WM-Tagebuch, Tag 16: Der Segen des mitspielenden Stürmers

Überraschungen gab es auch am zweiten Achtelfinal-Tag dieser Weltmeisterschaft nicht. England setzt sich mit 3:0 gegen Senegal durch. Frankreich gewann gegen Polen „nur“ 3:1. Was nach zwei klaren Erfolgen klingt, war zumindest in der ersten Halbzeit harte Arbeit. Jordan Pickford und Hugo Lloris hielten ihre Mannschaften in der schwierigen Phase im Spiel, ehe der jeweilige Führungstreffer beide Favoriten auf die Siegerstraße führte.

Ich werde heute im Tagebuch etwas ausführlicher auf Englands Offensivspiel eingehen. Auf Frankreich komme ich in den kurzen Beobachtungen zu sprechen. Außerdem möchte ich den Scheinwerfer drehen und den Erfolg der japanischen Mannschaft beleuchten. Dieser ging durch all das Gejammere über das deutsche Aus in meinem Tagebuch etwas unter.

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England: Das Argument für einen mitspielenden Stürmer

Eine seriös aufspielende Mannschaft, die nicht brilliert, sich aber in ihre Partien reinbeißt und ihre wenigen Chancen verwertet. Was nach der deutschen Nationalmannschaft aus den Achtzigern oder dem Jahr 2002 klingt, beschreibt treffend das englische Team des Jahres 2022. Gegen Senegal zeigten sie beileibe keinen Auftritt, der eines 3:0-Ergebnisses würdig war. Doch in den entscheidenden Momenten waren sie da.

Herausragender Spieler der Three Lions war einmal mehr Jude Bellingham. Offensiv riss er Lücken in die gegnerische Verteidigung, defensiv stopfte er jedes Loch, das sich öffnete. An allen drei Treffern war er mehr oder minder direkt beteiligt. England fokussierte sich ganz auf Angriffe über seine halblinke Seite. Bellingham und auch Phil Foden dankten es mit überragenden Leistungen. Ihre Flügelläufe knackten die senegalesische Abwehr.

Dass Bellingham eins der größten, wenn nicht sogar das größte Talent des Weltfußballs ist, muss ich keinem deutschen Fußballkenner erzählen. Wir sehen ihn Woche für Woche im Dress des BVB. Bei der WM erleben wir den seriösen Bellingham, der sich sonst nur in der Champions League oder gegen die Bayern zeigt. Die taktischen Unzulänglichkeiten, das zu weite Herausrücken, das Abwinken nach schlechten Pässen der Mitspieler hebt sich Bellingham für den Pöbel der Bundesliga auf.

Ich möchte auf einen anderen Spieler eingehen, auch um in eine Debatte einzugreifen, die hierzulande zuletzt wieder stark geführt wurde. Harry Kane erzielte gegen Senegal nicht nur das wichtige 2:0, er leitete auch den Treffer zum 1:0 ein. Das ist der Segen, den ein mitspielender Stürmer bringt: Er hilft der Mannschaft nicht nur im gegnerischen Strafraum, sondern überall auf dem Feld. Das wird in Deutschland gerne unterschätzt, wenn wir mal wieder den großen, toreschießenden Strafraumstürmer fordern.

Kane kann als klassischer Stürmer fungieren und seiner Mannschaft Tore schenken. Er bietet sich jedoch auch als mitspielender Stürmer an. Bei dieser Weltmeisterschaft nutzt England das ganz bewusst, um sich eine Überzahl zu erspielen auf der ballnahen Seite. Kane bewegt sich praktisch immer dorthin, um die Spitze einer Raute zu bilden: der Innenverteidiger eröffnet das Spiel, vor ihm steht der jeweilige Außenverteidiger und der Achter. Kane bildet die Spitze dieser Raute.

