WM-Tagebuch, Tag 11: Schicksalstag für den Besten aller Zeiten

Der heutige WM-Tag verlief wie erwartet: Hochwertig waren die Spiele Senegal gegen Ecuador sowie USA gegen Iran nicht. Dafür waren sie dank der Gruppenkonstellation bis zur letzten Minute spannend. Der Senegal setzte sich gegen lange Zeit zu defensiv auftretende Ecuadorianer durch, während sich die USA gegen lange Zeit zu defensiv auftretende Iraner durchsetzten. Da soll noch jemand behaupten, man bekomme bei dieser WM keine Abwechslung geboten! Ich blicke heute trotzdem eher auf die Engländer und die Niederländer sowie auf den größten Fußballer, den ich zu meinen Lebzeiten Spielen sehen durfte.

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Gakpo, der Tausendsassa auf fremder Position

Seit gestern steht Cody Gakpo zusammen mit Kylian Mbappe und Enner Valencia an der Spitze der Torjägerliste. Gakpo ist der erste Niederländer, dem in seinen ersten drei WM-Partien jeweils ein Tor gelang. Die Art der Tore unterstreicht seine Vielseitigkeit: Gegen Senegal traf er per Kopf, gegen Ecuador hämmerte er den Ball ins kurze Eck, gegen Katar schloss er flach ins lange Eck ab. Drei Tore, die seine ganze Pallette an Stärken unterstreicht.

Aufgrund seiner Körpergröße von fast 1,90 Meter glaubt man auf den ersten Blick, Gakpo gehöre ins Sturmzentrum. Bei seinem Heimatverein PSV agiert er aber meist als Linksaußen. Seine Stärken sind eher die eines klassischen Außenstürmers: Er dribbelt seine Gegenspieler schnell an, zieht in die Mitte und schließt dort mit seinem rechten Fuß ab. Seine Torquote erhöht er mithilfe seiner Fähigkeit, Räume hinter der gegnerischen Kette zu erahnen. So startet er gerne diagonal in Richtung Tor, wenn der Ball von der ballfernen Seite kommt. Auch Mitspielen kann er, wie sein ehemaliger Mitspieler Mario Götze bezeugen kann. Gakpo war in Eindhoven ein gern gewählter Kombinationspartner des deutschen WM-Fahrers.

Louis van Gaal setzt diesen Außenstürmer jedoch nicht auf Außen ein. Der Bondscoach bevorzugt das 5-3-2-System. Es sieht keinen echten Außenstürmer vor. Gakpo ist jedoch der individuell herausragende Spieler der Niederländer, gerade wenn Memphis Depay fehlt. Daher genoss Gakpo im ersten Spiel gegen den Senegal auch eine Freirolle: In einem seltsamen 5-2-1-2-Konstrukt war er als Zehner überall und nirgendwo zu finden. Das war ein Mitgrund, warum das offensive Mittelfeld verwaiste. Er verfügt nicht über das Raumgefühl eines Zehners und wich immer wieder auf die Flügel aus.

In den beiden folgenden Spielen agierte Gakpo in neuer Rolle. Er durfte nun als Teil des Doppelsturms spielen. Auch hier hakt es noch: Die Anbindung zwischen Defensive und Offensive ist eine Schwachstelle der Niederländer. Gakpo muss zudem auf der halbrechten Seite spielen, da die halblinke Seite durch Memphis blockiert wird. Das hindert Gakpo nicht daran, nach links auszuweichen, was das Spiel der Niederländer etwas linkslastig macht.

Gakpos Einbindung in das niederländische System ist sicherlich suboptimal. Für eine freie Rolle kreiert er eigentlich zu wenig, während seine Stärken im technischen Bereich – Stichwort: Aufdrehen und Tempodribblings – nur selten eingebunden werden. Zwei erfolgreiche Dribblings gelangen ihm im gesamten Turnier. In der Eredivisie schafft er das pro Spiel. So zeigten die Niederlande in keinem Gruppenspiel ein Offensivfeuerwerk, nicht einmal beim 2:0 gegen Gastgeber Katar.

