WM-Tagebuch, Tag 4: Wenn die Technik die Taktik tötet

Am vierten Tag dieser Weltmeisterschaft startet auch Deutschland in das Turnier. Um die sportliche Situation geht es beim DFB schon lange nicht mehr. Das Einknicken des DFB vor der Fifa wirkt immer noch nach. Ein Stück Stoff, das ohnehin nur als Feigenblatt taugte, geht nun nicht mehr als Zeichen für Menschenrechte durch – sondern als Fanal der Unterordnung des DFB. Da können die deutschen Funktionäre noch so sehr damit drohen, die Fifa zu verklagen.

Der Handelskonzern Rewe hat den Fehlpass des DFB angenommen und eiskalt verwertet. Sie gaben bekannt, dass sie ihr Sponsoring mit dem DFB sofort kündigen. Dass der Vertrag kommenden Monat ohnehin geendet hätte – geschenkt. „Die skandalöse Haltung der FIFA ist für mich als CEO eines vielfältigen Unternehmens und als Fußballfan absolut nicht akzeptabel“, schreibt der Konzernchef in einer Mitteilung. Aha. Weder die Vergabe an Katar, das Gebaren der Fifa noch das seit Jahren dysfunktionale Außenbild des DFB brachten Rewe dazu, den Vertrag zu kündigen. Aber die durchaus erwartbare Reaktion der Fifa auf eine Kapitänsbinde, die – man muss das immer wieder betonen – nicht einmal einen Regenbogen darstellt: Das war zu viel des Guten! Wohlgemerkt war sich Rewe nicht zu schade, vor wenigen Wochen noch Sammelalben zu drucken und für gutes Geld in ihren Märkten zu verkaufen. Es konnte ja keiner ahnen, was für ein Laden die Fifa ist! Immerhin verschenken sie die jetzt.

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Ich will damit gar nicht die Entscheidung von Rewe schlechtreden, aber es riecht so, als wollte sich das Unternehmen kostengünstige PR sichern. Andererseits: Man kann einem Stürmer auch nicht vorwerfen, wenn ihn der Torhüter anschießt und der Ball ins Tor kullert.

Wenn die moderne Technik die Taktik zerstört

Neben dem Platz sorgt diese WM konstant für Aufreger. Aber auch auf dem Platz bescherte uns der Dienstag das erste Ausrufezeichen: Saudi-Arabien bezwang WM-Favorit Argentinien mit 2:1. Wenn Sie der eine Leser sind, der laut meiner Newsletter-Auswertung aus Saudi-Arabien stammt: Herzlichen Glückwunsch! Sie haben heute frei. Das arabische Land hat nach dem Sieg einen Nationalfeiertag ausgerufen.

Muss man Argentinien nun von der Liste der WM-Favoriten streichen? Wäre die Partie ein Bundesliga-Spiel, würde ich Entwarnung rufen. Alle Zahlen sprechen für einen äußerst unglücklichen Ausgang. Saudi-Arabien gab exakt drei Schüsse ab und kam damit auf einen Expected-Goals-Wert von 0,1. Argentinien hingegen erarbeitete sich einen xG von 2,1. Da zählen noch nicht einmal die drei Treffer hinein, die den Gauchos aufgrund von Abseitsstellungen aberkannt wurden. Einem Treffer mag ein klares Abseits vorausgegangen sein. Die anderen beiden Treffer waren derart knapp, dass die automatische Abseitserkennung eingreifen musste. Bei einem Treffer befand sich nur die Spitze von Laurato Martinez‘ Schulter im Abseits. Eine derart knappe Entscheidung hätte ohne die Technik wohl nicht einmal der Videoassistent einkassiert.

Man kann nun die Technik kritisieren. Ich bin grundsätzlich zwar ein Anhänger des Videoassistent im Allgemeinen und technischer Hilfsmittel im Speziellen. Hier liegt aber ein so minimales Abseits vor, dass man in keinster Weise mehr von einem Vorteil des Stürmers reden kann. Darum sollte es ja beim Abseits gehen: Dass der Stürmer nicht hinter der Abwehr lauert. Man mag mit der Schulter ein Tor erzielen können, aber ehrlich: Was hilft dem Angreifer bei einem flachen Pass, wenn die Schulter fünf Zentimeter weiter vorne ist als der Fuß des Gegenspielers? Fußball-Autor Jonathan Wilson hat einst sinngemäß formuliert: Kein Fan geht für Abseitsentscheidungen ins Stadion. Wenn man diese Technik zur Verfügung hat, sollte man sich überlegen, die Abseitsregel zu modifizieren. Nur ein Stürmer, der tatsächlich auch mit dem Bein weiter vorne ist, sollte im Abseits stehen. Schließlich spielen wir Fußball, nicht Schulterball.

Nun bin ich aber kein Weltverbesserer, der einen Aufstand wegen der Abseitsregel anzetteln will. Sondern ein rationaler Roboter. Und meine Schaltkreise berechnen Kritikpunkte an der argentinischen Taktik. Die Argentinier agierten praktisch ohne Mittelfeld. Sie ließen den Ball in der eigenen Hälfte zirkulieren, um dann direkt Chipbälle hinter die Abwehr zu spielen. Dazu postierten sich zwei oder gar drei Spieler nahe der Abseitslinie. Messi ließ sich immer mal wieder fallen, um diese Chipbälle einzustreuen. Saudi-Arabien begünstigte diese Taktik, indem sie ihre Abwehrkette weit nach vorne schoben. So standen praktisch immer zwei bis drei Argentinier direkt an der Abseitslinie.

