WM-Tagebuch, Tag 10: Nicht hochklassig, aber spannend

Langsam, aber sicher erreicht die Weltmeisterschaft einen Scheidepunkt. Zu Beginn der WM herrschte in meinem Tagebuch ein kritischer Ton. Es ging viel um Politik, um Kritik am Gastgeber, um das Unbehagen, das die Fifa mit ihrem Turnier in mir auslöst. In den vergangenen Tagen rückten die sportlichen Themen in den Vordergrund. Plötzlich ging es um die deutsche Nationalmannschaft, um Taktikanalysen, um die kleinen und großen emotionalen Momente dieser Weltmeisterschaft.

Es tritt so langsam das ein, was Kritiker der WM befürchtet hatten: Die Kraft des Faktischen schafft eine Normalität, die trügerisch ist. Diese Normalität wollen Katar und die Fifa an die Außenwelt verkaufen. „Seht her, es ist eine ganz tolle Weltmeisterschaft in einem ganz tollen Land!“ Während an den ersten Tagen noch Ordner Regenbogenflaggen konfiszierten oder katarische Fans das Stadion bereits nach einer halben Stunde verließen, wirken die WM-Spiele mittlerweile wie… WM-Spiele. Robert Lewandowski weint vor Freude, die ghanaische Nationalmannschaft tanzt nach ihrem Sieg, Niclas Füllkrug strahlt sein lückenhaftes Lächeln in die Kamera. Der Kontrast zwischen meinem Gefühl, wie es sein sollte, und dem, wie ich diese WM tatsächlich empfinde, wächst mit jedem Tag.

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Diese Veränderung beobachte ich nicht nur in mir. In den Medien, die ich konsumiere, verschiebt sich der Diskurs. Die Empörung über den Gastgeber und die Feigheit des DFB wird abgelöst von sportlichen Analysen. Zugleich echauffieren sich zunehmend Kolumnisten über die Kritik an Katar. Leute in meiner Umgebung, die in der ersten Woche das Thema WM tunlichst vermieden haben, wollen plötzlich meine Einschätzung zum Spiel gegen Spanien hören. Im TV haben knapp zwanzig Millionen Menschen das Spiel Deutschland gegen Spanien verfolgt. Die Zuschauerzahlen liegen noch immer unter den Werten von 25 bis 30 Millionen Zuschauern, welche deutsche WM-Spiele in der Vergangenheit erzielten. Es fehlen darin allerdings noch die Streaming-Zahlen, und wenn diese erst einmal einbezogen werden, ist die Lücke zu einer „normalen“ WM wesentlich kleiner als nach dem Japan-Spiel.

Was nun aber deutlich wird, ist die bittere Wahrheit, die eigentlich bereits vor der Weltmeisterschaft klar war: Für die nackte, sportliche Bedeutung des Turniers ist es irrelevant, wo und unter welchen Umständen diese Weltmeisterschaft stattfindet. Für die Spieler und Trainer, aber auch für viele Fans, gerade aus dem nicht-europäischen Ausland, ist dies eine normale Weltmeisterschaft. Die Teams liefern die sportlichen Momente und die außersportlichen Geschichten, die viele Menschen wie mich zu einem Fußball-Fan haben werden lassen.

Die Weltmeisterschaft als Nicht-Ort

Wie passt es zusammen, dass selbst eine WM in Katar Bilder produziert, die so vertraut wirken? In diesem Zusammenhang hat Simon Kuper in der Financial Times einen hochspannenden Artikel geschrieben. Er stand gestern bereits in den Leseempfehlungen. Er hat jede Weltmeisterschaft seit 1990 besucht. Mit der Zeit nahm er wahr, dass Weltmeisterschaften sich immer stärker von ihrem Gastgeberland emanzipierten.

Der französische Anthropologist Marc Augé prägte den Begriff „Nicht-Orte“: Grob gesprochen „supermoderne“ Orte der Flüchtigkeit, wie Flughäfen oder Hotelräume, an denen Menschen kaum einen Abdruck hinterlassen. Darunter fällt eine moderne Weltmeisterschaft, ganz besonders diese. Die Stadien sind neu, ohne Geschichte. Sie wurden weit entfernt von Nachbarschaften gebaut, in einem großen, abgesperrten Gebiet. Sie haben keine Beziehung zum Ort.

