WM-Tagebuch, Tag sieben: Das Rätsel der torlosen Unentschieden

Nachdem in den vergangenen Tagen das außersportliche Geschehen im Vordergrund stand, blicke ich heute etwas genauer auf die bisherigen WM-Spiele. Schwer tue ich mich vor allem mit der Frage, wie ich das Niveau des Turniers einschätze. Wie viel Langeweile steckt in den zahlreichen 0:0-Ergebnissen?

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2022, das Jahr der Torlosigkeit

20 Spiele gab es an den ersten sechs Tagen dieser Weltmeisterschaft zu bestaunen. Das häufigste Ergebnis: 0:0. Fünf Partien, also jedes vierte Spiel, endete torlos. Damit befindet sich diese Weltmeisterschaft auf einem negativen Rekordkurs. Es fehlen nur noch zwei 0:0, um den Weltmeisterschaftsrekord einzustellen. 2014, 2010 und 1982 gab es jeweils sieben torlose Unentschieden. Die WM 1982 sticht heraus, da es hier nur 24 und nicht wie heute 32 Teilnehmer gab. Entsprechend fanden weniger Spiele statt, wodurch die 0:0-Quote höher ausfällt. Rund jedes siebte Spiel ging damals 0:0 aus. Sowohl absolut als auch relativ ist die WM 2022 auf Kurs, den Wert von 1982 zu knacken.

Diese Zahlen sind mit Vorsicht zu genießen. Erstens kann es durchaus sein, dass nur noch wenige 0:0-Spiele folgen. Zweitens misst sich die Qualität eines Fußballturniers nicht ausschließlich an Toren. 2018 fand die Weltmeisterschaft mit den wenigsten 0:0-Spielen seit 1954 statt. Nur die Partie Dänemark gegen Frankreich endete torlos, und in diesem dritten Gruppenspiel ging es um nichts mehr. Dennoch bot auch die WM 2018 jede Menge lahmer Partien. 1:0 lautete das mit Abstand häufigste Ergebnis. Viele dieser Spiele waren nicht ansehnlicher als die torlosen Unentschieden bei dieser WM.

So gab es bei dieser Weltmeisterschaft die ganze Palette an 0:0-Spielen zu bestaunen. Es gab erbitterte Schlagabtäusche im Mittelfeld wie zwischen den USA und England. Es gab Spiele, die durchaus Torraumszenen boten wie etwa das Duell zwischen Dänemark und Tunesien. Und es gab fürchterlich langweiliges Ballgeschiebe, vor allem in der Partie Kroatien gegen Marokko. Es war von jeder Sorte etwas dabei.

Rückschlüsse auf die Qualität des Turniers lassen sich bisher nur wenige schließen. Die großen sportlichen Momente folgen ohnehin erst in der K.O.-Phase. Tatsächlich bot diese WM bisher viel Mittelfeldgeplänkel, aber auch einige Highlights, wie die deutsche Partie gegen Japan, Argentiniens Niederlage gegen Saudi-Arabien oder auch die unterhaltsame zweite Halbzeit zwischen Portugal und Ghana.

Was man mit ziemlicher Sicherheit sagen kann: Die kurze Vorbereitung hat einen Einfluss auf das Niveau. Viele Spiele laufen nach dem Muster Außenseiter-Favorit ab. Während der Außenseiter sich auf das eigene Pressing fokussiert – sei es ein Angriffs-, Mittelfeld- oder Abwehrpressing – , muss der Favorit aus dem Ballbesitzspiel heraus Chancen kreieren. Letzteres gelingt den wenigsten Nationen. Der Faktor Klima ist kein so großes Faktor wie befürchtet, sodass die Außenseiter über neunzig Minuten einen hohen Aufwand betreiben können. Es mangelt bei manchen Favoriten an Ideen und Eingespieltheit, um die defensiven Gegner zu knacken. Hinzu kommt, dass selbst größere Nationen auf eine eher defensive Strategie setzen, selbst wenn sie viel Ballbesitz sammeln. Dass Kroatien, Uruguay, Dänemark, Polen und England an den 0:0-Spielen dieser WM beteiligt waren, ist kein Zufall. Alle Mannschaften sichern ihre eigenen Angriffe mit sechs und teilweise sogar sieben Spielern ab. Damit sind sie gefeit gegen Konter, haben aber auch nur wenig Möglichkeiten im Spiel nach vorne.

Überzeugt haben bei dieser Weltmeisterschaft Mannschaften, deren Kern sich über eine lange Zeit einspielen konnte. Brasilien und Spanien dominierten ihre Gegner dank ihrer Raumaufteilung, Frankreich aufgrund der individuellen Klasse seiner Akteure. Auch Deutschland und Argentinien knackten starke Defensivreihen, zeigten sich aber anfällig in der Defensive. Es klingt wie eine Binsenweisheit, aber: Je länger der Kern eines Teams steht, umso besser spielt es. Das gilt in besonderem Maße, wenn man nur eine Woche Vorbereitungszeit hat.

Überraschungsteam USA?

Vor der Weltmeisterschaft habe ich Gruppe B unterschätzt. Keiner der vier Teilnehmer hat mich vor der WM überzeugt. England konnte meine Kritik beim 6:2 gegen den Iran etwas relativieren, und auch Wales trat gegen die USA besser auf als erwartet. Doch die zweiten Gruppenspiele rückten wieder die Kritikpunkte in den Vordergrund. Wales mangelt es offensiver Durchschlagskraft. England wiederum verlässt sich zu stark auf die eigene Stabilität. Gegen den Iran kaschierten die Chancenverwertung und Jude Bellingham als Verbindungsspieler die Schwächen im Vorwärtsgang.

