WM-Tagebuch, Tag 28: Alle Augen auf Messi und Mbappe!

Advent, Advent, ein Lichtlein brennt. Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier, dann steht das WM-Final‘ vor der Tür! Während Deutschland heute die vierte Adventskerze anzündet, feiert Katar nicht nur seinen Nationalfeiertag, sondern auch das Endspiel des größten Sportereignisses der Welt. Wer holt den Titel? Argentinien oder Frankreich? Lionel Messi oder Kylian Mbappe? Ich blicke voraus auf das Endspiel und noch einmal zurück auf 25 Ausgaben WM-Tagebuch.

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Frankreich gegen Argentinien. Mbappe gegen Messi.

Ich starte mit meiner persönlichen Meinung. Wenn der Fußballgott barmherzig ist, schenkt er Argentinien den Weltmeister-Titel. Lionel Messi hat ihn sich nach seiner langen Karriere verdient. Hinzu kommt, dass Argentinien über weite Strecken ein überzeugendes Turnier bot. Sie trotzten Rückschlägen wie der Auftakt-Niederlage gegen Saudi-Arabien und ließen sich auch vom späten 2:2 der Niederländer nicht beirren. Sie wären ein würdiger Weltmeister.

Es ließen sich auch gute Argumente für Frankreich finden. Doch während die Argentinier wie eine Mannschaft wirken, die mehr ist als die Summe ihrer Teile, werde ich bei Frankreich das Gefühl nicht los, dass mehr möglich wäre: mehr Spielfluss, mehr Kompaktheit, mehr individuelle Brillanz. Für mich fühlt es sich falsch an, würde Frankreich die erste Nation seit Brasilien 1962, die den Titel verteidigt. Ich habe wenig Lust, in ein paar Jahren erklären zu müssen, dass Frankreich 2018 und 2022 gar nicht so gut war, wie die Ergebnisse suggerieren.

Doch Fußball ist kein Wunschkonzert. Der Fußballgott erhört keine Gebete, er erhört Leistungen. Argentinien und Frankreich werden den Weltmeister am Samstagnachmittag in Lusail ausspielen.

Die Analysen vor dem Spiel kreisen sich um die beiden Superstars. Lionel Messi und Kylian Mbappe sind die Fixsterne ihrer Mannschaften. Sie in Szene zu setzen, wird auch im Finale das große Ziel ihrer Mitspieler sein. Interessanterweise dürften die beiden Superstars auf derselben Seite des Spielfelds auflaufen. Messi fühlt sich auf der halbrechten Seite wohl, während Mbappe bisher als Linksaußen zum Einsatz kam. So sähe die taktische Gemengelage aus, würden beide Teams der Aufstellung aus dem Halbfinale vertrauen:

Dass beide Teams mit dieser Variante auflaufen, darf aus mehreren Gründen bezweifelt werden. Der einfachste Grund zeigt sich direkt bei einem Blick auf die Grafik: Messi hätte in dieser Variante zu viel Raum. Mbappe arbeitet nicht weit nach hinten mit, auch der Sechser neben Tchouaméni – egal ob Fofana oder Rabiot – ist kein Zerstörer. Schon Marokko gelang es, in den Raum hinter Mbappe zu stoßen. Man stelle sich vor, hier hätten nicht Hakimi und Ziyech mit ihrer Formschwäche gespielt, sondern Messi, De Paul und Molina. Ich bin kein großer Freund von Metaphern in Gewaltform, doch der Begriff „Blutbad“ würde hier wohl zutreffen.

Insofern dürfte die erste große Frage für Frankreich lauten: Wie sollen sie Messi stoppen? Deschamps ist nicht als gewiefter Taktiker bekannt. Trotzdem wird er keinesfalls auf dieselbe personelle Variante setzen wie gegen Marokko. Dagegen spricht allein die Erkältungswelle, die das französische Team plagt. Varane, Konate, Tchouameni und Theo Herandez fehlten allesamt beim Abschlusstraining – also sämtliche Spieler, die gegen Marokko die Defensive ausmachten. Upamecano und Rabiot waren hingegen dabei, obwohl sie im Halbfinale gefehlt hatten.