Simon Kuper

Der einzige Hinweis, dass diese WM in Katar und nicht etwa in Russland, Argentinien oder Neuguinea stattfindet, sind die Gewänder der katarischen Tribünengäste, die Sandro Wagner nonchalant als „Bademäntel“ bezeichnete. Ansonsten sind die TV-Bilder komplett austauschbar. Regisseure von Fußballspielen haben längst eine Bildsprache entworfen, die Fußball als eigenen Raum definiert, der sich von der „normalen Welt“ abgrenzt. Wir Fußball-Zuschauer kennen all diese kleinen Codes, all die Zeitlupen und Nahaufnahmen von Fans. Übertragungen aus Katar unterscheiden sich kaum von Übertragungen der Bundesliga. Das trägt sicherlich auch dazu bei, dass ich bereits nach wenigen Tagen WM-Konsum kaum mehr greifen kann, dass diese WM in Katar stattfindet und eigentlich ein Skandal ist.

Es gilt aber weiter das, was Philipp Eitzinger vor der WM zusammengefasst hat. Für die Gründe, aus denen man die Vergabe nach Katar ablehnt, ist es völlig unerheblich, ob diese WM nun ein großer Erfolg wird oder ein Reinfall. Ich habe Katar nie die Fähigkeit abgesprochen, eine WM zu organisieren, zumindest nicht im rein formalen Sinn. Die Kritik setzt bei der Vergabe an: Weltmeisterschaften sollten ohne Korruption vergeben, Arbeiterrechte beim Bau der Infrastruktur eingehalten, Menschen vor Ort nicht diskriminiert werden. Da kann der Fußball noch so toll sein: Er verändert meinen Blick auf Katar und die Fifa nur unwesentlich.

Brasilien und die Vorteile der Langeweile

Sportlich gesehen bietet dieses Turnier noch nicht allzu viel Spektakel. Die meisten Begegnungen spielen sich rund um den Mittelkreis ab. Die Zahl der Teams, die sich mit mehr als vier Spielern ins letzte Drittel trauen, lässt sich an einer Hand abzählen.

Dass die Langeweile kein Zufall, sondern Methode ist, wissen wir bereits aus vergangenen Turnieren. Die Rechnung der meisten Nationen lautet, möglichst wenig Gegentore zu kassieren. Große Nationen hoffen, dass sie mit einer stabilen Abwehr den Titel erringen können. Mittelgroße Nationen glauben, dass sie nur mit einer stabilen Abwehr große Nationen bezwingen können. Und die kleinen Nationen beten, dass sie mit einer stabilen Abwehr irgendwie die K.O.-Phase erreichen. So wird bei dieser WM praktisch jeder Angriff mit sechs oder sieben Mann abgesichert. Das erklärt ein Stück weit, warum das mutige Kanada eins von nur zwei Teams ist, das keine Chance mehr auf die K.O.-Phase hat. Sie machten all die Dinge, die kein anderes Team bei dieser WM wagt: Die Spieler liefen den Gegner ständig an, am Angriff beteiligten sich fünf oder sechs Spieler, Trainer Herdman wechselte ständig seine Formation. Selbst außerhalb des Platzes sorgte Kanada mit lauten Ansagen für Furore. Die Quittung: zwei Spiele, fünf Gegentore, null Punkte. Wer wagt, gewinnt nicht immer. Vor allem nicht bei einer Weltmeisterschaft.

Nehmen wir das Beispiel Brasilien. Nach dem brasilianischen 1:0-Erfolg über die Schweiz waren kritische Stimmen zu vernehmen. War das nicht etwas wenig von Brasilien? Muss sich eine brasilianische Nationalmannschaft nicht mehr Chancen erspielen, muss sie nicht mehr Zuckerhut ausstrahlen? Die Antwort darauf ist eine Zahl: null. So viele Schüsse gingen bisher auf den Kasten von Allison. Die Gegner kamen allerallerallerhöchstens zu Fernschüssen. Serbien und die Schweiz – wahrlich keine Gurkentruppen – kamen jeweils auf 0,3 Expected Goals.

Das brasilianische System ist ganz darauf ausgerichtet, aus einer stabilen Grundordnung heraus zu agieren. Stabilität ist dabei nicht gleichbedeutend mit Tiefstehen. Die Brasilianer formen ihr 4-2-3-1-System im Ballbesitz so um, dass sie ein sehr gutes Positionsspiel herstellen. Dazu gehört, dass die Außenverteidiger situativ einrücken. Fred und Paqueta können dadurch etwas weiter vorne agieren und Räume zwischen den Linien oder auf den Flügeln angreifen. Ohne Neymar funktionierte diese Struktur nicht so gut wie im ersten Spiel; es fehlten die Geistesblitze und die Anspiele zwischen die Linien.

