WM-Tagebuch, Tag 26: Der faule französische Einser-Schüler

Aus, aus, der Traum ist aus. Marokko wollte das erste afrikanische Land werden, das ein WM-Finale erreicht. Der Traum zerschellte auf die grausamste Weise: Sie müssen nach einem guten Spiel gegen Frankreich abreisen. Die Franzosen taten nicht mehr, als sie mussten, was für mich wieder einmal die Frage aufwirft: Wie soll man diese französische Elf einschätzen?

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Frankreich: Ist gut spielen überhaupt wichtig?

Ich weiß nicht, ob es ein Zeichen des Respekts vor dem Gegner war, dass Oliver Giroud Marokkos Sechser Sofyan Amrabat in Manndeckung nahm. Oder ein Zeichen totaler Respektlosigkeit. Natürlich ist es auf den ersten Blick lobenswert, dass die Franzosen den Außenseiter im Halbfinale ernstnehmen und ihre eigene Taktik an den Gegner anpassen. Wenn diese Anpassung aber in Form einer solchen Manndeckung erfolgt, frage ich mich schon: Wie viel Arbeit ist in diese Taktik hineingeflossen? Haben zig Analysten die Köpfe zusammengesteckt, nur um am Ende zu dem Entschluss zu gelangen: „Das Beste, was wir gegen Marokko tun können, ist unseren Stürmer den gegnerischen Sechser manndecken lassen. Wird schon schiefgehen!“

„Wird schon schiefgehen!“ war überhaupt das Motto des französischen Spiels gegen die Marokkaner. Nach einer frühen Führung dem Gegner den Ball zu überlassen, ist ganz der französische Weg. Frankreich spielte in die Karten, dass sich die Marokkaner mit der Umstellung auf ein 5-4-1 ihrer eigenen Stärken im Mittelfeld beraubten. So konnte Frankreich aus einer stabilen Defensive relativ leicht das Spiel totstellen. Zumindest bis die frühe Verletzung von Romain Saïss Marokkos Coach Walid Regragui einen Vorwand brachte, seine verkorkste Umstellung auf eine Fünferkette zurückzunehmen. Marokko griff fortan im bewährten 4-3-3 an.

Spätestens ab diesem Zeitpunkt fragte ich mich, was die gesamte französische Ausrichtung soll. Das marokkanische 4-3-3 war ja eigentlich die Variante, die man vor dem Spiel erwarten konnte. Es war völlig logisch, dass die Marokkaner im Falle eines Rückstands versuchen werden, ihre rechte Seite ins Spiel zu bringen. Nach der Pause lief eigentlich jeder Angriff über diesen Flügel. Achraf Hakimi und Hakim Ziyech spielten sich hinter dem defensiv abwesenden Kylian Mbappe die Bälle zu, als hätte Frankreich nie gehört, dass die beiden Jungs an guten Tagen zu den besten Flügelspielern der Welt zählen. Zwischen dem Wiederanpfiff der zweiten Halbzeit und der 65. Minute spielte Frankreich zehn Pässe ins letzte Drittel. Ziyech allein spielte 13. Chelseas Bankdrücker durfte solange den Ball erhalten, bis er irgendwann vergessen hatte, dass er sich eigentlich in einer tiefen Formkrise befindet.

Frankreichs Reaktion auf Marokkos Angriffe über die rechte Seite? Giroud ging, Thuram kam. Thuram übernahm Mbappes Position und arbeitete etwas fleißiger mit nach hinten. Mbappe wiederum ersetzte Giroud im Zentrum, wodurch nun natürlich Amrabat freistand. Wer konnte nur damit rechnen, dass Mbappe ihn nicht manndeckt? Amrabat bediente fortan Ziyech und Linksaußen Abdessamad Ezzalzouli gleichermaßen. Der französische Wechsel machte ihr Defensivspiel also nur marginal besser. Erst der Treffer in der 79. Minute und die ausgehende Kraft der aufopferungsvoll kämpfenden Marokkaner verhinderten, dass ein wahrer marokkanischer Sturmlauf entbrannte.

