WM-Tagebuch, Tag sechs: WM-Boykott, das deutsche Phänomen

Es gibt sie auch bei dieser Weltmeisterschaft, die kleinen, aber sympathischen Momente. Man muss sie nur länger suchen als sonst. Ein winzig kleiner, aber aus meiner Sicht äußerst amüsanter Moment ereignete sich, als der Deutschlandfunk (den immer hörenswerten) Ronald Reng interviewte. Zu Beginn des Gesprächs fragte der Moderator Reng, ob er sich das Spiel Deutschland gegen Japan anschauen werde. Rengs Antwort: „Ich werde es nicht schaffe, fürchte ich. Ich muss zum Elternsprechtag.“ So kann man die Diskussion um einen Boykott auch umgehen.

Mit dieser Anekdote starte ich, weil es mir am fünften WM-Tag ähnlich erging wie Reng. Während ich an den ersten vier Spieltagen sämtliche Partien verfolgt habe, musste ich am gestrigen Nachmittag zum Tag der offenen Tür der hiesigen Grundschule. Daher kann ich heute (noch) weniger auf das sportliche Geschehen eingehen als sonst. Ich möchte daher ein Thema aufgreifen, das über dem Turnier schwebt: die Einschaltquoten.

Zuschauerzahlen: In Deutschland desaströs, im Rest der Welt normal

Die Zahl hallte wie ein Donnerhall durch die Sozialen Medien: Keine zehn Millionen Zuschauer verfolgten am Dienstagmittag das Spiel zwischen Deutschland und Japan. Bei der vergangenen Weltmeisterschaft erreichte kein deutsches Spiel weniger als 25 Millionen Zuschauer. Der Vergleich hinkt etwas, da die Spiele 2018 nicht um 14 Uhr deutscher Zeit starteten. Auch werden die Menschen, die das Spiel über die ARD-Mediathek streamten, erst in einigen Tagen addiert. Da dürften noch einmal ein paar Millionen Menschen hinzukommen, die das Spiel heimlich auf der Arbeit geschaut haben. Dennoch lässt sich die Zahl kaum schönrechnen. Man muss konstatieren: Ein erheblicher Teil der deutschen Bevölkerung, die sonst sehnsüchtig auf deutsche WM-Spiele wartet, hat keine Lust auf dieses Turnier.

Wer nun hofft, dass das deutsche Konsumverhalten einen Eindruck hinterlassen wird auf die Fifa, sollte an dieser Stelle aufhören zu lesen. Denn es folgt eine bittere Wahrheit: Deutschland steht mit dem Boykott dieser Weltmeisterschaft ziemlich alleine da. Dafür muss man nicht einmal nach Südamerika, Fernasien oder Afrika blicken. Es reicht ein Quotenblick auf unsere westlichen Partnerstaaten.

  • In Frankreich verfolgten das erste Spiel der Weltmeisterschaft rund 12,5 Millionen Menschen. Das waren knapp 100.000 weniger als beim französischen Auftakt 2018. Das Eröffnungsspiel der WM 2022 verfolgten fünf Millionen Menschen. Das waren eine Millionen mehr als das Eröffnungsspiel 2018.
  • Im Vereinigten Königreich stellte die Partie England gegen Iran einen neuen Streaming-Rekord auf – nicht nur im Fußball, sondern aller Zeiten. Die absolute Zahl an Zusehenden, also Streaming plus TV, lag etwas unter dem Eröffnungsspiel 2018, das jedoch nicht wie das Iran-Spiel am frühen Nachmittag, sondern in der Prime Time stattfand. Wales‘ Eröffnungsspiel gegen die USA lockte im UK ebenfalls über zehn Millionen vor den Bildschirm.
  • Auch in Japan gab es einen neuen Streaming-Rekord: Über zehn Millionen Menschen griffen auf die Partie Japan gegen Deutschland digital zu. Rund acht Prozent der japanischen Bevölkerung haben das Spiel verfolgt.
  • In den USA zeigte sich Fox zufrieden mit den Quoten des Spiels gegen Wales. Große Erwartungen hat der Sender für das Spiel gegen England. Es läuft in Amerika nachmittags, am Black Friday befinden sich viele bei ihrer Familie, während des traditionellen Thanksgiving-Football-Spiels wird kräftig die Werbetrommel gerührt. Fox spekuliert darauf, den amerikanischen Einschaltrekord für ein Fußballspiel zu brechen.