Ein Faktor des brasilianischen Spiels funktionierte auch ohne Neymar: Nach Ballverlusten kamen die Brasilianer schnell ins Gegenpressing. Genauso schnell kehrten sie nach erfolgloser Balleroberung in ein kompaktes 4-1-4-1 zurück. Brasilien ließ keinen einzigen Konter zu gegen eine Schweizer Mannschaft, die nur auf Konter aus war.

Das ist der Waschzettel, der an der Gruppenphase eines jeden Turniers haftet: Bitte die Leistungen nicht überbewerten! Gerade die stabilen Teams können im weiteren Verlauf saugefährlich werden. Ich hätte auf jeden Fall wenig Lust, gegen diese brasilianische Mannschaft zu spielen.

Kurze Beobachtungen

  • Was dieser Gruppenphase an spielerischer Klasse fehlt, macht sie durch Spannung wett. In keiner einzigen Gruppe steht bereits fest, welche Teams weiterkommen. Es gibt also keine klassische 6-6-0-0-Konstellation nach zwei Spieltagen. Nur Frankreich, Brasilien und Portugal haben das Achtelfinal-Ticket gelöst. Sicher ausgeschieden sind Katar und Kanada. Die übrigen 27 Teams haben zumindest rechnerisch noch eine Chance auf die K.O.-Runde. Seit der Aufstockung auf 32 Teilnehmer im Jahr 1998 spielten noch nie so viele Teams am finalen Spieltag um das Weiterkommen. 2018 etwa waren fünf Nationen bereits vor dem letzten Spieltag sicher qualifiziert, acht waren bereits ausgeschieden.
  • Als ich noch jünger war, hörte man häufig den Satz: „Die Zukunft des Fußballs gehört Afrika!“ Die kamerunische Nationalmannschaft küsste den Kontinent 1990 wach. Seitdem gab es mit dem Senegal und Ghana zwei weitere WM-Viertelfinalisten. Der Kontinent wartet jedoch weiter auf den ersten Halbfinalisten geschweige denn Weltmeister. Gerade die Länder in Westafrika schickten in diesem Jahrtausend talentierte Mannschaften zu Weltmeisterschaften, nur um dann zu enttäuschen. Dafür gab es eine Vielzahl unterschiedlicher Gründe. Zwei der wiederkehrenden Muster waren Streit zwischen Spielern und Funktionären sowie schwache Torhüter-Leistungen. Beide Probleme hatten die WM-Teilnehmer in diesem Jahr scheinbar überwunden. Scheinbar. Bei Senegal patzte ausgerechnet Welttorhüter Mendy. Kamerun indes verbindet Torhüter-Probleme mit internen Streitigkeiten. Inter-Torhüter Onana wurde vom Trainer suspendiert, weil – man höre und staune – sein Spiel Trainer Rigobert Song zu modern war. Der Trainer forderte mehr lange Bälle, Onana weigerte sich. So rutschte Devis Epassy in die Startelf, der beim 3:3 gegen Serbien bei zwei Gegentoren schlecht aussah.
  • Eine ohnehin politisch aufgeladene Weltmeisterschaft bietet uns heute ein Spiel, das brisanter kaum sein könnte: Die Vereinigen Staaten treffen auf den Iran. Die USA benötigen einen Sieg zum Weiterkommen, dem Iran könnte ein Remis genügen. Schon im Vorfeld schlug die Begegnung hohe Wellen. Die Iraner legten Protest gegen die USA ein, nachdem diese eine bearbeitete iranische Flagge auf ihren Social-Media-Kanälen teilten. Es fehlte das Symbol, das „Allah“ darstellt. Laut dem US-Verband sollte diese Änderung eine Solidaritätsgeste zugunsten der Protestierenden im Iran darstellen. Auch Jürgen Klinsmann machte sich im Iran keine Freunde. Er behauptete, die iranischen Spieler würden sich ständig beim Schiedsrichter beschweren, weil dies „Teil ihrer Kultur“ sei. Selbst Irans Nationaltrainer Queiroz kritisierte Klinsmann auf Instagram. Dessen Entschuldigung machte es nicht besser. Er wandte den Klassiker einer jeden Nicht-Entschuldigung an: „Ich habe viele iranische Freunde!“ Auf der Pressekonferenz musste sich US-Star Tyler Adams zur Polizeigewalt in den USA äußern. Ein iranischer Journalist fragte US-Nationaltrainer Greg Berhalter, warum er sich nicht bei der US-Regierung dafür einsetze, dass ein amerikanisches Marineschiff den Golf von Persien verlässt. Haltung zeigen ist das Eine. Aber der Gedanke, dass Berhalter bei Joe Biden anruft und über Seerouten der US-Marine spricht – gewöhnungsbedürftig.

