WM-Tagebuch, Tag 20: Ab jetzt wird Geschichte geschrieben!

Erstmals gab es bei der Weltmeisterschaft zwei freie Tage zum Durchatmen. Genug Zeit, die vergangenen drei Wochen Revue passieren zu lassen. Das Erste, was man aus rein sportlicher Sicht festhalten muss: In Katar findet gerade eine ganz normale Weltmeisterschaft statt. Alle Befürchtungen ob des Zeitpunkts oder des Orts der Austragung haben sich nicht erfüllt.

Im Gegenteil: Ich persönlich habe das Gefühl, dass wir sportlich gesehen eine der besseren Weltmeisterschaften dieses Jahrtausends erleben. Das Niveau in der Spitze ist enger als bei den vergangenen Turnieren. Von den acht Viertelfinalisten habe ich vier Nationen bereits vor dem Turnier den Titel zugetraut: Brasilien, Frankreich, Argentinien und auch England. Zwei weitere haben sich im Verlaufe des Turniers gesteigert und bringen spezifische Merkmale mit, welche sie so stark machen: Portugal überzeugt durch hohes Tempo und technische Klasse, die Niederlande durch kompromisslosen Defensivfußball. Kroatien stand bereits 2018 im Finale, Marokko wiederum hält die Fahne der Außenseiter hoch. Dass alle Viertelfinal-Paarungen einen besondere Reiz ausstrahlen, ist keine Selbstverständlichkeit. Wer erinnert sich noch an die Paarung England gegen Schweden aus 2018? Oder das himmelsschreiend langweilige Duell zwischen der Niederlande und Costa Rica 2014?

Besonders in der Spitze bot dieses Turnier bislang einige herausragende Leistungen. Während von den acht Viertelfinalisten 2018 gerade einmal eine Nation ihr Achtelfinale mit zwei oder mehr Toren Vorsprung gewinnen konnte, gelang dies 2022 gleich fünfen. Das zeigt, dass sich die Spitze des Fußballs immer weiter vom Durchschnitt entfernt. Das ist in Sachen Spannung problematisch, liefert zugleich aber technisch wie taktisch atemberaubenden Fußball. Man muss lange in der Fußballgeschichte zurückgehen, um Mannschaften zu finden, die in der K.O.-Runde der Weltmeisterschaft derart entfesselt auftraten wie Brasilien oder Portugal.

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Deutsche Fans mögen es nicht gerne hören, doch der hohe fußballerische Standard dieses Turniers hängt sicher auch mit dem Zeitpunkt zusammen. Bei kaum einer Spitzennation gibt es Spieler, die überspielt oder übermüdet zur WM kamen. Die meisten Weltklasse-Spieler machen dort weiter, wo sie wenige Tage vor WM-Beginn bei ihren Klubmannschaften aufgehört haben. Das ist nur logisch. Wieso sollte Jude Bellingham an einem Wochenende für Dortmund Spitzenleistungen zeigen und am nächsten Wochenende für England nicht? Die Spieler haben keinen Spannungsabfall hinter sich, wie sie ihn normalerweise nach einer langen Saison erleben.

Bevor die Fraktion „Sonne, Bier und Fußball“ mich mit Grillwürstchen bewirft, muss ich festhalten: Ich möchte keineswegs jede Weltmeisterschaft im Winter austragen! Es sollte aber in Zukunft kein Hemmnis sein, sollten sich Staaten des indischen Subkontinents oder Zentralafrikas um die Ausrichtung einer WM bewerben. Dann findet halt alle zwanzig Jahre ein Turnier im Winter statt. Davon geht die Fußballwelt nicht unter.

Nicht nur in sportlicher Hinsicht scheint diese WM ein Erfolg zu werden. Es mag manch europäische Fans gegeben haben, die Katar allein deshalb als Gastgeber ablehnten, weil es ein muslimisches Land auf einer Wüstenhalbinsel ist. Doch jeder, der die Golfregion bereits besucht hat, weiß, dass hier Staaten mit hochmoderner Infrastruktur liegen. Sie sind keineswegs schlechter gerüstet als europäische oder südamerikanische Staaten, um die Organisation einer Weltmeisterschaft zu stemmen. Ja, es gab Probleme mit dem Ticketing-System. Ja, die Stadien waren teils nicht voll besetzt. Aber viele Menschen haben in Katar eine großartige Party gefeiert und sich am schönen Fußball erfreut.