Es ließen sich einige Länder finden, in denen die Quoten sanken. In den Niederlanden schauten beim ersten niederländischen Match rund 20% weniger zu als 2014. In Spanien schauten elf Millionen Menschen das Spiel gegen Costa Rica, 2018 waren es gegen Portugal noch 15 Millionen. (Dafür schalteten dort mehr Menschen das Eröffnungsspiel ein als 2018.) Solche kleineren Schwankungen machen aber am Ende nicht viel aus bei einer Weltmeisterschaft, von der sich die Fifa fünf Milliarden Zuschauer erhofft. Wenn die Zuschauerzahl unter der chinesischen Bevölkerung nur um einen Prozent wächst, sind sämtliche europäische Rückgänge ausgeglichen. Das unterstreicht noch einmal meinen Appell aus meinem Text vor der WM: Niemand darf sich von einem deutschen WM-Boykott Wunderdinge erhoffen. Die paar kritischen Länder Mitteleuropas können die Fifa nicht in einen Zustand boykottieren, den sie erstrebenswert erachten. Für Veränderungen im Fußball braucht es politische Lösungen, wobei hier die Fühler weit über die deutschen Grenzen hinausgestreckt werden müssen.

Sonderfall Deutschland?

Ich möchte trotzdem bei diesem Thema bleiben und eine Anschlussfrage stellen. Wie kommt es, dass die Unlust auf die Fußball-Weltmeisterschaft gerade in Deutschland so hoch ist? Die Probleme mit Gastgeber Katar im Besonderen und der Fifa im Allgemeinen sind ja genereller Natur. Zumindest im westlichen Kulturkreis können sich die meisten Länder auf diese Werte einigen – und trotzdem schauen in Frankreich, Großbritannien und Amerika genauso viele Menschen eine WM in Katar wie eine WM in Brasilien. Man muss es wirklich so krass formulieren: Wir Mitteleuropäer sind mit dem Konsumverhalten dieser WM eine krasse Minderheit. Was unterscheidet uns vom Rest der Welt?

Ronald Reng gibt dazu in dem oben erwähnten Interview einige spannende Antworten. Seine Einschätzung, wir Deutschen lieben das Moralisieren, ist kaum von der Hand zu weisen. Viel interessanter finde ich seine Überlegung, der Fußball sei in Deutschland viel stärker mit der Gesellschaft verwoben als anderswo. Briten, Franzosen und auch Amerikaner haben keine gesellschaftliche Ansprüche an den Fußball. Sie sehen ihn seit jeher als Geschäft. Fußballschauen ist hier noch viel stärker Eskapismus als hierzulande, wo Fußballvereine immer auch gesellschaftliche Funktionen erfüllen sollen. Hinzu kommt, dass in Deutschland das Thema Geld im Fußball viel kritischer gesehen wird als im Ausland. Dass Fußballvereine Geld verdienen, nehmen viele Fans hierzulande allenfalls grummelnd hin. In England sind Verkäufe eines Vereins völlig normal. Im Ausland werden Nationalspieler als Sportler gesehen, die gut kicken können. Hierzulande gelten Nationalspieler immer auch als Repräsentanten des Landes. Entsprechend wiegt hier die Enttäuschung höher, wenn Fußballer nicht den Wertekodex unserer Gesellschaft verteidigen. (Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass ich keinerlei Wertung vornehme. Ich habe einfach Rengs Beobachtungen aufgegriffen und etwas weitergeführt.)