Gegen Senegal versuchte England, Kanes Ausweichen zu nutzen, um eine Überzahl auf der linken Seite herzustellen. Kane sollte helfen, die Verteidigung auf die Seite zu locken, damit die Mannschaft anschließend tief spielen kann. Es dauerte lange, ehe dieser Schachzug aufging. Doch als er dann vor dem 1:0 funktionierte, ging er so richtig auf. Kane zog seinen Innenverteidiger hinter sich her, öffnete den Raum für Bellingham und legte dann mustergültig auf den BVB-Spieler ab.

Dieser Angriff war nicht nur Werbung für Dreieck- und Rautenbildung am ballnahen Flügel. Er war auch Werbung für den mitspielenden Stürmer. Ein Stürmer, der ausschließlich vorne im Zentrum herumlungert, mag seiner Mannschaft Tiefe und Gefahr im Strafraum verleihen. Er limitiert jedoch auch die taktischen Optionen, überhaupt erst in den Strafraum zu kommen. Kane macht den Lauf von Bellingham überhaupt erst möglich, indem er einen Verteidiger herauszieht.

Das große Missverständnis bei Debatten um Stürmer hierzulande ist der Irrglaube, dass nur Stürmer für Torgefahr sorgen können. Wenn eine Mannschaft nicht mit einem klassischen Stürmer spielt, muss sie nicht automatisch weniger Tiefe und Torgefahr erzeugen. Solange andere Spieler die Tiefe attackieren und das Ausweichen des Stürmers ausnutzen, kann dies sogar enorme Vorteile haben. In den seltensten Fällen ist das reine Fehlen eines Stoßstürmers ein Problem. Es wird dann erst zum Problem, wenn die Funktionen, die der Stürmer übernimmt, nicht auf andere Schultern verteilt werden. Namentlich: Tiefe schaffen, Abwehr nach hinten drücken, Verteidiger binden und natürlich auch den Strafraum besetzen und Tore schießen.

Harry Kane hat erst einen Treffer bei dieser Weltmeisterschaft erzielt. Trotzdem spielt er ein starkes Turnier. Er hilft seiner Mannschaft in allen Spielphasen, nicht nur im gegnerischen Strafraum. Man kann im modernen Fußball auf unterschiedliche Arten Erfolg haben – mit, aber auch ohne klassischen Strafraumstürmer.

Japan: Der lange Weg zur Sensation

Überraschungen gab es bei dieser Weltmeisterschaft nur wenige. Saudi-Arabiens historischer Sieg über Argentinien entpuppte sich am Ende als bedeutungslos. Frankreichs Niederlage gegen Tunesien sowie Brasiliens 0:1 gegen Kamerun lassen sich durch deren Verzicht auf Stammkräfte erklären. Die wohl größte Sensation war das Weiterkommen Japans. Sie schalteten nicht nur die deutsche Mannschaft aus, sondern gewannen die Gruppe sogar vor den Spaniern. Und das, obwohl sie gegen Außenseiter Costa Rica mit 0:1 verloren.

Es schmälert Japans Leistung nicht, wenn man feststellt: Es war viel eher eine Überraschung als eine lupenreine Sensation. Eine Sensation ist es, wenn Bayern München gegen den VfL Bochum verliert. Eine Überraschung ist es, wenn sie gegen Borussia Mönchengladbach verlieren. Japan ist in der Zusammenstellung viel näher an Mönchengladbach dran als an Bochum, auch wenn beide Teams in der japanischen Nationalmannschaft jeweils einen Spieler stellen.

Japans Nationalelf ist eine bunte Mischung. Es befinden sich Akteure wie Ko Itakura oder Ritsu Doan darunter, die bei gehobenen Bundesliga-Teams Leistungsträger sind. Ergänzt werden sie von Veteranen wie Hiroki Sakai oder Maya Yoshida, die im Laufe ihrer Karriere bewiesen haben, dass sie mit dem Niveau des europäischen Fußballs mithalten können. Abgerundet wird die Elf von Spielern wie Yunya Ito oder Takuma Asano, die in bestimmten Rollen gut funktionieren. Es ist bezeichnend, dass ein Spieler wie Takumi Minamino – immerhin früher beim FC Liverpool angestellt – nur eine kleine Rolle spielt.

