Umstände), das macht in der Bewertung einen signifikanten Unterschied.
Ansonsten danke Tobi für Deine stilistisch ebenso wie inhaltlich herausragende WM-Begleitung hier im Blog. Mir geht es wie vielen anderen hier, Deine Seite ist die einzige Berichterstattung mit WM-Bezug, die ich in den letzten Wochen gewissenhaft und mit Interesse verfolgt habe. Ganz großes Tennis.
Danke, Tobias, für dein Tagebuch im Allgemeinen und dieses Fazit im Speziellen!
Es führt die kognitive Dissonanz während dieser WM noch einmal gut vor Augen, wird dazu mit der Einbindung von Horeni und Schwermer um Themen bereichert, die bislang (zumindest für mich) gänzlich unbeleuchtet blieben.
Auch wenn man Systemversagen nicht individualisieren sollte, stellt sich für mich trotzdem die Frage, wie ich persönlich mit Profifußball in Zukunft umgehen möchte, wie ich diese Unterhaltungsbranche fortan konsumieren möchte. Denn mein WM-Boykott der Live-Übertragungen war auch nur 100 % Haltung, 0 % Wirkung. Der hat in erster Linie mein anerzogenes, katholisches Gewissen beruhigt.
Was deine Frage über die Zukunft deines Blogs betrifft, so kannst du diese letztlich nur selbst beantworten. Ich persönlich stehe diesen zahlreichen Mini-Bezahlschranken sehr skeptisch gegenüber und habe meine liebe Not mit den gestückelten Übertragugsrechten. An Artikeln zur Deutschen Bundesliga oder europäischen Bewerben mit Fokus auf die deutschen Teilnehmer habe ich grundsätzlich wenig Interesse.
Ich denke, dass der Blog auch am ehesten als Auffangbecken für Aspekte und Themen taugt, die in deiner täglichen Arbeit keinen Platz finden und dadurch in weiterer Folge als Werbeplattform für deine Bücher dient. Die stehen übrigens bei mir daheim im Regal nud eines davon aktuell am Nachttisch.
Vielen Dank – ein starker Text.
Ich habe hier gefunden, was ich überall anders vergeblich gesucht habe.
Zwei Anmerkungen zum Inhalt:
Es spricht Bände, dass einerseits enorm viel öffentlicher Druck auf die Haltung der Nationalmannschaft abgeladen wird, zeitgleich aber still und heimlich ein Neuer Gas Deal mit Katar abgeschlossen wird.
Zum Thema Haltung vs Sachebene kann ich sehr den Essay „Kon-formismen“ von Marcus Quent empfehlen.
Achso und, um es einmal festzuhalten:
Messi und Mbappe haben jeweils die ersten Elfmeter geschossen.
Dass die Kritik Deutschland’s an Katar in weiten Teilen der Welt belächelt wurde, liegt daran, dass vielen klar ist dass wir Wasser predigen aber Wein trinken. Wir exportieren unsere Menschenrechtsverletzungen einfach in Billiglohnländer, profilieren uns als Waffenlieferanten in so ziemlich allen gewalttätigen Konflikten weltweit, wir lassen unsere Senioren weitab der Familie in Altersheimen krepieren und unsere hochgelobte Demokratie ist auch eher ein Schauspiel, welches der Bevölkerung etwas von Einflussnahme vorgaukelt, während wichtige Entscheidungen über die Köpfe der Menschen hinweg in Kreisen ungewählter (und unabwählbarer) EU Kommissariate getroffen werden.
Es ist unsere Unfähigkeit zur Selbstreflektion, die zu diesem kapitalen Eigentor geführt hat.