Ich möchte aber noch einen weiteren Grund hineinwerfen, warum in Deutschland die WM-Müdigkeit wesentlich größer zu sein scheint als in anderen Ländern. Man spürt hierzulande eine Entfremdung zwischen Nationalmannschaft und Bevölkerung. Das hat viele Gründe. Die erwähnte gesellschaftliche Verantwortung, die wir von unseren Spieler fordern, ist sicherlich der gewichtigste Faktor. Sicher trugen aber auch die jüngsten Turniere, Skandale wie Joshua Kimmichs Impfweigerung und die Vermarktung der DFB-Elf dazu bei, die Unlust auf die deutsche Elf zu stärken. Viele Fans sehen schlicht nicht ein, warum sie trotz all der Geschichten in Katar den Fernseher einschalten sollen. Ihnen ist die Nationalmannschaft völlig egal. Die Fans anderer Nationen finden offenbar mehr Gründe, trotz allem die WM zu schauen.

Ein Faktor dürfte sicher sein, dass in Deutschland niemand einem WM-Titel entgegenfiebert. 2014 war die Anspannung überall zu spüren: Die Generation um Schweinsteiger und Lahm sollte sich endlich belohnen! 2022 ist der Erfolg noch nicht so lange her, dass eine neue Generation Fans sich sehnlichst den Titel wünscht. Die Ausgangslage ist gänzlich anders in Frankreich, wo man auf die Titelverteidigung des Weltmeisters hofft. Oder in England, Belgien oder auch Brasilien, wo man sich endlich den lang ersehnten Titel wünscht. So blöde es klingt: Aber ich glaube, auch in Deutschland würden mehr Fans ihr Gewissen hintanstellen, würden sie der Mannschaft unbedingt einen Titel gönnen. Dass dies niemand tut, hat sicher auch mit den Begleitumständen dieser Weltmeisterschaft zu tun.