Relativiert das im Nachhinein die Kritik an Gastgeber Katar? Um Himmels Willen, nein! Das Problem war nie das Gastgeberland an sich, zumindest nicht für mich. Eine Weltmeisterschaft sollte vergeben werden, ohne dass sich Funktionäre gegenseitig Stimmen zuschieben. Sie sollte konzipiert werden, sodass Fans aller Ethnien, Geschlechter und sexueller Orientierungen angstfrei anreisen kann. Die Stadien sollten unter menschenwürdigen Bedingungen gebaut und deren Arbeiter nicht ausgebeutet werden. Diese Kritikpunkte bleiben – ganz unabhängig davon, ob das Turnier ein Erfolg ist oder nicht.

Seien wir ehrlich: Diese Weltmeisterschaft hätte genauso gut in Australien, Amerika oder Marokko stattfinden können, und sie wäre keinen Deut schlechter gewesen. Dafür aber fairer, transparenter, offener.

Die Kunst, beim tiefen Verteidigen nicht einzuschlafen

Ich wurde vor den Viertelfinals gefragt, ob ich im Nachhinein mein Ranking zum Achtelfinale aufrechterhalten würde. Mit einigen Nationen lage ich natürlich falsch. Spanien, die USA und Japan habe ich zu weit oben einsortiert, die Niederlande und Marokko zu weit unten. Ich neige dazu, Teams mit einem guten Ballbesitzspiel, aber schlechtem Abschluss zu überschätzen und gut verteidigende Teams zu unterschätzen.

Trotzdem würde ich auch nach dem Achtelfinale an meiner groben Rangliste festhalten. Frankreich und Brasilien sehe ich weiterhin an der Spitze. In der zweiten Gruppe folgen England, Argentinien und Portugal. Letztere habe ich bereits im vergangenen Ranking als B+ einsortiert. In der Außenseiter-Gruppe folgen Kroatien, die Niederlande und Marokko. Das bedeutet, dass rein auf dem Papier jedes Viertelfinale aus meiner Sicht einen Favoriten hat: Brasilien geht als klarer Favorit ins Duell mit Kroatien, Portugal trifft auf Außenseiter Marokko, und Frankreich wird selbst im Land des Gegners England als Kandidat auf die Titelverteidigung gesehen.

Auch das Duell Argentinien gegen Niederlande hat laut meinem Ranking einen klaren Favoriten. Auf der einen Seite steht eine Mannschaft, die Spielführer Lionel Messi unbedingt den ersten WM-Erfolg schenken will. Auf der anderen Seite wartet eine niederländische Elf, die ihr Heil in der Defensive sucht. Louis van Gaal vollzog in diesem Turnier die endgültige Metamorphose vom Anhänger des schönen Spiels hin zum Defensivpapst.

Nun mag man mir vorwerfen, erneut denselben Fehler zu begehen wie vor dem Achtelfinale. Die Argentinier mögen den offensiveren Fußball zelebrieren als die niederländischen Maurer-Meister. Aber auch sie konnten ihre Dominanz nicht durchgehend in Torchancen ummünzen. Gerade gegen Mexiko taten sie sich enorm schwer. Ihr gesamtes Offensivspiel ruht auf den Schultern von Messi, der aus seiner Freirolle heraus seine Mitspieler bedient. Das Mittelfeld mag die Bewegungen Messis unterstützen und absichern. Aber vorne fehlt ein Stürmer, der tatsächlich Torgefahr ausstrahlt. Lautaro Martinez steht bei dieser WM neben sich, sodass er nicht einmal mehr in der Startelf steht.

Für die Niederlande dürfte der Matchplan relativ simpel sein. Das Dreier-Mittelfeld teilt sich zusammen mit einem herausrückenden Abwehrspieler die Deckung Messis. Das mannorientierte Herausrücken der niederländischen Abwehr ist eine große Stärke des niederländischen 5-3-2-Systems. Vorne genügt es, wenn Cody Gakpo einen Konter zum entscheidenden 1:0 verwertet. Vielleicht reicht ja sogar ein langer Ball, wie damals 1998, als Dennis Bergkamp Argentinien im Alleingang bezwang.