Dass Gakpo trotzdem auf drei Tore kommt, unterstreicht, warum ihn die halbe Premier League jagt. Seine Fähigkeiten im Abschluss und seine Unbekümmertheit, auch Schüsse aus suboptimalen Positionen zu wagen, hebt ihn von der Masse an Spielern dieser Weltmeisterschaft ab. Das Schicksal der Holländer wird auch davon abhängen, ob er weiter aus halben Chancen drei Tore machen kann. Denn eins ist klar: Die Holländer überzeugen bisher ganz und gar nicht. Sie haben es sogar geschafft, in drei Spielen gegen unterirdische Kataris und nicht besonders gute Senegalesen und Ecuadorianer ein negatives Expected-Goals-Verhältnis von 2,3 zu 2,7 vorzuweisen.

Braucht ein König eine Krone?

Heute steht die Partie Polen gegen Argentinien auf dem Programm. Es könnte der letzte WM-Auftritt von Lionel Messi sein – oder aber auch der zündende Moment eines späteren Weltmeisters. Beides erscheint mir gleich wahrscheinlich. Ja, die Argentinier haben in den ersten beiden Spielen nicht überzeugt. Lionel Messi findet noch keine Abnehmer für seine Pässe. Die Strategie, ständig den Ball über die Abwehr chippen zu wollen, geht noch nicht auf. Man darf aber nicht vergessen: Die Niederlage gegen Saudi-Arabien war ein Freakergebnis, und gegen Mexiko war das Spiel nach dem argentinischen Tor gelaufen. Tatsächlich hat kein WM-Teilnehmer an den ersten beiden Spieltagen weniger Expected Goals zugelassen. Gegen Polen wird ihre Fähigkeit gefragt sein, einen defensiven Gegner zu knacken. Angesichts der Ausgangslage – Polen genügt ein Punkt, Argentinien braucht einen Sieg – kann man davon ausgehen, dass sich die Polen im 6-3-1 am eigenen Strafraum verschanzen.

Argentiniens Spiele haben bei dieser Weltmeisterschaft für mich persönlich ein hohes Gewicht. In Katar wird auch das Erbe von Lionel Messi bestimmt, dem besten Fußballer, den ich zu meinen Lebzeiten sehen durfte. Ob er auch der Beste aller Zeiten ist?

Diese Frage an einen Weltmeister-Titel zu knüpfen, scheint auf den ersten Blick hohl. Das Besondere an Messi (und ein Stück weit auch an Cristiano Ronaldo) sind ja nicht die Titel, die sie errungen haben, und die Spiele, die sie gewonnen haben. Was Messi so speziell macht: Wenn man ein zufälliges Spiel aus seiner Vita herauspickt, hat er mit hoher Wahrscheinlichkeit ein tolles Spiel gemacht – egal, ob dies ein bedeutungsarmes Ligaspiel war, ein Champions-League-Halbfinale oder ein Vorrundenspiel der Copa America. Diego Maradona, Johann Cruyff oder Zinedine Zidane haben auf höchstem Niveau gigantische Leistungen gezeigt. Sie haben dieses Niveau aber nie Woche für Woche abrufen können, ganz besonders Zidane nicht. In dieser Hinsicht können allenfalls Pelé und Alfredo di Stefano mit Messi (und Ronaldo) mithalten – und das vielleicht auch nur, weil wir über ihre Zeit heute nicht mehr ganz so viel wissen.