Damit wären wir beim Team angelangt, dass zweimal Unentschieden spielte – und mich dennoch positiv überraschte: die USA. Gegen Wales wussten sie im Ballbesitzspiel zu überzeugen. Aus ihrem 4-3-3-System konnten sie gegen ultrakompakte Waliser immer wieder Nadelstiche setzen. Gerade in den Halbräumen hatten die USA viel Präsenz. Gegen England wiederum verteidigten die Amerikaner bärenstark. Das ist keine Selbstverständlichkeit: Trainer Gregg Berhalter stand für sein starres Festhalten am 4-3-3-System in der Kritik. Zu anfällig seien die Amerikaner in der Defensive, zu selten fähig, das geforderte Angriffspressing lückenlos durchzuziehen.

Im „Boston Tea Party“-Derby rückte Weston McKennie im Spiel gegen den Ball auf die Außenposition, sodass ein kompaktes 4-4-1-1 entstand. Den Amerikanern gelang es, das Mittelfeld der Engländer kaltzustellen. Bellingham war in diesem Spiel kaum ein Faktor, da ihm Tyler Adams oder der einrückende McKennie sofort auf den Füßen standen. Überhaupt überzeugt das Mittelfeld der Amerikaner durch eine hohe Zweikampfhärte. Ich bin nicht der größte Fan von Adams, da er im Ballbesitz dazu neigt, sich zu weit von seinen Gegenspielern in tote Räume abzusetzen. Im Pressing verfügt der Absolvent der Red-Bull-Akademie jedoch über ein breites Skillset, wie er gegen England unter Beweis stellte: Antizipation, Vorwärtsverteidigen, Einsatz des Körpers.

Trotz der guten Leistungen in den ersten beiden Spielen ist es gar nicht so unwahrscheinlich, dass die Amerikaner bald die Heimreise antreten müssen. Gegen den Iran benötigt die Mannschaft einen Sieg, was keine gute Ausgangsposition gegen einen defensiv auftretenden Gegner darstellt. Im Sturm der Amerikaner klafft eine große Lücke. Christian Pulisic hat noch nicht die Form, im Alleingang Chancen zu kreieren.

Kurze Beobachtungen

  • In sportlichen Debatten herrscht in Deutschland rund um große Turniere eine gewisse Faulheit. Seiten wollen gefüllt und Thesen aufgestellt werden. Doch anstatt neue Themen zu finden, wiederholen unsere Debattenbeiträge einfach Muster der Vergangenheit. So wird auch bei dieser WM wieder versucht, Joshua Kimmich auf die Außenverteidiger-Position zu schreiben. Was mit Lahm 2014 nicht falsch war, kann auch acht Jahre später nicht falsch sein! Die Debatte ist insofern faul, als dass sie nicht wirklich den aktuellen Stand der deutschen Nationalmannschaft in Betracht zieht. Selbst wenn Kimmich nicht Flicks erklärter Schlüsselspieler im Zentrum wäre. Wie soll er innerhalb dieses Kaders ersetzt werden? Und wieso sollte irgendein Trainer auf die Idee kommen, ausgerechnet vor dem Spiel gegen Spanien die Abwehrkette zu stärken und das Mittelfeld zu schwächen? Wenn man gegen Spaniens Ballbesitz-Stil eins benötigt, dann ein schlagkräftiges, aber auch pressingresistentes Mittelfeld.
  • Katar ist raus. Der Gastgeber hat nach zwei Auftaktniederlagen keine Chance mehr, das Achtelfinale zu erreichen. Bei all den guten Gründen gegen eine Weltmeisterschaft in Katar spielt das sportliche Abschneiden Katars keine gewichtige Rolle. Dennoch wäre es schön, öfter Weltmeisterschaften zu erleben, bei denen der Gastgeber auch sportlich eine Rolle spielt. Von den sechs Weltmeisterschaften in diesem Jahrtausend fanden gerade einmal zwei in Ländern statt, deren Gastgeber realistischerweise den Titel anpeilen konnten: 2006 in Deutschland und 2014 in Brasilien. Auch 2026 wird keiner der Gastgeber als Mitfavorit in das Turnier gehen. Deshalb fände ich es schön, die WM 2030 in Südamerika stattfinden zu lassen. Argentinien bewirbt sich zusammen mit Uruguay, Chile und Paraguay um die Austragung. Es wäre auch aus romantischer Sicht die passende Wahl: 100 Jahre nach der ersten Austragung würde die Weltmeisterschaft in das damalige Gastgeberland Uruguay zurückkehren. Aber wir kennen die Fifa, und diese Überlegungen dürften da nur eine untergeordnete Rolle spielen. Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate bringen sich bereits für eine Ausrichtung in Stellung.

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Das Titelbild stammt von Tim Reckmann, Lizenz: CC BY 2.0.

One thought on “WM-Tagebuch, Tag sieben: Das Rätsel der torlosen Unentschieden

  1. Es ist zwar nur eine kleine Fußnote, aber es amüsiert mich, dass ausgerechnet die USA nach zwei Spieltagen bei zwei Unentschieden steht (nur in Gruppe H könnte noch jemand nachziehen). Dort überm großen Teich hat man ja immer so seine Probleme mi dem Konzept.

    Ich möchte mich außerdem für dein Tagebuch bedanken!
    Es ist praktisch das einzige, was ich von dieser WM wahrnehme. Die Übertragungen selbst werden von mir ignoriert.

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