WM-Tagebuch, Tag 25: Huldigt dem Messi(as)!

Wer auf einen spannenden Fußballabend gehofft hat, wurde im ersten Halbfinale enttäuscht. Argentinien besiegte Kroatien souverän und ungefährdet mit 3:0. Wenigstens lieferte Lionel Messi das, wofür wir alle eingeschaltet hatten. Auch der heutige Abend verspricht nicht unbedingt ein offener Schlagabtausch zu werden. Dafür sind die Franzosen zu klar favorisiert.

.

Argentinien: Messi und der Rest

Ich könnte jetzt natürlich ganz Fußballnerd-mäßig darauf hinweisen, dass Argentinien nicht nur aus Lionel Messi besteht. Ich könnte Enzo Fernandez hervorheben, der als zentraler Mittelfeldspieler ein bockstarkes Turnier spielt. Gegen Kroatien leitete er die Szene ein, die zum Elfmeter zum 1:0 führte. Oder ich könnte eine Ode auf den unbesungenen Helden Alexis Mac Allister singen, der in zig unterschiedliche taktische Rollen schlüpft, je nachdem, was der Trainer verlangt. Oder ich könnte Julian Alvarez bejubeln, dessen Herreinnahme im Sturmzentrum das letzte Puzzlestück war, das Argentinien gefehlt hat.

Doch machen wir uns nichts vor: Dieses Team gruppiert sich um Messi, lebt für Messi, spielt für Messi. Gegen Kroatien hat er den besten Assist dieser Fußball-WM gemacht – also den besten Assist seit seinem Assist gegen die Niederlande. Messi weigert sich, den irdischen Gesetzen des Fußballs zu folgen. Opfer im Halbfinale war Josko Gvardiol, der vielleicht beste Innenverteidiger des bisherigen Turnierverlaufs. Messi ließ ihn beim dritten Treffer einfach stehen wie einen Drittliga-Kicker.

Für die Debatte, ob Messi der beste Fußballer aller Zeiten ist, sollte ab diesem Punkt auch obsolet sein, ob Argentinien dieses Turnier gewinnt oder nicht. Messi hat mit Argentinien das sechste große Finale erreicht. Er hat schon wieder ein Turnier jenseits von Gut und Böse gespielt. Er führt die Torjäger-Liste dieser WM an und er hat die meisten Assists verbucht. Wie viele Beweise braucht es denn noch? Man kann ein beliebiges WM-Spiel aus Messis Karriere heraussuchen. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass er der überragende Mann auf dem Platz war.

Vielleicht muss ich an dieser Stelle aber doch noch einen anderen Lionel feiern. Der Hauptunterschied zwischen den argentinischen Nationalmannschaften der vergangenen Weltmeisterschaften und der diesjährigen ist ja nicht Messi, auch wenn er seine wahrscheinlich beste WM spielt. Der Hauptunterschied ist der Trainer. Erstmals seit vielen Jahren sitzt ein Trainer auf der argentinischen Bank, der das Bestmögliche aus der Mannschaft herausholt – die dazu noch weit weniger talentiert ist als die Jahrgänge 2006 bis 2018.

Keine Mannschaft unter den Viertelfinalisten trat im Turnierverlauf derart taktisch flexibel auf. Die Argentinier schafften es, gegen Mexiko (und über weite Strecken gegen Saudi-Arabien) tiefe Gegner mit viel Ballbesitz zu bespielen. Scaloni hatte ein passendes 4-3-3 gebastelt. Sie lieferten sich im Viertelfinale ein enges Duell mit den Niederlanden, das sie (bis auf wilde 15 Minuten) dominierten. Scaloni hatte ein passendes 5-3-2 gebastelt. Im Halbfinale überließen sie Kroatien den Ball, kappten die Zuspielwege vom Mittelfeld ins offensive Zentrum und lenkten das Spiel weg von Modric‘ Seite. Scaloni hatte ein passendes 4-4-2 gebastelt. Und als Kroatien dann die Brechstange nutzen wollte, stellte Scaloni einfach wieder auf das 5-3-2 aus dem Viertelfinale um.

Das alles ist natürlich nur möglich, weil Spieler wie Fernandez, Mac Allister und Alvarez taktisch flexibel agieren. Sie übernehmen die Defensivarbeit, die Messi nicht mehr machen kann und will. Trotzdem muss ein Trainer es erst einmal schaffen, während eines Turniers so oft mit seinen taktischen Plänen richtigzuliegen. Dänemarks Kasper Hjulmand oder auch Deutschlands Hansi Flick wollten auch diese taktische Flexibilität leben, sie lagen aber öfter falsch als richtig. Insofern: Lob an Argentiniens Spieler. Großes Lob an Scaloni. Übermenschliches Lob an Messi.