Leseempfehlungen

New York Times: The Fans Screamed for Qatar. Their Passion Hid a Secret.

Spiegel: Wie gut ist Deutschland wirklich?


Das Titelbild stammt von Antonio Thomás Koenigkam Oliveira, Lizenz: CC BY 2.0.

8 thoughts on “WM-Tagebuch, Tag 10: Nicht hochklassig, aber spannend

  1. „Da kann der Fußball noch so toll sein: Er verändert meinen Blick auf Katar und die Fifa nur unwesentlich.“

    Genau das ist der Punkt! Man kann das als Zuschauer durchaus trennen.

  2. > dass diese WM in Katar stattfindet und eigentlich ein Skandal ist.
    > Weltmeisterschaften sollten ohne Korruption vergeben, Arbeiterrechte beim Bau der Infrastruktur eingehalten, Menschen vor Ort nicht diskriminiert werden.

    Da gehe ich d’accord. Aber nachdem der Protest außerhalb Deutschlands doch ausgesprochen marginal ist, habe ich mich gefragt, ob das wirklich das Problem ist. Russland 2018 war jetzt in vielen der Punkte auch nicht viel besser, zudem bereits in einer Fast-Kriegs-Situation mit der „Annektion“ der Krim. Auch bei vielen anderen Austragungsorten aller Art ist der Aufruhr ziemlich gering. Auch die WM 2006 war massiv durch Korruption begünstigt. Also warum macht man bei Katar jetzt so ein Faß auf?

    Meine Theorie: Der deutsche Fußballfan mag keine „externe Einmischung“. Sei es durch externes Geld, Politik, etc. Fragt man in Deutschland durch alle Vereine nach, erhält man meistens offenen Haß gegenüber Konzerne wie Red Bull oder Mäzene wie Hopp und Kühne. Ich denke, dass hier der Hund begraben liegt: Man will eine wie auch immer geartete Ordnung der Dinge, wo man sich finanzielle Vorteile durch (vermeintliche) sportliche Vorleistung verdienen muss. Ansonsten ist es „Betrug“. Zumindest, wenn dieser externe Einfluss unverblümt daherkommt wie. Ist es nur ein Premium Sponsor, der sein Logo auf die Werbetafel hinter Mats Hummel klebt, ist es schon relativ egal. Diese Heuchelei ist halt dann natürlich auch urdeutsch.

    Und bei Qatar kommt dann alles zusammen: Bei Russland konnte man noch durchgehen lassen, weil die eine gewisse Fußballtradition haben („die spielen in _unserer_ CL!“), aber Qatar hatte gefühlt vor nem Jahrzehnt nicht mal ne Fußballmannschaft oder gar nen Fußballplatz. Es ist also ein fußballfremder Einfluss, dazu auch noch mit einer vollkommen anderen Kultur, wodurch vermutlich auch noch ein bisserl latenter Rassismus mit reinfließt. Aber indem man die ganze Kritik praktisch einzig an Menschenrechten aufhängt, hat man ein moralisch sicheres Argument, das man dann vorzeigen kann, wo eigentlich Rassismus (sehe ich untergeordnet) und Pseudo-Fußballtraditionsschutz die eigentlichen Gründe sind.