Umso unberechenbarer ist Deschamps Aufstellung. Wird er die eigene linke Seite mit einem weiteren Spieler stabilisieren? Eine Variante mit Fünferkette schloss er vor dem Turnier zwar aus. Frankreich hat diese jedoch während der Nations League in diesem Jahr gespielt und damit im Repertoire. Ein defensiver Sechser als Hilfe gegen Messi wäre eine Option, genauso ein extrem defensiv denkender Linksverteidiger. Deschamps könnte sogar etwas ganz Verrücktes wagen und Mbappe ins Sturmzentrum oder nach Rechtsaußen verschieben. Letztere Position hat er immerhin während der WM 2018 gespielt. Vielleicht wird es ja ein 4-4-2 geben mit einem Doppelsturm aus Mbappe und Giroud und Griezmann auf Außen?

Die wahrscheinlichste Variante dürfte jedoch sein, dass Deschamps nichts verändert. Es würde zu seiner Natur passen. Zugleich steht sein Gegenüber Lionel Scaloni ja vor einer ähnlichen Problematik wie Deschamps. Wie soll Argentinien Linksaußen Mbappe stoppen, wenn ihr rechter Stürmer überhaupt nicht nach hinten mitarbeitet? Gegen Kroatien hat das Messi-Loch in der Defensive gut gepasst. Alvarez schob auf der halblinken Seite Extraschichten im Pressing. Somit lenkte Argentinien den Spielaufbau auf die linke kroatische Seite, weit weg von Modric. Gegen Frankreich wäre das hingegen keine so gute Idee, schließlich wartet hier neben Mbappe auch der umtriebige Tchouaméni.

Auch Scaloni muss einen Weg finden, die fehlende Defensivarbeit seines Stars zu kaschieren, damit der Star des Gegners nicht das gesamte Spiel dominiert. Im Gegensatz zu Deschamps ist Scaloni jedoch durchaus ein Freund von taktischen Spielereien. Die Argentinier haben bei dieser WM bereits vom 4-3-3 auf ein 5-3-2 und schlussendlich auf ein 4-4-2-System umgestellt. Alle Varianten wären gegen Frankreich möglich:

  • Im 4-3-3 könnte Messi nominell im Sturm auflaufen. Alvarez käme über die linke Seite. Auf rechts könnte dann ein Außenstürmer aushelfen, der gegen Mbappe Defensivarbeit verrichtet, etwa De Paul.
  • Im 4-4-2 wären die beiden Flügel mit zwei Spielern gesichert. Zugleich interpretiert Argentinien das Mittelfeld hier eher eng, sodass man sich ein Übergewicht im Zentrum erarbeiten könnte. Zwei flache Viererketten könnten jedoch anfällig sein für die zahlreichen Rückwärts- und Ausweichbewegungen von Giroud und Griezmann.
  • Im 5-3-2 wären die Seiten nur einfach besetzt. Allerdings verfügt das argentinische Mittelfeld über genug Laufstärke, um herauszurücken und die Flügel zu schließen. Zugleich würde die Fünferkette in der Abwehr helfen, die Breite des Raums besser abzudecken. Damit wären die Schnittstellen besser gesichert gegen Mbappes Tiefenläufe.

Mein Bauchgefühl sagt mir, dass Argentinien mit einer Fünferkette das Spiel beginnt. Ich persönlich halte das nicht für die beste Wahl. Im 5-3-2 könnte Argentinien zu passiv agieren. Es ist auch nicht die leichteste Variante, um Frankreichs Dreier-Sturm zu begegnen. Mbappe und Dembele postieren sich sehr weit außen. Sie würden so die argentinischen Außenverteidiger binden. Im Mittelfeld stünden drei Innenverteidiger gegen nur einen gegnerischen Stürmer, Oliver Giroud – der eigentlich keine Bewachung durch drei Gegenspieler benötigt.

Möchte man das auflösen, müsste man eigentlich mit einer pendelnden Abwehrkette spielen. Sprich: Der Außenverteidiger auf der ballnahen Seite rückt weit nach vorne, die restliche Kette rückt herüber, sodass aus der Fünferkette situativ eine Viererkette entsteht:

Ich habe nicht jedes Argentinien-Spiel vor der WM gesehen. Ich kann daher nicht beurteilen, ob Scaloni diese Variante in seinem Repertoire hat. Bei dieser WM habe ich Argentinien so noch nicht verteidigen sehen. Sagen wir es mal so: Packt Scaloni tatsächlich eine funktionierende Variante dieser Art in einem WM-Finale aus, erhält er auf jeden Fall den Preis Taktiker des Turniers. Wie schnell das schiefgehen könnte, kann man bereits anhand des Bildes erahnen. Einmal nicht schnell genug nachgerückt, und schon ist Mbappe der gesamten Abwehr entwischt.