Marokko: Mit königlichem Segen ins Halbfinale

König Mohammed VI. mag sich selbst „König der Armen“ nennen. Arm ist er aber gewiss nicht. Das marokkanische Staatsoberhaupt gilt als einer der reichsten Menschen Afrikas. Er wacht nicht nur über die Geschicke seines Landes, sondern auch über ein weit verzweigtes Wirtschaftsimperium. Viele Firmen Marokkos sind in staatlicher bzw. besser gesagt: königlicher Hand. Mohammed lebt gerne luxuriös. So gehört ihm eine der größten Yachten der Welt.

Sein Hobby ist Fußball, und als Fußball-liebendes Staatsoberhaupt lag ihm viel daran, seinem Landesverband zu helfen. So steht heute in Salé, vor den Toren der Hauptstadt Rabat, die Fußballakademie Mohammeds VI. Einen zweistelligen Millionenbetrag investierte der König in den Bau, zusätzliche Gelder gab es von der Fifa. Sie fördert Projekte wie dieses im Rahmen der Fußballentwicklungshilfe. Die Fußballakademie sollte eine erste Anlaufstelle sein für Talente ab 13 Jahren.

Diese Fußballakademien sind im Weltfußball keine Seltenheit mehr. Seit die Franzosen große Erfolge mit ihrem System der vom Verband geführten Fußballschulen hatten (mehr dazu in meinem Buch), gehen gerade kleinere Verbände diesen Weg. Dass sich der marokkanische Weg bezahlt gemacht hat, zeigt sich mit einem Blick auf den Kader des Halbfinalisten. Youssef En-Nesyri, Nayef Aguerd, Azzedine Ounahi: Sie alle haben die Schule des Königs durchlaufen. Weitere Spieler stammen aus Casablanca oder Agadir, wo es mittlerweile ähnliche Akademien gibt. Talentausbildung ist schon lange keine rein europäische Domäne mehr, wie bereits das Beispiel Japans gezeigt hat.

Das ist jedoch nur ein Teil des Erfolgsgeheimnisses. Nur die Hälfte der WM-Fahrer ist in Marokko geboren. Der Rest wuchs in Europa auf. Sie sind die Söhne oder Enkel von Migranten. Belgien (vier) und die Niederlande (vier) stellen den größten Anteil, aber es stammen auch Spieler aus Spanien, Frankreich (jeweils zwei), Italien und Deutschland (jeweils einer). Sie alle haben in den Fußballakademien Europas das technische und taktische Rüstzeug mitbekommen. (Außer der in Deutschland aufgewachsene Abdelhamid Sabiri, der bis zur U19 für TuS Koblenz gespielt hat. Aber das ist eine andere Geschichte.)

Die große Kunst von Trainer Walid Regragui war es, diese unterschiedlichen Charaktere und Hintergründe auf eine Mission einzuschwören. Er begnadigte Stars, die sein Vorgänger nicht mehr haben wollte. Zugleich sagte er seiner Elf: „Wer nicht daran glaubt, dass wir Marokkaner bei dieser WM Spiele gewinnen werden, bleibt zu Hause.“ Er schaffte es, diese so unterschiedliche Gruppe in eine totaldefensive Taktik zu pressen. Die Spieler murren nicht, sie meckern nicht, sondern sie verteidigen mit all ihrer Kraft und Leidenschaft.

Regragui selbst machte vor, was man mit harter Arbeit erreichen kann. Vor einem Jahr saß er noch in einem Kurs von Mikel Arteta, um mehr über dessen taktische Herangehensweise zu erfahren. Ein Jahr später feierte er mit WAC die marokkanische Meisterschaft und führte die Nationalmannschaft ins Halbfinale der Weltmeisterschaft. Romantischer können Fußballgeschichten kaum sein.

Der Pragmatist in mir weiß, dass die Marokkaner viel Glück benötigt haben, um an diesen Punkt zu gelangen. Sie hatten in diesem Turnier in exakt zwei Spielen mehr Expected Goals erzielt als ihr Gegner: beim zweiten Gruppenspiel gegen Belgien und im Viertelfinale gegen Portugal. In praktisch allen Spielen dieser WM profitierten sie von Gegnern, die wenig Durchschlagskraft erzeugten gegen den kompakten marokkanischen 4-5-1-Block. Wenn es den Franzosen an eins nicht mangelt, ist es Durchschlagskraft. Aber wer weiß, vielleicht unterschätzen die Franzosen den Gegner und lassen den einen Konter zu, den Marokko braucht.