Messi hat das Problem, dass er in eine Ära hineingeboren wurde, in der Argentinien nicht die größten Talente hervorgebracht hat. Die wohl talentiertesten Mitspieler, die er bei Weltmeisterschaften hatte, boten die Teams aus 2006 und 2010. In Deutschland befand er sich am Anfang seiner Karriere, in Südafrika wurde das Team von einem taktisch dilletantischen Diego Maradona trainiert. 2014 trug Messi sein Team ins Finale, obwohl er sichtbar nicht fit war. Dass Messi sich während Spielen übergibt, ist keine Seltenheit, 2014 tat er das aber gleich während mehrerer Partien. 2018 konnte nicht einmal er ein zerstrittenes und taktisch schlecht eingestelltes Argentinien retten.

Nun also 2022. Ist es fair, eine große Karriere wie jene von Messi an einem Turnier zu messen, in dem Zufall und Form eine wesentliche Rolle spielen? Ich denke nein. Dennoch kann man das Argument nicht von der Hand weisen, dass der Weltmeister-Titel für Fußballer der Größte ist. Messi ist kein Kanadier oder Georgier. Ein Weltmeister-Titel mit Argentinien ist ein erreichbares Ziel. Messi muss sich zumindest an dem messen lassen, was andere Argentinier erreicht haben. Und da liegt er in der Kategorie Weltmeisterschaften hinter Maradona.


Kurze Beobachtungen

  • Gareth Southgate steht vor einer schweren Entscheidung. Wen soll er im Achtelfinale aufstellen? Gerade der Name Phil Foden wird in England heiß diskutiert. Im Spiel gegen die USA bekam Citys Star seine Chance. Es dauerte etwas, doch in der zweiten Halbzeit machten Foden und der ebenfalls in die Startelf gerutschte Marcus Rashford Werbung in eigener Sache. England benötigt nicht nur Außenstürmer, welche die Breite besetzen, sondern auch Abnehmer für Bälle hinter die Abwehr. Harry Kane überzeugt bei dieser WM vor allem als mitspielender Stürmer, wie seine drei Assists beweisen. Gerade Rashford bietet der Mannschaft mehr Tiefe als Sterling. Foden bringt diese Tororientierung plus Dribblingstärke plus Form mit. Saka wiederum befindet sich in besserer Form als Sterling. Auf der Insel wird es viele Personaldiskussionen geben, bevor am Samstagabend das Achtelfinale gegen Senegal angepfiffen wird.
  • Erinnert sich noch jemand an die spanische Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft 2014? Der damals amtierende Weltmeister schied bereits in der Gruppenphase aus, die Schmach ging als historisch in die Geschichte ein. Dabei waren die Spanier in jenem Jahr gar nicht so schlecht. Sie hatte das Pech, mit den Niederlanden und Chile zwei starke und taktisch unpassende Gegner zugelost bekommen zu haben. Warum ich daran erinnere? Weil die Auslosung 2022 erzwingt, dass eine Mannschaft aus Deutschland, Japan und Spanien ausscheidet, während in Gruppe A Senegal und Ecuador um einen Achtelfinal-Platz spielen durften. Dass ich über das taktische Niveau einer Partie schimpfe, in der beide Teams sichtlich nervös waren – geschenkt! Aber das Spiel war auch technisch eins der schwächsten Spiele der Weltmeisterschaft. So sehr ich mich gefreut habe, dass die Senegalesen die offensiven Totalverweigerer aus Ecuador rausschmissen: Viel traue ich ihnen im Verlaufe des Turniers nicht zu. Was angesichts des berühmt-berüchtigen Escher-Jinx wohl bedeutet, dass Senegal das Halbfinale erreicht.
  • Vor ein paar Tage habe ich mich an dieser Stelle nicht sonderlich freundlich über die polnische Nationalmannschaft geäußert. Der polnische Journalist Michał Trela hat meine kritischen Aussagen übersetzt und auf Twitter geteilt. Danach war aber was los in meinem Posteingang! Ich bekam ein Dutzend Direktnachrichten auf Twitter und Instagram. Polnische Fans machten sich über das Abschneiden der deutschen Nationalmannschaft lustig, als hätte ich höchstpersönlich auf dem Feld gestanden und versagt. Es folgten ein paar Nachrichten mit zweifelhaftem Inhalt – „Schwuchtel“ war ein beliebtes Schimpfwort – und weitere Schmähungen auf monatealten Instagram-Posts von mir. Abgesehen von diesen Nachrichten war der Tenor in der polnischen Taktik-Twitter-Bubble aber: Blöd, sich das von einem Deutschen sagen zu lassen, aber Unrecht hat er nicht. Wer im Übrigen des Polnischen mächtig ist (oder wie ich einen Übersetzungsdienst nutzt), sollte Michał Zachodny auf Twitter folgen. Seine Analysen sind immer lesenswert, und meines Wissens nach hat er sich auch noch nicht kritisch über die deutsche Mannschaft geäußert.
  • Zum Abschluss noch eine erfreuliche Nachricht: Stéphanie Frappart wird am Donnerstagabend die erste Schiedsrichterin, die ein WM-Spiel leitet. Sie pfeift die deutsche Partie gegen Costa Rica. Trolle werden sich während des Spiels sicherlich genötigt fühlen, Frappart wegen ihres Geschlechts zu beleidigen. Dass ihr das Spiel Probleme bereiten wird, glaube ich indes kaum. Erstens ist es kein Zufall, dass ausgerechnet sie diese Barriere durchstößt. Sie ist eine herausragende Schiedsrichtern und hat bereits Champions-League-Spiele der Männer gepfiffen sowie das Supercup-Finale 2019. Zweitens erscheint mir die Partie zwischen Deutschland und Costa Rica als leichter Einstieg. Sie wird sich zu 90% in der costa-ricanischen Hälfte abspielen, es wird viele deutsche Pässe und wenig Zweikämpfe geben – und wenn alles gut läuft aus deutscher Sicht, ist die Partie früh entschieden. Es gibt undankbarere Spiele für eine WM-Premiere.