Mit dieser taktischen Vorschau habe ich den Fehler wiederholt, der sich in vielen Vorschauen zum Finale findet: Das Spiel wird auf das Duell Mbappe gegen Messi reduziert. Sie könnten, müssen aber nicht das Finale entscheiden. Es gibt noch so viel mehr Faktoren. Wird Griezmann erneut defensiv so stark aushelfen und damit das Zentrum für Argentinien verschließen? Wie gut verteidigt Frankreichs Abwehr die Chip-Bälle auf Alvarez? Hat Frankreich mit Kopfball-Künstler Giroud nicht einen massiven Vorteil gegen die klein gewachsene Abwehr der Argentinier? Könnten Flanken das Spiel der Spiele entscheiden? Und inwieweit gibt der eine Tag mehr Pause sowie das früh entschiedene Halbfinale Argentinien einen Kraftvorteil?

Die Antworten werden wir heute Nachmittag kennen. Selbst wenn ich emotional die Argentinier bevorzuge: Ein Erfolg beider Nationen wäre auf seine eigene Art verdient. Jetzt muss der Fußballgott entscheiden, welche Seite er einnimmt.

Vier Wochen Tagebuch: Ein persönliches Fazit

Das hier ist der 25. Eintrag in meinem WM-Tagebuch. Nach dem Finale folgt der 26. und letzte. Bereits vor der Europameisterschaft im vergangenen Jahr habe ich mir vorgenommen, an möglichst vielen Turnier-Tagen meine Einschätzung zum Geschehen abzugeben. Dass ich (wie bereits 2021) tatsächlich jeden Tag irgendetwas zum Schreiben gefunden habe, unterstreicht, wie viel Freude mir dieses Projekt bereitet. Ich verdiene hiermit schließlich kein Geld, sondern mache das rein aus innerem Antrieb.

Netterweise haben mich mehrere Leser gefragt, ob sie mir als Dank für das Tagebuch eine Spende zukommen lassen können. Das ist nett gemeint, aber ich bleibe dabei: Ich möchte kein Geld für diese Texte. Ich biete sie kostenfrei an. Ich habe ohnehin schon genug Geld mit der Weltmeisterschaft in Katar verdient. Ich würde mich nicht wohlfühlen, noch stärker von diesem umstrittenen Turnier zu profitieren.

Wer sich unbedingt für das Tagebuch erkenntlich zeigen will, kauft mein Buch „Was Teams erfolgreich macht“. Ich habe noch Ideen für mindestens zwei weitere Bücher. Das Schreiben kostet jedoch Zeit und damit auch Geld. Um ein Buch schreiben zu können, erhält ein Autor wie ich einen Vorschuss von einem Verlag. Damit ich diesen Vorschuss erhalte, muss der Verlag überzeugt sein, dass sich das kommende Buch gut verkaufen wird. Nichts überzeugt einen Verlag mehr, als ein Vorgänger-Buch, dass sich bereits millionenfach verkauft hat! Ganz so viele Menschen lesen diese Tagebuch-Einträge zwar nicht. Aber wenn jeder Tagebuch-Leser ein Exemplar meines Buches besäße, wäre mir schon sehr geholfen. Dann ist es mir auch völlig egal, ob ihr das Werk selber lest, verschenkt oder sofort wieder in die Mülltonne schmeißt.

Gleichzeitig reift in mir der Gedanke, nicht nur alle zwei Jahre zu Turnieren das Tagebuch zu öffnen. Es ist ein Projekt, das mir Spaß macht und zugleich von einer vierstelligen Anzahl an Menschen gelesen wird. Bereits in der Vergangenheit habe ich auf Spielverlagerung.de in unregelmäßigen Abständen Kolumnen über die Bundesliga geschrieben. Warum diese Tradition nicht wieder aufleben lassen?