König Mohammed VI. würde es freuen. Er gratulierte als Erster nach dem historischen Halbfinal-Einzug, und er wird auch der Erste sein, der bei einem eventuellen Finaleinzug zur Mannschaft spricht. Man kann eben viele Dinge mit Geld kaufen. Mit etwas Glück sogar einen WM-Finaleinzug.

Kurze Beobachtungen

  • Das französische Team wird von Fußball-Nerds gerne und viel gescholten, auch von mir. Wie sie das ganze Talent nur verschwenden! Was nur möglich wäre, wenn sie tatsächlich ein kohärentes taktisches System verfolgen würden! Tatsächlich halte ich die Weltmeister-Mannschaft von 2018 für gnadenlos überbewertet. So gut haben die nicht gespielt! Die 2022er-Elf wird mir mittlerweile aber fast schon unterbewertet, zumindest in Taktikerkreisen. Frankreichs System bei dieser WM ist deutlich offensiver als vor vier Jahren. Antoine Griezmanns Rolle hat sich noch einmal weiterentwickelt, besonders im Spiel gegen den Ball. Auch agiert die Doppelsechs nicht mehr ganz so konserativ wie vor vier Jahren. Kurzum: Frankreich verfügt über genug spielerische Mittel, um auch einen tiefstehenden Außenseiter im Halbfinale zu knacken. Immerhin haben sie noch immer den zweithöchsten Expected-Goals-Wert dieses Turniers (nach Brasilien). Sie müssen ihr Talent nur aufs Feld bekommen.
  • Mein Sohn erfreut sich an dieser Fußball-Weltmeisterschaft. Nicht etwa an den Fußballübertragungen, die findet er mäßig interessant. Aber dass er länger aufbleiben darf, um die erste Halbzeit der Abendspiele sehen zu können, findet er super. Am nächsten Tag geht es dann raus auf den Bolzplatz – wir haben einen Käfig direkt vor der Tür. Dort spielen wir die Partien des Vortags nach. Sind wir nicht alle auf ähnliche Art zum Fußball gekommen? Fußballschauen mit Kindern eröffnet indes ganz neue Perspektiven. So stellt sich mir etwa nicht die Frage, warum die Fifa einen riesengroßen, mit Luft gefüllten Weltmeister-Pokal vor den Spielen aufstellt. Mein Sohn fordert jeden Tag, den Fernseher ja rechtzeitig einzuschalten. Er möchte auf gar keinen Fall den aufblasbaren Pokal verpassen! Anderes Alter, altere Prioritäten.

Leseempfehlungen

ntv: Das obszöne Luxusleben des WM-Königs von Marokko

Spox: Enzo Fernández – Vom Messi-Fan zu Argentiniens WM-Shootingstar

Zeit: Italien und die Fußball-WM – Nicht dabei sein ist alles.


Das Titelbild zeigt König Mohammed VI. Es stammt von UNclimatechange, Lizenz: CC BY 2.0.

2 thoughts on “WM-Tagebuch, Tag 25: Huldigt dem Messi(as)!

  1. Beim Schach sehe ich manchmal eine Facette der GOAT-Diskussion: Wer hatte den höchsten Peak, die spielstärkste, genialste Phase? Ich denke, das wird nur wegen Bobby Fischer diskutiert, der eben sehr genial war, aber nach dem Jahrhundertspiel (vorerst) und damit früh aufgehört hat. Leider war ich bei der WM 86 mit Maradona noch nicht auf der Welt, aber Peak Maradona vs. Peak Messi finde ich noch eine spannende Diskussion.

  2. Hey Tobi,

    ich lese gerade begeistert „Die Zeit der Strategen“ und wollte mich einfach mal für deinen omnipräsenten Content bedanken! Eine wirkliche Freude, das einerseits sehr sachliche, aber dennoch packend geschriebene Tagebuch zu lesen, wo der sportliche Diskurs leider oft so toxisch ist. Besonders mag ich die Beobachtungen.

    Stimme bezüglich der Einschätzung zu Messi zu, wobei ich mir dennoch wünsche, dass dieser fantastische Fußballer Weltmeister wird. Einfach, weil seine Karriere und Lebensleistung dann in gewisser Form vollendet wäre.

Schreibe einen Kommentar zu JJ Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Enter Captcha Here : *

Reload Image