Die Japaner haben in den vergangenen Jahren viel richtig gemacht in ihrer Jugendausbildung. Wie so viele Länder auf der Erde haben auch sie das Nachwuchsfördersystem übernommen, das Deutschland Anfang der 2000er Jahre implementiert hat. Die Vereine der J-League betreiben Akademien. Von der U13 an gibt es nationale Wettbewerbe, bei denen auch die bekannten Sportschulen des Landes mitmischen. Der Leistungsdruck, ohnehin in der japanischen Gesellschaft omnipräsent, macht auch vor der Fußball-Ausbildung keinen Halt.

Es fällt auf, wie gut geschult die meisten Akteure sind, wenn sie diese Akademien verlassen. Japan legt früher Wert auf Passtechnik als viele europäische Länder, in denen bis ins frühe Teenager-Alter Fähigkeiten im Eins-gegen-Eins im Fokus stehen. Die taktische Schulung scheint ebenfalls sehr gut zu funktionieren. Japanische Spieler, die den Sprung nach Europa wagen, zeichnen sich meist durch ein überdurchschnittlich cleveres Verhalten im Pressing aus. Ich habe noch keinen japanischen Spieler entdeckt, der seinen Deckungsschatten schlecht nutzt. Dadurch kaschieren sie durchaus vorhandene physische Schwächen.

Körperliche Unterlegenheit ist aber weniger ein Problem als in der Vergangenheit. Spätestens seit Shinji Kagawa von Borussia Dortmund entdeckt wurde, boomt das Geschäft mit japanischen Spielern. Bundesliga-Klubs, aber auch belgische und französische Vereine schicken ihre Scouts permanent nach Japan. Der „Prince Takamado Cup“ bietet beste Chancen, die Talente von morgen zu sichten. Die besten Jugendteams aus dem U15- und U18-Bereich spielen hier einen Meister aus. In Europa wiederum erhalten die Talente den letzten Schliff. Europäische Klubs helfen ihnen, sich körperlich weiterzuentwickeln und in den robusteren europäischen Ligen Fuß zu fassen.

Ich persönlich sehe sehr viel Bundesliga, wenn ich Japan sehe. Sie beherrschen das Verschieben im Raum nahezu perfekt. Egal, ob sie im tiefen 4-4-2 verteidigen oder in einem hohen 3-4-3: Immer schieben sie richtig nach, immer sichern sie den Raum hinter sich ab. Dass sie gegen Costa Rica völlig überfordert waren, einen tiefstehenden Gegner zu knacken, passt zum Bundesliga-Vergleich. Tolles Pressing, schlechtes Ballbesitzspiel: So spielt auch so manch einer der deutschen Klub, für die viele der japanischen WM-Teilnehmer auflaufen.

Was Japan vom Rest des Teilnehmerfelds abhebt, ist das taktische Geschick von Trainer Hajime Moriyasu. Bislang sahen wir bei dieser WM nur wenig gelungene Umstellungen. Japan ist die Ausnahme. Sowohl gegen Deutschland als auch gegen Spanien funktionierte der vor dem Spiel zurechtgelegte Plan nicht. Moriyasu schaffte es jedoch, mit Umstellungen in der Halbzeitpause beide Spiele zu wenden. Gegen Deutschland wechselte er vom tiefen 4-4-1-1 auf ein offensives 3-4-3. Gegen Spanien hielt Japan an der 5-4-1-Grundordnung fest, interpretierte sie jedoch offensiver, sodass auch hier ein 3-4-3 entstand. Die hohe Positionierung der Elf zwang Spanien zu den zwei entscheidenden Fehlern.

