WM-Tagebuch, Tag fünf: Deutsche Demütigung, nun auch auf dem Platz

Wer möchte, kann auch an diesem Tag die Armbinden-Saga fortführen. Die deutsche Nationalmannschaft verzichtete wie angekündigt auf die Binde aus Sorge, die Fifa könnte Kapitän Manuel Neuer oder gar das gesamte Team sanktionieren. Stattdessen hielt sich die deutsche Startelf demonstrativ die Hand vor den Mund beim üblichen Teamfoto. Die Botschaft: Die Fifa verbietet uns den Mund! Meine persönliche Meinung: ein starkes Bild, im wahrsten Sinne des Wortes. Es lenkt aber nicht vom Verhalten des DFB ab. Die Spieler standen ohnehin nicht in der vordersten Reihe der Kritik, sondern die Verbandsspitze, die vor der Fifa einknickte.

Die Hoffnung des DFB, dass Deutschland wenigstens nach dem Spiel über den Sport redet, hat sich ebenfalls nicht erfüllt – jedenfalls nicht so, wie es sich der DFB gewünscht hatte. 1:2 verlor die deutsche Elf gegen Japan. Wie schon 2018 startet Deutschland mit einer Niederlage ins Turnier. Was darauf folgte, weiß jeder: Vorrundenaus, historische Blamage, Hohn und Spott für den deutschen Fußball. Tun wir dem DFB an dieser Stelle den „Gefallen“ und wenden uns dem Sport zu.

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Unglück ist manchmal auch Unvermögen

Zunächst einmal muss ich die Schärfe ein Stück weit herausnehmen. Der 2018-Vergleich trifft nicht zu. Damals war eine blutleere deutsche Mannschaft überfordert damit, mittelmäßig verteidigende Gegner zu knacken. Zwei Viererblöcke genügten, um die deutsche Mannschaft zur Wirkungslosigkeit zu verdammen. Das war gegen Japan keineswegs der Fall. Gegen Japan erspielte sich Deutschland einen Expected-Goals-Wert von 3,2; das ist mehr als in den Spielen gegen Mexiko und Schweden zusammen genommen (jeweils 1,4).

In diese Kerbe schlug u.a. Thomas Müller nach dem Spiel. „Ich bin noch ein bisschen ratlos, weil aus diesem Spiel, so wie es gespielt wurde, geht man sehr oft als Sieger hervor.“ Deutschland sammelte in der ersten Halbzeit 80% Ballbesitz, sie gaben 14 Schüsse ab und ließen nur einen zu. Auch nach der Pause vergaben sie mehrere Großchancen, zweimal traf das deutsche Team den Pfosten. Doch es war so wie häufig in der jüngeren Geschichte der deutschen Nationalmannschaft: Das Tor wollte einfach nicht fallen.

Nun kann man das als Pech abstempeln, als schlechten Tag, als statistische Anomalie. Aber wenn etwas so häufig passiert, ist es irgendwann kein Zufall mehr. Ich habe ein ähnliches Argument zu Beginn der Saison bei den Bayern gebracht: Wenn man ständig Spieler in Schuss-Situationen bringt, diese Spieler dann aber danebenschießen – dann bringt man vielleicht die falschen Spieler in Schuss-Situationen. Konkret auf das deutsche Team gemünzt bedeutet das: Ständig mussten Serge Gnabry (sechs Schüsse) oder Ilkay Gündogan (ebenfalls sechs) aus wenig dynamischen Situationen abschließen – etwas, was ich als Außenstehender als suboptimal betrachte. Jamal Musiala (drei) hat sich die Torchancen wie gewöhnlich selbst herausgedribbelt, Kimmich (vier) aus der zweiten Reihe abgeschlossen. Und dann folgt schon Antonio Rüdiger mit drei Torschüssen.

Zwei Spieler wiederum blieben gänzlich ohne Torschuss: Kai Havertz und Thomas Müller. Den Beiden würde ich zutrauen, auch unter Gegnerdruck in engen Situationen ordentlich abzuschließen. Dafür sind sie als zentrale offensive Spieler des 4-2-3-1-Systems eigentlich eingeteilt. Aber so ist es eben mit dem asymmetrischen 4-2-3-1, das ja auch die Bayern einsetzen: Abschließen müssen häufig die äußeren Stürmer – und deren Stärke ist das eben nicht.

Das Thema Einwechselspieler

Das war jetzt abermals kritischer als gewollt. Fakt ist: Gnabry und Gündogan hatten so gute Chancen, da muss man nicht mit feintaktischen Details argumentieren. Sie hätten einfach eine dieser Chancen verwerten müssen, und dann wäre das Spiel nach dem 2:0 tot gewesen.