    1. Ich denke auch, da kommt vieles zusammen. Man muss dabei immer wieder betonen, dass die Kritikpunkte an Katar und an der Fifa legitim sind. Aber es ist sicher so, dass zumindest Kritikpunkte bezüglich der Menschenrechtslage vor Ort, der Verfolgung Homosexueller und derKorruption bei der Vergabe Russland genauso betroffen haben. Dennoch haben die negativen Punkte in Katar eine andere Dimension, gerade was die Vorfälle beim Bau der WM-Stadien angeht. Auch muss man sagen, dass eine WM in Russland auf dem Papier einfach deutlich mehr Sinn ergibt. Russland ist ein riesiges Land mit über hundert Millionen Einwohner, die Spiele verteilten sich auf mehrere Millionenstädte, die Stadien werden vor Ort größtenteils weiterhin für die heimische Liga genutzt. Katar ist ein Mini-Staat, der weniger Einwohner hat als Berlin und auch gar keine Verwendung für diese Stadien. Während die Idee, in Russland eine WM stattfinden zu lassen, noch recht organisch klingt, schreit bei Katar jeder Fan „Wieso?“.

      Die übrigen Gründe hast du alle aufgezählt. Ich würde hinzufügen: Der Zeitgeist ist sensibler als vor vier Jahren, was ich gar nicht wertend meine. Auch hat sich die Stimmung gegenüber dem Fußballgeschäft hierzulande noch einmal verschlechtert. Gerade intensive Fußball-Fans wollen ein Zeichen setzen. Man sollte zudem nicht unterschätzen, dass unsere Gesellschaft eher islamophob und zugleich eher russlandfreundlich ist. Arabische Herrscher sind so ziemlich die unbeliebtesten Politiker, während sich gerade in Ostdeutschlang eine nicht zu unterschätzende Minderheit finden lässt, die Putins Krieg gegen die Ukraine verteidigt. Das ist eine sehr explosive Mischung, welche den diesmal so lauten Protest wohl erklärt. (Wobei ich da immer wieder unterstreiche, dass ich nicht bewerte, sondern nur beobachte.)

      1. Traditionell hat der Mensch immer Probleme mit allem, was fremd ist. Und die islamische Kultur ist uns eben sehr fremd. Das fängt schon bei der Optik (Hautfarbe wie Kleidung) an und geht über etliche weitere Dinge dann weiter. Deswegen sehen wir die Ukraine und Russland eben auch sehr viel näher an uns, weil da zumindest oberflächlich nur die Sprache anders ist. Bei Katar kommt tatsächlich fast alles zusammen, was zumindest dem deutschen Fußballfan an „Fremdheit“ nicht passt.

        Ich will das übrigens auch weitgehend wertfrei verstanden wissen. Es ist einerseits gut, dass wir hierzulande gegen Katar (ein wenig) protestieren, aber ich vermute sehr viel mehr, dass speziell die Menschenrechts/Ausbeutungs-Sachen nur als moralisches Schutzschild benutzt wird, in Wahrheit aber tatsächlich sehr viele andere Gründe diese Kritik befeuern – die aber teils rassistisch, teils kolonialistisch, teils krude Fußballtraditionsansicht wären. Der Großteil davon wäre als Grund schwer vermittelbar.

      2. Ich habe vor kurzem im Zuge der Diskussionen um den Niedergang von Twitter seit der Übernahme erstmals vom „Trust Thermocline“ gehört. Dieser beschreibt das Phänomen, wenn ein Unternehmen oder Produkt plötzlich viele Kunden in kurzer Zeit verliert, ohne einen sichtbar schweren Fehler begangen zu haben, der das rechtfertigt. Hier eine ausführliche Beschreibung des Begriffs: https://every.to/p/breaching-the-trust-thermocline-is-the-biggest-hidden-risk-in-business

        „Broadly, any business in which the consumer forming an emotional relationship with the product contributes to adoption is at risk of such failures. [..] At its simplest, the trust thermocline represents the point at which a consumer decides that the mental cost of staying with a product is outweighed by their desire to abandon it.“

        Jetzt kann man bei den Zuseherzahlen der Vorrunde schwerlich argumentieren, dass diese WM global gesehen massiv Marktanteilen einbüßen musste. Aber seit ich sie wahrnehme, beschädigt die FIFA das Produkt Profifußball mit jeder Entscheidung stetig und dauerhaft. Der Blick zurück auf Russland ist da auch etwas kurzsichtig, denn schon mit Südafrika und Brasilien (ich erinnere mich an rechtsfreie Räume rund um die Stadien, geräumte Armenviertel und Stadien ohne sinnvolle Nachnutzung) wurde die Toleranz der Fußballbegeisterten strapaziert. Dazu kommen die zahlreichen Berichte über unverschämte Korruption rund um die Vergaben und ganz allgemein, die auch einen Schatten auf das Sommermärchen 2006 zurückwerfen. Mittlerweile gibt es ja auch eine Netflix-Serie zur FIFA-Korruption.