Nun also Kroatien. Die Kroaten verfügen über ähnliche Stärken und Schwächen wie die spanische Mannschaft. Es ist eine halbe Unmöglichkeit, ihrem Mittelfeld den Ball wegzunehmen. Nicht immer wählen sie den Pass nach vorne, sondern ergötzen sich lieber an ihrem Querpassspiel. Ihr Pressing ist wesentlich halbherziger als das der beiden japanischen Gruppengegner. Im Aufbau wiederum finden sie nicht immer die richtige Lösung. (Auch wenn allein Gvardiols wahnwitzig-geniale Aktionen jeden Gegner knacken können.) Das sind eigentlich genau die Stärken und Schwächen, gegen die Japan gerne spielt.

Problematisch wird es nur, wenn Kroatien sich im 4-1-4-1 weit zurückzieht. Dann droht Japan das, was bereits den USA den Garaus machte: Mit dem cleveren Pressing und dem passgenauen Mittelfeld begeistern sie Taktikfüchse wie mich. Ihnen fehlt aber jegliche offensive Durchschlagskraft, damit dieses Fundament in irgendeiner Form gefährlich wird für den Gegner.

Egal, wie das Spiel letztlich verläuft: Vor dem Anpfiff geht das Spiel zwischen Japan und Kroatien sicher als ausgeglichenste Partie durch. Das allein ist schon ein riesiger Erfolg für die Blue Samurai. Und wer weiß, vielleicht klappt es ja 2022 endlich mit dem ersten Viertelfinal-Einzug ihrer WM-Geschichte. Ich würde ihnen diesen gönnen.


Kurze Beobachtungen

  • Was war denn da mit Polen los? In der ersten Halbzeit gegen Frankreich waren sie fast gar nicht wiederzuerkennen! Ja, sie verteidigten in einem passiven 4-5-1. Aber sie schoben immer wieder vor, wenn Frankreich Rückpässe spielte, um den Druck hochzuhalten. Gleichzeitig schafften sie es, über den ausweichenden Robert Lewandowski immer wieder Nadelstiche zu setzen. Doch gerade als es nach Sensation roch, erzielte Frankreich kurz vor der Pause das 1:0. Mit der Führung im Rücken zog sich Frankreich zurück, verteidigte im 4-5-1 und versteifte sich auf Konter. Nun offenbarten sich wieder die Schwächen des polnischen Spiels: wenig Mut; uninspirierte Außen; ein Lewandowski, der überall steht, nur nicht im Strafraum. Frankreich konnte es sich sogar erlauben, zahlreiche Kontermöglichkeiten zu verschludern. Immerhin gelang den Polen mit Lewandowskis spätem Tor ein halbwegs versöhnlicher Turnierabschluss.
  • Apropos spätes Tor. Bisher habe ich mich erfolgreich um das Thema Nachspielzeiten bei dieser WM gedrückt. Ich habe schlicht keine kontroverse Meinung zu dem Thema. Mich stören diese Nachspielzeiten nicht, ich könnte aber auch gut mit kürzeren Nachspielzeiten leben. Der Gedanke, dass Fußball eine möglichst lange Nettospielzeit haben müssen, leuchtete mir nie ein. Möchte man diese erreichen, sollte man eher Unsportlichkeiten wie Zeitspiel oder Simulation härter bestrafen. Aber sei’s drum, dann eben Nachspielzeit. Was ich hingegen auf den Tod nicht leiden kann, sind Nachspielzeiten von fünf Minuten in einem Spiel, das 3:0 steht. I am looking at you, Jesús Valenzuela, Schiedsrichter von Frankreich gegen Polen! Pfeif es einfach ab. Das Ding ist durch. Die führende Mannschaft will keine Nachspielzeit, die zurückliegende Mannschaft will keine Nachspielzeit, nicht einmal die Zuschauer wollen Nachspielzeit. Manchmal muss man einfach erkennen, wann der richtige Zeitpunkt ist, Schluss zu machen.
  • Apropos richtiger Zeitpunkt zum Schlussmachen. Arsène Wenger hängte an seine eindrucksvolle Trainerkarriere eine Laufbahn als Fifa-Funktionär an. Als Leiter der Technischen Kommission analysiert er die Weltmeisterschaft. Seine Analysen teilte er mit der Welt auf einer Pressekonferenz. Bei seinen Einlassungen zur Gruppenphase schweifte er vom Thema Fußball ab. Weitergekommen seien die Teams, „die das Mindset hatten, sich auf den Sport zu konzentrieren und nicht auf politische Demonstrationen.“ Da außer Deutschland und dem Iran niemand bei dieser WM „politisch demonstriert“ hat, kann man das nur als Kritik an diesen Ländern interpretieren. Ich bin indes nicht sonderlich überrascht, dass Wenger in diese Kerbe schlägt. Vor wenigen Jahren machte er unverhohlen Werbung dafür, die WM alle zwei Jahre auszutragen – ein Plan, den vor allem Saudi-Arabien verfolgt, um etwas vom WM-Kuchen abzubekommen. Wenger hat sein eigenes Schicksal so sehr an die Fifa und die dazu gehörigen Autokraten dieser Welt geheftet, dass solch ein Spruch nur die logische Konsequenz war.
  • Menschen, die diesen Tagebuch-Eintrag nicht chronologisch lesen, sondern vor dem Wenger-Abschnitt in die Leseempfehlungen geluschert haben, werden nun aufmerken: Vielleicht liegt Wenger ja richtig! Laut den Informationen der Sporschau haben die Diskussionen um die „One Love“-Binde tatsächlich die Stimmung der DFB-Elf getrübt, ähnlich wie die Erdogan-Affäre vier Jahre zuvor. Ich bin kein großer Freund davon, das deutsche Ausscheiden in irgendeiner Form mit dem Thema „One Love“-Binde zu vermengen. Deutschland schied aus, weil sie in der zweiten Halbzeit gegen Japan schlecht spielten. Sie spielten schlecht, weil sie keine Antwort fanden auf die taktischen Umstellungen Japans. Ich sehe nicht, was ein Verzicht auf die Geste vor dem Spiel geändert hätte. Zumal die Leistung in der ersten Halbzeit überzeugend war.