Fassen wir zusammen: Marokko dominierte das Spiel. Die Elf hatte ein klares taktisches Übergewicht auf der rechten Seite, das sie auch ausnutzten. Frankreichs einzig halbwegs vernünftige taktische Idee war eine Manndeckung auf den Sechser, die sie dann aber auch aufgaben. Phasenweise luden sie den Gegner geradezu ein, ins letzte Drittel vorzustoßen. Wohlgemerkt einen Gegner, der durchaus über Durchschlagskraft verfügt, anders als etwa Kroatien gegen Argentinien. Marokko wusste nicht immer etwas mit den 60% Ballbesitz anzufangen. Sie kamen aber wesentlich öfter in den Strafraum als die meisten anderen Gegner Frankreichs. Immerhin 30mal berührten sie im gegnerischen Sechzehner den Ball.

Und trotzdem gewinnt Frankreich 2:0, lässt bis zur Nachspielzeit nur 0,3 Expected Goals zu und kann das Spiel in der Schlussviertelstunde austrudeln lassen. Wie kann das sein?

Ich habe bereits 2018 irgendwann aufgegeben, über die massive Talentverschwendung der französischen Elf zu schimpfen. Sie könnten so tollen, systematischen Offensivfußball spielen! Das will aber weder Trainer Didier Deschamps noch die Mannschaft. Taktische Kniffe reduzieren sich auf den oben genannten Klassiker „Manndeckung gegen Schlüsselspieler“. Dreiecke und Rauten im Spielaufbau, den Gegner über das Vorrücken der Abwehr aus der eigenen Hälfte fernhalten, das Lenken des Spielaufbaus des Gegners auf die schwache Seite: Auf all diese Eckpfeiler des modernen Fußballs – pardon my french – scheißen die Franzosen.

Warum sie das tun, wird mit einem kurzen Blick auf die Statistiken deutlich. Gerade einmal eine Flanke der Marokkaner kam an. Das lag nicht nur an der schwachen Qualität der Hereingaben von Ziyech, sondern auch daran, dass immer irgendein französischer Fuß abblockte. Ibrahima Konate, eigentlich nur Ersatzmann, hat nun die viertmeisten Tacklings aller WM-Spieler auf dem Zettel. Bei den abgefangenen Pässen liegt er auf Rang neun. Einsamer Spitzenreiter dieser Statistik ist sein Teamkollege Aurélien Tchouaméni, der wie ein Staubsauger das defensive Mittelfeld sauberhält. Antoine Griezmann ist sowieso überall auf dem Feld zu finden. Seine defensive Rolle ist mittlerweile prominenter als seine offensive – was gar nicht so leicht ist für einen Spieler, der mit drei Assists die Vorlagen-Tabelle anführt. Und wenn alles schiefläuft, steht im Tor Hugo Lloris bereit, jeden Ball zu halten. So auch bei den wenigen Großchancen Marokkos.

Es ist eigentlich ganz simpel: Frankreich braucht den ganzen Chichi nicht, den taktischen Bling Bling, die ausgefeilten Analysen und Matchpläne. José Mourinho hat einmal gesagt, für einen Fußballtrainer gehe es darum, die Schwächen seiner Mannschaft vor dem Gegner zu verbergen. Aber welche Schwächen soll Frankreich verbergen? Dass die Innenverteidiger jeden Zweikampf gewinnen? Dass die drei Mittelfeldspieler alle Löcher stopfen, die durch Mbappes Fixierung auf den Konter entstehen? Dass Mbappe fünf Gegenspieler auf sich zieht und dadurch nach einem Abpraller nicht einmal, sondern gleich zweimal in einem Spiel ein Teamkollege frei einschieben kann?

Natürlich wünscht sich der Taktiknerd in mir, dass diese Arroganz irgendwann bestraft wird. Und ja, natürlich ist der französische Weg arrogant. Sie sagen ganz offen: „Unser Matchplan für das heutige Spiel lautet, den besten Spieler des Gegners zu manndecken und unseren besten Spieler auf Konter lauern zu lassen. Den Rest macht die individuelle Klasse.“ Frankreich ist wie der Schüler, der nie lernt, aber immer eine Eins schreibt.