Kurze Beobachtungen

  • Ein bisschen etwas von der WM habe ich doch sehen können, und ich muss gestehen: Die Brasilianer haben mich beeindruckt. Das taten sie schon vor der Weltmeisterschaft; immerhin habe ich vor dem Turnier auf den sechsten brasilianischen Titel getippt. Doch südamerikanische Qualifikationsspiele sind etwas Anderes als eine Weltmeisterschaft. Der Auftritt gegen Serbien war so reif, wie der Auftritt eines Favoriten nur sein kann. Die Raumaufteilung schien perfekt, Brasilien fand immer einen freien Spieler. Neymars eher freie Rolle wurde durch seine Teamkollegen perfekt aufgefangen. Viele kleine Details, wie etwa die situativ ins Mittelfeld rückenden Außenverteidiger, fügten sich zu einem stimmigen Gesamtbild. Noch wichtiger: Die Brasilianer fanden nach jedem verlorenen Ball sofort ins Gegenpressing. Die serbischen Konter, eigentlich ihre stärkste Waffe, würgte Brasilien sofort ab. Serbien kam gerade einmal zu drei Schüssen. Das waren dieselben Serben, die Portugal in der Qualifikation hinter sich ließen und gerade einmal neun Gegentore in zehn Spielen kassierten (die halben Freundschaftsspiele gegen Katar eingerechnet). Brasilien bleibt auf meiner Favoritenliste weiter ganz oben.
  • Vom Spiel Portugal gegen Ghana habe ich die Schlussphase verfolgt, und ich muss sagen: Ich war nicht enttäuscht! Nach einigen ziemlich belanglosen 0:0- oder 1:0-Spielen war es schön zu sehen, wie zwei Teams praktisch ohne Mittelfeld agierten. Dass Portugal das Spiel trotz 3:1-Führung nicht einfach nach Hause schaukelte, unterstreicht, warum sie nicht auf meiner Favoritenliste stehen. Gegen stärkere Gegner wird man mit der Strategie, auch mit einer Zwei-Tore-Führung wild nach vorne zu stürmen, böse auf die Schnauze fallen.
  • Geärgert habe ich mich über eine Szene in der Übertragung: Kurz vor Schluss hatte Ghana eine große Chance, als der portugiesische Keeper Diogo Costa den Ball einfach fallenließ. Das vermute ich einfach mal, denn ich habe die Szene bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht gesehen. Der TV-Regisseur meinte, wieder einmal die fünfte Zeitlupe einer Szene einspielen zu müssen, die harmloser nicht hätte sein können. So sah man die ghanaische Chance nicht im Livebild. Nach Spielschluss begann die Zeitlupe der Szene, als die ARD unvermittelt in die Werbung schaltete. Ich wollte den WM-Sponsoren nicht die Genugtuung geben, mir ihre Werbung vor den Latz zu knallen, also habe ich einfach abgeschaltet. Wie genau Ghana zu dieser Chance kam und wieso sie sie vergaben – es wird mir ein ewiges Rätsel sein. Ich würde gutes Geld zahlen für eine Übertragung, die a) nicht ständig wilde Schnitte einstreut und b) nach Abpfiff einfach mal eine Minute auf dem Spiel bleibt, ohne Sponsoren einzublenden.
  • Ich konnte heute nicht nur keine WM-Spiele sehen. Ich habe es auch nicht geschafft, etwas über die Weltmeisterschaft zu lesen. Asche auf mein Haupt! Leider fehlen daher an dieser Stelle die üblichen Leseempfehlungen. Wer einen interessanten Text aufstöbert, ist jederzeit eingeladen, ihn mir mitzuteilen – per Mail an te (at) spielverlagerung (punkt) de oder per Twitter-Direktnachricht. Immerhin erhaltet ihr hier jeden Tag einen kostenlosen Tagebuch-Eintrag. Dann könnt ihr mich wenigstens mit Leseempfehlungen bezahlen!
  • Und ganz zum Abschluss eine kleine Vorwarnung: Ich werde es morgen wahrscheinlich nicht schaffen, den Tagebuch-Eintrag am Abend fertigzuschreiben und am Morgen zu verschicken. Noch mehr Asche über mein Haupt! Der nächste Beitrag wird also im Verlaufe des Samstags folgen.

Das Titelbild zeigt ein Public Viewing während der WM 2006 und stammt von Arne Müseler (Website: arne-mueseler.com), Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE.

3 thoughts on “WM-Tagebuch, Tag sechs: WM-Boykott, das deutsche Phänomen

  1. Du bringst es mal wieder perfekt auf den Punkt, ich glaube der Großteil des Zuschauereinbruchs kommt von Leuten, die ab und zu mal Fußball schauen wenn Deutschland spielt oder Champions League Finale ist. Die können mit der aktuellen Mannschaft einfach nicht mehr so viel anfangen. Sei es aus mangelndem sportlichen Erfolg in den letzten Jahren oder durch die kleinen und großen Skandale der letzten Zeit. Dazu kommt glaube ich noch dass viele Charaktertypen fehlen, kein Schweinsteiger, Kroos, Hummels, Mertesacker. Glaube die wenigsten „Laien“ können sich mit einem Harvertz, Sane oder Schlotterbeck identifizieren.

    Selbst wenn ich die WM schauen würde (ich weiß dass es keinen Unterschied macht, aber ich machs für mich) hätte ich aufgrund dieser Bindenfarce Probleme gehabt dieses mal das Deutschlandtrikot zu tragen.

  2. Die deutschen haben einfach andere Sorgen. Sie wissen nicht wie sie über den winter kommen . Die Politiker wollen ihre Unfähigkeit hinter dem Sport verbergen. Nein auch da versuchen sie siehe die Innenminister. Warum lassen wir deutsche einfach keinen fettnapf aus.

  3. Sehe ich das richtig dass die Streamingzahlen in Japan und England veröffentlicht wurden und wir dafür noch 14 Tage brauchen? Oder liegen die Zahlen bereits vor und man wartet noch, aus welchen Gründen auch immer?

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