Dennoch bleibe ich skeptisch, was die niederländischen Chancen angeht. Man neigt dazu, Teams, die defensiv spielen, automatisch zu bescheinigen, dass sie gut verteidigen. Van Gaals 5-3-2-Mauer hat die Niederländer ins Viertelfinale geführt – was kann an der Taktik also falsch sein? Bei genauerer Betrachung der Spiele sah man jedoch, dass die Niederlande gar nicht so gut verteidigt haben. Ihr mannorientiertes Verfolgen ließ immer wieder Lücken, welche die gegnerischen Angreifer besetzen konnten.

Tatsächlich ließ kein Viertelfinalist im bisherigen Verlauf des Turniers mehr gegnerische Schüsse zu – und das, obwohl Kroatien und Marokko dreißig Minuten mehr spielen mussten! Einzig Kroatien und Portugal haben in den vier bisherigen Auftritten einen höheren gegnerischen Expected-Goals-Wert zugelassen. Portugal fällt aus dieser Statistik heraus, da sie knapp zwei ihrer fünf Expected-Goals gegen Südkorea zugelassen haben, als sie nach bereits erfolgter Qualifikation für das Achtelfinale mit einer B-Elf aufliefen. Die Niederlande hatte wiederum den wohl einfachsten Weg bis ins Viertelfinale.

Konkret geht für die Niederlande eine große Gefahr vom argentinischen Mittelfeld aus. Enzo Fernández, Rodrigo De Paul und Alexis Mac Allister funktionieren nicht nur als Balanceakt für die freie Rolle Messis. Gerade Mac Allister sprengt gegnerische Abwehrreihen mit seinen Läufen. De Paul wiederum kommt eher über seine ausweichenden Bewegungen. Es besteht die reelle Gefahr, dass die Niederlande sich zu sehr auf Messi versteifen – und dabei vergessen, dass vier der acht argentinischen Treffer bei dieser WM ohne direkte Beteiligung des siebenmaligen Weltfußballers erzielt wurden.

Mein Tipp: Argentinien gewinnt. Das tut mir Leid für Louis van Gaal, der sich auf seine alten Tage noch zum Publikumsliebling mausert. Aber ein Halbfinale Brasilien gegen Argentinien hätte seinen ganz eigenen Reiz. Andererseits: Ich habe die Niederlande während dieses Turniers konstant unterschätzt. Vielleicht tue ich das heute schon wieder.


Kurze Beobachtungen

  • Zu Brasilien gegen Kroatien fehlen mir die spannenden Thesen. Es dürfte darauf hinauslaufen, dass die Kroaten sich im 4-1-4-1 verschanzen. Dann lautet die Frage, wie schnell Brasilien es schafft, das defensive Konstrukt zu knacken. Gefahr droht – wie immer – über Luka Modric. Ich bin mir nicht sicher, ob Brasilien clever genug presst, um sich nicht von Kroatien zu weit herauslocken zu lassen. Andererseits fiel das kroatische Team bisher nicht durch Schnellangriffe auf. Defensiv ist Kroatien das Team, das bisher die meisten Expected Goals zugelassen hat; sie haben aber auch dreißig Minuten mehr spielen müssen gegen Japan. Die Verlängerung, in die Kroatien vor gerade einmal vier Tage musste, ist ein weiterer Grund, kein Geld auf sie zu setzen. Ein Sieg Kroatiens wäre für mich die größte Überraschung dieser Runde, sogar größer als ein Erfolg Marokkos. Dazu aber morgen mehr.
  • Da ich oben den Namen Enzo Fernández erwähnt habe: Er gehört für mich zu den Spielern, die ich vor der WM nicht auf dem Schirm hatte, die ich aber spätestens jetzt genauer verfolgen werde. Zwei weitere Spieler dieses Kalibers sind Cody Gakpo sowie Ronaldo-Nachfolger Gonçalo Ramos. Interessanterweise haben alle drei Spieler eine Gemeinsamkeit: Sie alle haben in jüngerer Vergangenheit unter Roger Schmidt trainiert. Fernández und Ramos spielen derzeit für ihn bei Benfica, Gakpo trainierte mehrere Jahre unter ihm bei PSV. Ob hier ein kausaler Zusammenhang zwischen Trainer und Leistung der Spieler liegt? Wahrscheinlich nicht. Man kann aber durchaus mal bemerken, dass Schmidts Wirken in Deutschland untergeht. Im ersten halben Jahr bei Benfica hat Schmidt kein einziges Spiel verloren. Die Portugiesen waren immerhin mit Paris St. Germain und Juventus Turin in einer Champions-League-Gruppe.
  • Die Fifa hat die Zahl der Schiedsrichter-Teams auf zwanzig begrenzt. Die ersten beiden Viertelfinals pfeifen Europäer: Der Brite Michael Oliver darf beim Duell zwischen Kroatien und Brasilien ran, der Spanier Antonio Mateu Lahoz leitet Argentinien gegen die Niederlande. Da aber gerade nichteuropäische Schiedsrichter bei dieser WM mit starken Leistungen überzeugten, kann ich mir gut vorstellen, dass die restlichen Viertel- und Halbfinals an nord- bzw. südamerikanische Schiedsrichter gehen. Ich persönlich würde mich freuen, den US-Amerikaner Ismail Elfath noch einmal zu sehen. Die Schiedsrichter-Experten von Collinas Erben warfen noch Iván Barton aus El Salvador in den Ring (siehe Leseempfehlungen). Der Italiener Daniele Orsato gilt als Favorit auf ein Halbfinale oder gar das Finale. Zudem traue ich der Fifa zu, Schiedsrichtern Stephanie Frappart im Spiel um Platz drei einzusetzen. Das wäre ein typischer „Schaut her, wir sind divers!“-Move, ohne dass die Fifa dabei allzu viel riskiert. Das bedeutungslose Spiel um Platz drei sorgt erfahrungsgemäß für keine Kontroversen.