Leseempfehlungen

Sportschau: Spieler „genervt“ von „One Love“-Binde-Diskussion

The Athletic: The 20-year plateau of the FIFA World Cup™ aesthetic (or why World Cups all now look the same)

FAZ: Wie Virtual Reality Fußballspieler besser macht


Das Titelbild zeigt Harry Kane und stammt von enviro warrior, Lizenz: CC BY-SA 2.0.

6 thoughts on “WM-Tagebuch, Tag 16: Der Segen des mitspielenden Stürmers

  1. Um den letzten Absatz aufzugreifen: Vermutlich nicht nur ein deutsches Problem oder Eigenheit ist es, unglaublich viel Kaffeesatzleserei in Sachen Fußball zu betreiben. Das fängt ja schon beim abergläubigen Fan an, der sein Trikot nach einem Sieg nicht wäscht oder andere Rituale. Und das geht natürlich ziemlich weit hoch. Fußball als Ersatzreligion. Was dann auch für ziemlich viele Probleme sorgt, wenn man das eben mehr religiös als faktenbasiert betrachtet. In Deutschland ist IMO deswegen auch die allgemeine Fußballbildung und -betrachtung deswegen problematisch, wo man in anderen Ländern es schon sehr viel mehr als Leistungssport und Geschäft begreift.

    Danke fürs Aufgreifen der „Körperlichkeit“. Ich finde es wirklich durchaus auffällig, dass das weniger relevant ist. Sicherlich und gerade auch durch verbesserte taktische Schulung der einzelnen Spieler, was ja per se dazu führt, dass individuelle Schwächen weniger relevant sind (Stichwort: Rangnicks „10 Athleten als Bundesligaklub“), aber vermutlich auch ein wenig durch Leistungszentren/Akademien – und schlussendlich mehr Geld in der Sportart, wodurch auch körperlich stärkere Spieler jetzt diesen Karriereweg gehen. Ich kann mir vorstellen, dass das Fußballweltbild in 10 Jahren noch mehr anders ausschaut, wenn sich nicht grundsätzlich etwas ändert.