        Eine Fußball-WM im arabischen Raum ist absolut nicht das Problem. Aber ungeachtet der aktuellen politischen Verhältnisse wäre aufgrund ihrer fußballerischen Tradition, Begeisterung und Qualität Marokko, der Iran oder Ägypten eine weit bessere Wahl
        Eine WM im Winter wäre an und für sich auch nicht das Problem. Der Afrika-Cup wird aus gutem Grund meist im Jänner gespielt. Aber dann muss das schon Teil des Konzepts bei der Bewerbung sein.

        Mit dem Bewerb 2026 schlägt man ins andere Extrem und spielt ein unnötig auf 48 Teilnehmer aufgeblähtes Turnier (sehr offensichtlich, um sich durch außereuropäische Stimmen die Präsidentschaft abzusichern) über einen ganzen Kontinent verteilt.

        Es macht einfach keinen Spaß mehr, wenn der Sport selbst nur mehr eine Randnotiz bleibt und ich habe schon das Gefühl, dass der Zuspruch in Europa in absehbarer Zeit kippen könnte.

        1. Man muss hier, denke ich, unterscheiden. Die Dinge, die du beschreibst, treffen sicherlich allesamt auf den Fußballkonsum in Deutschland zu. Es genügt aber, die Grenze zu überqueren, und dann hat man es mit einer gänzlich anderen Fußballkultur zu tun. Fußball hat nur in wenigen Ländern eine derartige Monopolstellung wie in Deutschland. Hinzu kommt, dass viele andere Länder unsere Bauchschmerzen mit dem Fußball weit weniger kritisch sehen. Man stelle sich vor, der saudi-arabische Staaatsfond wäre bei einem deutschen Klub eingestiegen und nicht in Newcastle. In England hat es kaum Wellen geschlagen.

          Der Zuschauerschwund ist eine große Bedrohung für die wirtschaftliche Zukunft des deutschen Fußballs, aber gerade in der englischen Premier League kann man ein solches Problem nicht erkennen. Für viele Klubs im europäischen und gerade im nichteuropäischen Ausland ist der größte Risikofaktor die nahende Rezession der Weltwirtschaft und nicht der Trust-Thermocline-Effekt. Beim deutschen Fußball ist es etwas Anderes, worüber ich eigentlich auch irgendwann noch ein paar Worte verlieren könnte auf diesem Blog…

        2. Wahrscheinlich hast du Recht und da ist mehr der Wunsch Vater des Gedanken.
          Ich bin zwar aus Österreich, die Haltung orientiert sich hier aber nicht selten an einfach an Deutschland. Und diesmal starten die Gespräche über das Turnier eben nicht mit „hast du das Spiel gestern gesehen?“ sondern mit „schaust du die WM oder lässt du sie aus?“.

          Dürfte aber wohl wirklich eher eine Minderheitsmeinung sein.

  3. Toll, wie in diesem Beitrag die verschiedenen Ebenen beleuchtet und zusammengebracht werden. Gelingt nicht vielen.

    Ich kann nur meine Begeisterung übers Sportliche zum Ausdruck bringen. Mir gefällt der Fussball sehr gut. Mal sehen, was der technische Report oder Datenanalysen zeigen werden, aber ich habe das Gefühl, das Spiel hat sich deutlich in Richtung Klubfussball in Top-Ligen entwickelt hat. Denke nicht, dass an einer Endrunde schon mal so viel Pressing (v.a. Gegenpressing) bzw. so viel hoch verteidigende Teams zu sehen waren. Auch das Offensivspiel fühlt sich moderner an, weniger stark fokussiert auf Individualisten oder Standardsituationen. Es gibt haufenweise Systemumstellungen und Ideen, um spielerisch irgendwo auf dem Feld ein Übergewicht zu bekommen oder bestimmte Schwächen der Gegner zu bespielen. Natürlich sind die Abläufe nicht so harmonisch wie beim SC Freiburg, aber das wird man auch nie erwarten dürfen. Angesichts der je nach Team und Gruppenkonstellation total nachvollziehbaren Risikodosierung wird nicht wenig Spielerisches gezeigt. Spannung und Storylines gibt’s ohnehin mehr als genug. Was für Entscheidungsspiele heute schon, morgen wieder Messi (vs. Lewandowski), dann Kroatien-Belgien, Schweiz-Serbien, Ghana-Uruguay, etc.

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