Dass Deutschland trotz der Führung ab der 60. Minute zunehmend ins Schlingern geriet, hatte taktische Gründe. Japan stellte in der Pause auf ein 3-4-3 um. Das erwischte nicht nur das deutsche Team, sondern auch mich auf dem falschen Fuß. Ich hatte mir für meine ZDF-Vorschau die Testspiele der Japaner angeschaut und zudem einen Blick auf sämtliche Zusammenfassungen der Qualifikation geworfen. Ein 3-4-3 ist mir dabei nicht über den Weg gelaufen. Die Japaner interpretierten es äußerst offensiv, sodass situativ ein 3-2-5 entstand. Die beiden Außenverteidiger stellten zusammen mit den drei Stürmern eine Fünf-gegen-Vier-Überzahl gegen die deutsche Viererkette her.

Und dann passierte auf deutscher Seite etwas Seltsames. Nämlich gar nichts. Flick reagierte nicht. Er brachte Leon Goretzka für Ilkay Gündogan und Jonas Hofmann für Thomas Müller. Diese zwei Wechsel hätte man bereits vor dem Anpfiff voraussagen können. Es waren zwei Wechsel, die überhaupt nicht zur Dynamik des Spiels passten. Deutschlands Pressing verbesserte sich nicht, sodass Japan die fünf Spieler in der letzten Linie anspielen konnte. Deutschlands Abwehr verbesserte sich nicht, sodass Japan die Fünf-gegen-Vier-Überzahl ausspielen konnte. Und Deutschlands Mittelfeld verbesserte sich nicht, weil hier keine Drei-gegen-Zwei-Überzahl gegen die japanische Doppelsechs hergestellt wurde.

Alle drei mögliche Umstellungen hätten dem deutschen Spiel geholfen, also: mehr Pressing über einen Pressing-Stürmer, einen zusätzlichen Verteidiger für die defensive Absicherung, einen zusätzlichen Sechser für mehr Dominanz im Mittelfeld. Dass man sich gegen eine dieser Varianten und für ein „Weiter so!“ entschied, trug maßgeblich dazu bei, dass Japan ins Spiel zurückfand. (Und natürlich Takuma Asano, den ich in Bochum für wahnsinnig unterschätzt halte.) Angesichts der schwachen Wechsel muss man Hansi Flick in die Kritik miteinbeziehen. Das war schlicht zu wenig Input von der Trainerbank.

Nun also das vorgezogene Endspiel am zweiten Spieltag. Um mich für die Stelle des Optimismusbeauftragten zu bewerben: Es konnte schon einmal eine Nation die Weltmeisterschaft gewinnen, die ihr Auftaktspiel verlor. 2010 ermauerte sich die Schweiz einen 1:0-Erfolg gegen den späteren Sieger Spanien. Gegen ebenjene Spanier muss Deutschland nun gewinnen. Die haben Costa Rica mal eben mit 7:0 weggefiedelt. Seien wir ehrlich: Die Zeichen stehen auf erneutes Gruppenaus, nur diesmal in etwas besser gespielt. Davon kann sich aber auch niemand etwas kaufen.