    Zu Polen/Frankreich: Kann es sein, dass es auch teil der Taktik von Frankreich war, durchaus so spielverweigernd aufzutreten (und die eigene defensive Stärke auszuspielen), damit man Polen mal aus ihrem Igeldasein herauslockt? Ich habe das Spiel nicht gesehen, deswegen die Frage. Es gehören ja immer 2 dazu, und ich frage mich, ob Frankreich durchaus bewusst den Ball sehr viel aufgegeben hat, um die Polen zum Offensivspiel zu verführen – und damit eine Unabgestimmtheit herbeizuführen.

    Und noch ein Punkt in Sachen „Ich sehe viel Bundesliga in Japan“: Ich musste kurz lachen, weil ich da spontan zuerst an die Bayern und den BVB denken musste, die doch sehr konträr zu den Japanern agieren und beide IMO große Schwachpunkte im guten Defensivspiel haben (vor allem der BVB). Aber dann bemerkte ich, dass du eben jene Klubs meinst, wo diese Japaner auch agieren: Eben Freiburg, Frankfurt, Bochum. Vor allem erstere beiden Mannschaften agieren defensiv sehr diszipliniert und „schwimmen“ vergleichsweise selten. Ich wiederhole mich, aber: Es wäre für die N11 gut, wenn man mal wieder „traditionell“ gute deutsche Defensive auch bimsen würde, und nicht nur Offensive-Total ala Flick.

  2. Noch etwas zu Kane: Ich finde es gut, dass du das auch erwähnst. Vielleicht führt die WM (und auch die bisherige Bayernsaison) auch hier zu einem Aufwachen und Trendumkehr, so dass wir wieder „gelernte“ Mittelstürmer sehen. Der Einfluss eines solchen, auch wenn es vielleicht kein Weltklassemann wie Kane ist, sondern nur „gehobenes Niveau“ wie Choupo-Moting, sollte durchaus klar geworden sein.

    Man konnte gerade bei der N11 gut sehen, dass da vorne zwar hochtalentierte Spieler sind, die sich aber oft gegenseitig im Weg standen. Speziell bei Musialas Dribblings fiel das auf, weil diese oft darin endeten, dass er nächste „Gegenspieler“ ein weißes Trikot hatte. Da kann man einerseits Musiala kritisieren, dass er nicht früher abspielt, aber auch andere Spieler, dass die sich nicht besser bewegen und bspw. sich für Abpraller positionieren.

    Stichwort Abpraller: Havertz ist zweifelsohne mit allem gesegnet, was für einen Mittelstürmer an Fähigkeiten gebraucht wird. Aber sein Spielverhalten ist weitgehend immer noch das eines Halbstürmers/10ers. Viel zu oft will er direkt an einer Szene dabei sein und nimmt dadurch den anderen Halbstürmern/10ern die Räume. Ein Mittelstürmer bewegt sich u.U. oft auch etwas antizyklisch (aber antizipierend) in Räume, die nicht direkt mit der Angriffssituation zu tun haben. Auf den „anderen Pfosten“ oder in den Rückraum gehen, um dort den Abpraller einzufangen und zu verwerten – wodurch man ersten seinen Kollegen direkt Raum gibt, weil man aus selbigem geht und zum anderen vielleicht 1-2 Verteidiger mitnimmt.

    Diese Vorgehensweisen sieht man viel zu selten. Speziell die ganzen deutschen Offensivspieler suchen viel zu oft den direkten Weg Richtung Tor, sowohl im Paßspiel, Torschuss als auch Positionsspiel, wodurch der Strafraum dann einfach gerammelt voll wird.

  3. Die Analyse zu Kane finde ich auch sehr interessant. Und wenn man den Vergleich zu DEU zieht: wichtig ist eben auch inwieweit solche Spielertypen in das gesamte Muster/Konzept integriert werden und da scheinen die Engländerm trotz aller Kritik die immer wieder an Southgate (in England) geübt wird, ein deutliches Stück weiter zu sein als unsere N11. Kernthema einer jeden taktischen Ausrichtung muss sein wie das eigene Team Tore erzielen will.