Klar ist aber auch: Wenn ich den Aufwand nicht einmal alle zwei Jahre betreibe, sondern ein- oder sogar mehrmals in der Woche, muss ich dafür meine Arbeitszeit anzapfen. Das würde nur funktionieren, wenn ich mit diesen Beiträgen Geld verdienen würde. Dann wären wir wieder beim Thema Spenden, und zwar in dem Fall nicht nur freiwillig.

Der Deal sehe so aus: Ich schreibe einmal die Woche eine Kolumne, die den Tagebuch-Einträgen bei dieser WM ähneln. Dabei beschäftige ich mich mit dem Fußball im Allgemeinen und der Bundesliga im Speziellen. Zusätzlich gibt es ein bis zweimal im Monat einen längeren Artikel – ein Interview, eine Analyse, ein Essay zu einem bestimmten Fußball-Thema. Das Gesamtpaket bekäme man für zwei bis drei Euro im Monat.

Mich würde eure Meinung interessieren, ob und in welcher Form solch ein Paket für euch interessant wäre. Ich hätte große Lust darauf.

Kurze Beobachtungen

  • Wenn ich die Weltmeisterschaft noch einmal überschlage, dürfte ich circa 50 der insgesamt 64 Spiele gesehen haben. Sogar für den weiteren Turnierverlauf unwichtige Begegnungen wie Niederlande gegen Katar oder Frankreich gegen Tunesien habe ich mir im Re-Live angetan. Das Spiel um Platz drei lasse ich jedoch aus. Es gibt wohl kaum ein unwichtigeres Spiel im überfüllten Terminkalender der Fußballprofis. Ja, es hat Tradition. Doch in der Vergangenheit durfte man dabei zumeist B-Mannschaften zuschauen, die mehr über das verpasste Finale trauern als tatsächlich um Platz drei kämpfen. Insofern gebe ich offen zu: Ich kann nichts zu der Frage beitragen, warum Kroatien die Bronzemedaille gewonnen hat.
  • Ich habe im Tagebuch-Eintrag kurz die Klickzahlen der Beiträge angeschnitten. Um hier transparent zu sein: Am meisten geklickt wurden die Posts zum deutschen Ausscheiden sowie mein Ranking der Achtelfinalisten. Katastrophen und Top-Listen funktionieren eben immer. Zahlenmäßig bewegen sich diese Beiträge im hohen vierstelligen Bereich. Gleichzeitig ließ das Interesse nach dem deutschen Aus merklich nach. Die Top-Artikel mögen sich genauso gut oder teilweise sogar besser geklickt haben als beim EM-Tagebuch, aber der Schnitt an normalen Tagen lag deutlich unter 2021. Die deutsche WM-Müdigkeit zeigt sich also auch in meinen Klickzahlen. Interessanterweise gilt diese Tendenz weniger für traditionelle Nachrichtenportale. Kollegen der großen Portale sagten mir in Gesprächen, dass ihre Klickzahlen außerordentlich hoch seien. Einige Menschen, die das Turnier am Fernseher boykottierten, holten sich ihre WM-Nachrichten offensichtlich online ab.
  • Die Artikel in den „Leseempfehlungen“ hänge ich meist kommentarlos an den Tagebuch-Eintrag an. Entsprechend selten werden die Links geklickt. Ich möchte aber heute die Empfehlung aussprechen, eine der Leseempfehlungen tatsächlich zu lesen. Nicholas McGeehan beschäftigt sich mit dem Thema Menschenrechte in den Golfstaaten seit vielen Jahren. Er hat nun auf Medium.com einen langen Beitrag geschrieben zum Umgang mit dem WM in Katar: zur Kritik am Gastgeber, zu der Kritik an der Kritik und zur Frage, wieso die Kritik an der Kritik mehr zu verfangen scheint als die Kritik selbst. So gut hat meiner Meinung nach noch kein Artikel herausgearbeitet, welche Kritikpunkte an Katar wirklich kritikwürdig sind, warum Fifa und Katar diese Kritik an sich abperlen lassen und wie sich in der Debatte um den Gastgeber zu viele Aspekte vermischten.

Leseempfehlungen

Medium: Qatar 2022. The Backlash

The Athletic: Ranking all 77 goals ever scored in the World Cup final

Süddeutsche Zeitung: Der Geist von Katar


Das Titelbild zeigt Kylian Mbappé und stammt von Football.ua, Lizenz: CC BY-SA 3.0.

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