Kurze Beobachtungen

  • Superstars sind auch nicht mehr das, was sie mal waren! Wie hatte ich mich gefreut, Bayerns Linksverteidiger Alphonso Davies als freischaffenden Künstler im kanadischen Mittelfeld zu sehen. Das ist das Schöne an Länderturnieren: Im Vereinsdress ist ein Spieler wie Davies ein Star von vielen. Im Länderdress sollen sie plötzlich im zentralen Mittelfeld ihre schwächeren Landesgenossen zu Siegen führen. Davies tat das bereits in der Qualifikation, als er eine Mischung aus Achter, Zehner und Außenstürmer spielte. Gegen Belgien begann er jedoch als Linksverteidiger. Schnarch. Nach der Pause die kurze Hoffnung: Davies wurde auf die rechte Stürmerposition beordert! Aber auch dort agierte er äußerst positionstreu. Der Superstar, der in seinem Nationaltrikot jeden Ball haben will – er geht an die taktisch disziplinierte neue Generation verloren. Trotzdem bleibt am Ende ein Lob für die Kanadier: Bei der 0:1-Niederlage begeisterten sie mit hohem Pressing und schnellem Spiel in die Spitze. Sie hätten mindestens ein Tor verdient gehabt.
  • Belgien gegen Kanada lieferte zugleich die erste große Schiedsrichter-Debatte. Bis dahin hatten sich die Schiedsrichter mehr als achtbar geschlagen. Das ist nicht selbstverständlich. In der jüngeren Vergangenheit gab es bei Weltmeisterschaften häufig Probleme mit Entscheidungen der Unparteiischen aus aller Welt. Die schwachen Leistungen bei den Turnieren 2010 und 2014 waren ein Auslöser für die Einführung des Videoassistenten. Am Mittwochabend meldete sich der VAR bei gleich zwei elfmeterwürdigen Situationen nicht. Beide Male sah sich Kanada benachteiligt. Absurd war die Entscheidung, einen Rückpass von Eden Hazard als Abseits zu werten. Man kann da mal wieder auf dem VAR herumhacken, aber auch einfach mal festhalten: Einem guten Schiedsrichter unterlaufen diese Fehler bei einer WM-Partie nicht. Zumal ich arg verwundert war, wie weit Janny Sikazwe teilweise vom Ball entfernt blieb.
  • Zum Schluss muss ich doch noch einmal zum Thema Binde zurückkehren. Nancy Faeser, als Ministerin zuständig für Sport, ließ sich beim Deutschland-Spiel auf der Tribüne mit der „One Love“-Binde ablichten. Um die Symbolkraft zu wahren, musste es die „One Love“-Binde sein“, obwohl diese – und ich werde nicht aufhören das zu betonen – nicht einmal einen echten Regenbogen darstellt. Aber Symbolpolitik ist ja dieser Tage angesagt. Faeser wird beim nächsten Politbarometer sicher ein paar Punkte besser dastehen.

Leseempfehlungen

New York Times: Meet the First Ladies of Croatian Soccer

Spiegel: Knebelzeichen der deutschen Nationalelf – Kleine Geste, große Doppelmoral.

Das Titelbild, das Joshua Kimmich zeigt, stammt von Granada, Lizenz: CC BY-SA 4.0.

5 thoughts on “WM-Tagebuch, Tag fünf: Deutsche Demütigung, nun auch auf dem Platz

  1. Wie siehst du sportlich Neuers Leistung? Aus meiner Sicht kann man – auch wenn es nicht die leichtesten Bälle waren – von schlechtem torwartspiel reden. Er lässt in die Mitte klatschen und kommt in Überzahl gegen einen Stürmer nicht raus um den Winkel zu verkürzen. Dazu dann das leichte Wegdrehen.

  2. Schöner Beitrag!

    Bin kein Taktik Genie aber mir kommt es immer so vor als ob wir uns mit diesem 4-3-2-1 uns ständig selbst auf den Füßen stehen. Wir verengen uns den Raum gegen unsere Gegner selbst und sind hinten zu offen. Und auch wenn die Situation mit der WM in Russland nicht zu vergleichen ist fühlte es sich wieder genau so an.

    Vielleicht sehe ich etwas nicht aber mir wäre ein 3-5-2 mit defensiver Absicherung und einem Füllkrug vorne plus hängender Spitze lieber als das was wir momentan Spielen. Was denken sie Herr Escher, was könnte man taktisch anders machen weil mir kommt es so vor als könnten wir unsere Stärken in dem System nicht ausspielen und sind hinten einfach zu offen.

  3. Danke für den Artikel. Und vor allem Danke für den Hinweis mit dem xG. Wie jede Statistik kann auch der trügerisch sein. Und ja, natürlich ist das ein Kritteln auf hohem Niveau, das Gündogan und Gnabry am meisten abschließen „mussten“. Aber dieses Ansammeln von mässig guten Torchancen mit Spielern, die dann nicht ala Lewandowski, Ronaldo & Co. halt auch eine halbe Chance verwerten, kann dann eben sehr trügerisch sein. Und das die beiden zentralen Leute keinen Abschluss machen, ist dann auch bezeichnend.

    Dazu fehlt auch schließlich den deutschen Topteams (Bayern, BVB, N11) auch schlichtweg die Qualität einer guten Defensive. Allen 3 Teams zu eigen ist es, dass sie angreifende Gegner nicht gut tief empfangen können. Scheitert die vordere Pressinglinie, wird es hinten oft vogelwild.

  4. Ob Asano so unterschätzt wird, weiß ich persönlich nicht.
    In Hannover hat der ein Jahr unterirdisch schlecht gespielt. Null Torbeteiligungen und einen soliden Kicker Notenschnitt von 4,80. Auch im letzten Jahr hatte er 9 Spiele eine Note >= 5.
    Er ist einfach körperlich sehr schwach, umso schlechter ist Schlotterbecks Abwehrverhalten zu bewerten.
    Wirklich Schade, dass man zweimal hintereinander nach der Vorrunde die Segel streichen muss. Freue mich schon auf die Rocketbeans Folge.

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