Leseempfehlungen

Spiegel: Reicht der Einfluss Teherans bis nach Katar?

Sport1: Die Wahrheit hinter der Botschaft von Goretzka!


Das Titelbild stammt von Kyrill Venedikt, Lizenz: CC BY-SA 3.0.

2 thoughts on “WM-Tagebuch, Tag 11: Schicksalstag für den Besten aller Zeiten

  1. Für eine Schiedsrichterin dürfte jenes Spiel wirklich sehr angenehm sein. Richtig interessant wäre der Einsatz einer solchen bei Spielen von Iran, Saudi-Arabien oder Katar. Iran vs. USA wäre zum Beispiel eine hochbrisante Platform gewesen. 😉

    Generell sollte man das aber nicht zu hoch hängen mit Katar und einer weiblichen Schiedsrichterin übrigens. Saudi-Arabien (quasi das „andere Katar“) betreibt ebenfalls Sportswashing, aber eher mit Wrestling. Dort wird es dann auch gefeiert, dass Frauen im Ring antreten dürfen. Letztlich sollte man das hüben wie drüben aber eher als Zirkusnummer sehen („sehr, wir lassen einen Tiger radfahren!“) denn als wirklich Fortschritt gegenüber der Stellung von Frauen in der Gesellschaft.

  2. Und noch zu Messi: Deine Sichtweise, dass es nur wenig schlechte Spiele von Messi gibt und das ihn damit auch auszeichnet, einer der oder der Beste zu sein, finde ich nachvollziehbar. Einen ultrahohen Peak kann jeder mal haben (speziell, wer Scouting via Best-Of-Videos betreibt, wird das bestätigen können), aber in jedem Spiel eine gute Leistung abzuliefern ist eine Form von großer Klasse.

    Ein Jammer, dass Lahm „nur“ Verteidiger war, der müsste eigentlich bei diesen Diskussionen immer mit dabei sein. Traditionell sind aber „nur“ Angreifer in der Diskussion der Besten aller Zeiten. Philipp Lahms Karriere ist aber auch eine absurd gute und lange Liste von Topleistungen.

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