Leseempfehlungen

The Athletic: An alternative analysis of the World Cup – by the man who helped shape Guardiola’s City

T-Online: Collinas Erben über mögliches Final-Szenario: „Das wäre wirklich furchtbar“

The New Yorker: At Qatar’s World Cup, Where Politics and Pleasure Collide


Das Titelbild stammt von Tim Reckmann, Lizenz: CC BY 2.0.

4 thoughts on “WM-Tagebuch, Tag 20: Ab jetzt wird Geschichte geschrieben!

  1. Dass die Lesitungen vieler Spieler während einer WM, die mitten in der Saison stattfindet, konstanter sind, das ist mir im Vorfeld auch nicht genügend thematisiert worden. Nebenbei: der Trainer von Tottenham, Conte, hat wohl kurz vor der WM, die Trainingsintensität bei seinem Team entsprechend angepasst, weil er der Meinung war, dass der WM-Zeitpunkt enorme Auswirkungen auf den weiteren Saisonverlauf haben wird. Bin ich gespannt. Brasilien sehe ich auch als klaren Favoriten, das könnte aber trotzdem enger werden als gemeinhim vermutet. Bei den Kroaten, trotz der Erfolge, habe ich auch selten bei Turnieren einen ansprechenden, attraktiven Stil gesehen; für mich spielen die immer irgendwie ihren defensiven Stiefel runter. NED-ARG sehe ich tatsächlich die Holländer vorne. Die sind in der Lage und zerstören das Spiel von Messi & Co. komplett, würgen es ab und dann werden der Albiceleste die Nerven flattern.

    1. In welche Richtung und in welchem Zeitraum hat Conte denn die Trainingsintensität vor der WM angepasst? Die haben doch seit der letzten Länderspielpause wöchentlich zwei Pflichtspiele.

  2. (habe diese Frage vor eineinhalb Jahren schon mal auf Spielverlagerung gestellt: Wer kann die holland. N11 langfristig als Trainer übernehmen und weiterentwickeln? Der Verband scheint ja ein paar interne Probleme gehabt zu haben. LvG war jedenfalls keine langfristige Lösung wie Luis Enrique, Dechamps, Flick oder Southgate oder Tite. Die Fähigkeiten für mehr sind in der Mannschaft mM nach aber sehr wohl da. Ich weiß nicht wie ihr das seht, aber Schweinsteiger hat in der Nachbetrachtung ein repräsentatives Bsp. für die takt. Probleme herausgegriffen. Und Tobias hat das ohnehin von Beginn an moniert. Enttäuschung wenn man gehofft hatte, wie ich, dass sich vielleicht doch noch eine andere Seite zeigen würde. / Gucken wir mal was F – GB morgen so aufs Feld bringen. GB hat seltener bewiesen was aber theoretisch alles möglich wäre (einige wenige tolle Spielzüge im Ansatz gegen USA die mich aufhorchen ließen bei aller Ernüchterung). Bin auch gespannt auf die Nachlese von Marokko übermorgen – you got a lot of work to do Mr. Escher!)

    Großen Dank fürs Tagebuch an dieser Stelle.

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