  4. re: Welche Bedeutung für die Entw. der japan. N11 spielte Trainer Zico? Ich glaube mich zu erinnern, dass ich unter seiner Leitung das erste Mal auf Japan wirklich positiv aufmerksam wurde; sie sogar unglücklich „zu früh“ ausschieden? Immerhin war er ein paar Jahre dort. Oder wäre diese Entw. mit den meisten anderen Trainern ähnlich verlaufen?

    * * *

    (etwas polit. Theorie, sry:
    re: One Love Binde – (ein Glück dass das nicht bei der Frauen-WM Thema ist. Es würde unter Garantie der neue Kalauer hinter der Hand werden) – und Kaffeesatz – das ist Bestandteil der substanzlosen Boulevardisierung von eigentlich wissenschaftlichen, d.h. exakt aufzubereitenden Themen wie Fussballtaktik; also „Behauptung“ und „anekdotisches Argumentieren“ ersetzen sachorientiere, nicht-emotionale geführte strukturelle Analyse. Mentalität ist z.B. ein Begriff mit dem jeder ohne jede Qualifikation etwas anfangen kann. Dazu kann leicht Meinung generiert werden und entsprechende Rezeptionsvolumen. Der ökonom. Druck durch die für das digitale Zeitalter spezifischen Umstellungen des Medienwesens begünstigt diese Unsachlichkeit. Das geht auch zurück auf die zunehmende Personalisierung in der Politik, beginnend z.B. siehe BT-Wahlkampf Gerhard Schröder ´98, Stichwort „MEdiendemokratie“. Oder wie Thatcher sagte: Es gibt keine Gesellschaft, es gibt nur Individuen. Gesellschaft/Gemeinschaft-orientiertes Denken macht Analysen komplex. Individuen-orientiertes Denken kann viel stärker auf Polarisierung, Simplifizierung und Emotionalisierung zurückgreifen. / einerseits: Für den Fussball war das natürlich wahrscheinlich immer schon gültig. Andererseits hat die Arbeit an „Fussballtheorie“ z.B. auch durch die Spielverlagerung und Co. die Qualität des öffentlich. Diskurses erheblich verbessert. Das sieht man schon an so banalen Beispielen wie kicker-Berichten. Wo von taktischen Feinheiten gesprochen wird, die man vor 10 Jahren eher mit der Lupe hätte suchen müssen. Natürlich ist da noch ein weiter Weg zu gehen. Und Binde-Diskurse gestatten Leuten eben mitzureden, die eigentlich von Fussball keinen blassen Schimmer haben.)

    1. Es gibt ja viele Namen, die im Verlaufe ihrer späten Spieler-/Trainerkarriere nach Japan gegangen sind: Guido Buchwald gehört da genauso dazu wie Dettmar Cramer oder Zico. Tatsächlich ist der Name, den man am häufigsten in Verbindung mit der japanischen Nachwuchsarbeit hört, ein in Europa gänzlich unbekannter: Tom Byer. Der frühere US-Profi hat schon Ende der Achtziger die ersten Fußballschulen dort eröffnet. Er hatte später eine sehr einflussreiche Rubrik in einer Fernsehsendung, die Kindern das Fußballspielen nähergebracht hat. Ich weiß von Shinji Kagawa, dass er diese Fernsehsendung als großen Einfluss bezeichnet hat. Byer hat auch mitgeholfen, die in Japan bis heute gängigen Strukturen aufzubauen und Ausbildungsinhalte konzipiert. Heute arbeitet er für den chinesischen Verband – wobei ich mir da gar nicht mehr sicher bin, ob das noch aktuell ist.

      1. cool.

        da stellt sich die Frage nach der kommenden Entw. des Fussball in China.
        Selbst in den USA hat sich offensichtlich im gewaltigen Schatten von B-B-F auch etwas Ansehnliches gebildet.
        Und in Frankreich war die Popularität des Rugby ja auch kein Hindernis.

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