Der Fußballfreund in mir kann sich aber an der französischen Mannschaft erfreuen. Dafür haben sie in ihren Spielen schlicht zu viele geniale Momente. Trainer taktieren ja auch deshalb, um die eigenen Stärken der Mannschaft besser zur Geltung zu bringen und um die eigenen Schwächen auszugleichen. Das hat Frankreich jedoch gar nicht nötig. Wenn man Erfolg hat, indem man die eigenen Spieler einfach machen lässt – warum sollte man sie dann mit irgendeinem Konstrukt einengen und so ihre Egos verärgern?

Nur für Marokko tut es mir Leid. Sie haben es nicht verdient, gegen eine solche französische Leistung auszuscheiden. Doch ich traue Marokko mehr zu. Der Kern der Mannschaft ist nicht alt. Gegen Frankreich hat das Team bewiesen, dass sie keineswegs nur eine Mauermannschaft sind. Sie werden wieder angreifen. Ganz bestimmt.

Kurze Beobachtungen

  • Ob ein WM-Turnier sportlich ansprechend ist oder nicht, ist letzten Endes immer auch eine Geschmacksfrage. Ich habe subjektiv das Gefühl, dass diese WM fußballerisch mehr bietet als die vergangenen Turniere. Bei der Recherche zu einem Artikel, den ich aktuell schreibe, bin ich auf eine Statistik gestoßen, die mein persönliches Empfinden mit Daten unterfüttert. Für einen Taktik- und Fußball-Nerd wie mich, der gerne herausgespielte Tore bestaunt, bot diese WM mehr Futter als das Turnier in Russland. 2018 fiel rund jedes vierte Tor nach Eckbällen oder Freistößen. Rechnet man Elfmeter hinzu, lag der Anteil der Tore nach ruhenden Bällen sogar bei knapp 40%! Bei dieser WM liegt der Anteil der Tore nach ruhenden Bällen bei 23%. Elfmeter inbegriffen. Nur 14% der Tore fielen nach Ecken und Freistößen. Gleichzeitig blieb die Zahl der Tore pro Spiel gleich, was umgerechnet bedeutet: 2022 sehen wir mehr herausgespielte Tore und weniger Treffer nach Standards. Das kann ich als Fan des herausgespielten Tors nur gutheißen.
  • Am Sonntag werde ich vor dem Finale noch eine längere Einschätzung zum Aufeinandertreffen zwischen Argentinien und Frankreich posten. Nur so viel: Dass zwei Teams im Finale stehen, deren Starspieler defensiv praktisch keine Arbeit verrichten, ist ungewöhnlich. Dass diese beiden Spieler auch noch auf derselben Seite spielen, dürfte einmalig sein. Mbappe arbeitet als Linksaußen defensiv nicht weiter zurück als nötig. Messi driftet ständig in den rechten Halbraum, lässt diesen defensiv aber verwaisen. Da stellt sich die Frage: Wie wollen beide Teams den gegnerischen Superstar stoppen, wenn einer ihrer Spieler auf dieser Seite überhaupt nicht nach hinten arbeitet? Darüber werde ich nochmal drei Tage grübeln müssen.

Leseempfehlungen

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11Freunde: Griezmann, the real M.V.P.

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Das Titelbild zeigt eine Szene aus dem WM-Finale 2018. Es stammt von Ben Sutherland, Lizenz: CC BY 2.0.

One thought on “WM-Tagebuch, Tag 26: Der faule französische Einser-Schüler

  1. Frankreich erntet – nach wie vor – die Früchte ihrer Jugendarbeit ab. Nach wie vor sind sie auf fast allen Position gut bis teilweise herausragend besetzt. Ihre Spieler sind in ganz Europa in Spitzenmannschaften zu finden und selbst die jungen Talente gewinnen von Spieltag zu Spieltag an Prominenz dazu.

    Es wird ein sehr leistungsgerechtes Finale von den vielleicht zweifelsfrei 2 besten Mannschaften des Turniers. Da war kein oder nur wenig Glück dabei auf ihrem Weg. Und auch wenn Argentinien taktisch interessanter spielt, halte ich Frankreich für den klaren Favoriten. Dazu sind sie an individuellen Talenten und Erfahrung einfach noch mal eine Stange mehr gesegnet, wodurch sie so nonchalant spielen können. Und wenn Messi _gut_ manngedeckt wird, schmeckt ihm das nicht.

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