Diese Taktik funktioniert umso besser, je schlechter der Schiedsrichter Abseitsentscheidungen ahndet. Nur ahnden mittlerweile keine Menschen mehr Abseitssituationen, sondern Computerchips. Wenn der Gegner weit vorschiebt und die Abseitslinie auch gut hält, sorgt diese Taktik im Zweifel nur für eins: Man steht siebenmal im Abseits. (Vom WM-Rekord blieben die Argentinier damit jedoch weit entfernt: England kam 1982 gegen Kuwait auf zwanzig Abseitsstellungen.)

So fehlte Argentinien der berühmt-berüchtigte Plan B, als sie am Ende unbedingt das Tor erzwingen mussten. Dennoch möchte ich sie noch nicht als Turnierfavorit abschreiben. Lionel Messi scheint in guter Form zu sein, Lautaro Martinez funktioniert als Messis Anspielpartner und auch die Defensive hielt über weite Strecken. Nicht jeder Gegner wird aus 0,1 xG zwei Tore machen. Aber eine WM ist eben keine Liga: Eine Niederlage setzt ein Team schon in der Gruppenphase unter Druck. Argentinien muss gegen Mexiko und Polen mehr Tore erzielen, die am Ende auch zählen.

Kurze Beobachtungen

  • An den ersten zwei Tagen gab die Fifa bei mehreren Spielen Zuschauerzahlen an, die über dem Fassungsvermögen der Stadien lagen. Da hieß es, beim Spiel Niederlande gegen Senegal säßen knapp 42.000 Leute im al-Thumama-Stadion. Laut Fifa-Homepage sollte es aber nur 40.000 Leuten Platz bieten. Nun korrigierte die Fifa das Fassungsvermögen mehrerer Stadien nach oben. Das al-Thumama-Stadion fasst nun 44.400, was auch bedeutet: Senegal gegen Niederlande war nicht ausverkauft. Das Heraufsetzen des Fassungsvermögens wirkt auf den ersten Blick wie der verdächtige Versuch der Fifa, die eigenen Zahlen schönzurechnen. Andererseits: Vor dem Turnier gab die Fifa das Fassungsvermögen von sechs der acht Stadien mit exakt 40.000 Zuschauern an, was ebenfalls seltsam anmutete. Die neuen Zahlen ergeben auf dem Papier durchaus Sinn. Doch auch bei der Fifa gilt: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht.
  • Polen hat sich zum vierten Mal in Folge für ein großes Turnier qualifiziert – und zum vierten Mal in Folge enttäuschen sie mich. Irgendwann kann man dafür nicht mehr den Polen die Schuld geben. Ich sollte schlicht meine Erwartungshaltung anpassen. Gegen Mexiko trat die polnische Mannschaft in einer extrem defensiven Formation an. In der ersten Halbzeit verteidigten sie quasi durchgehend in einem 6-3-1. Selbst als sie sich im zweiten Durchgang etwas weiter nach vorne wagten, wurde ihr Spiel kaum besser. Dass Robert Lewandowski einen Elfmeter verschoss und damit weiter auf seinen ersten WM-Treffer wartet, war der Tiefpunkt eines schwachen Auftritts.
  • Die Einschaltquoten zeigen: Das Interesse an der Weltmeisterschaft ist lauwarm. Am Montag schalteten keine fünf Millionen Menschen die WM-Spiele ein. Der Wert liegt damit deutlich unter den Zahlen von 2018 und ist weit entfernt vom Rekordjahr 2014. Wie deutlich der Unterschied tatsächlich ist, lässt sich indes nicht komplett beziffern, da die Streaming-Zahlen fehlen. In England brach die Partie England gegen Iran den BBC-Streaming-Rekord. Acht Millionen schauten per Livestream zu, genauso viele saßen am Fernseher. Dass 50% der Zuschauer online einschalteten, dürfte auch am Übertragungszeitpunkt gelegen haben: Um 13 Uhr englischer Zeit werden viele Fans das Spiel auf der Arbeit verfolgt haben.

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Das Titelbild zeigt die Rewe-Filiale in der Thoer-Galerie. Das Bild stammt von Joehawkins, Lizenz: CC BY-SA 4.0.

2 thoughts on “WM-Tagebuch, Tag 4: Wenn die Technik die Taktik tötet

  1. Erstmal ein Kompliment: Ich finde sowohl dieses WM Tagebuch, als auch deine jahrelange Arbeit bei den Rocketbeans wirklich Klasse.
    Zweitens werde ich expected goals Zahlen wohl nie so richtig verstehen. Ich meine beim ersten Tor von Saudi Arabien ist der Spieler frei durch und auch wenn der Winkel spitz ist, ist doch die Wahrscheinlichkeit für ein Tor höher als 10% oder nicht?
    Gleichzeitig muss ich sagen, dass bei beiden Toren der Torhüter keine gute Figur gemacht hat.

    1. Erst einmal Danke für das Lob!

      Zum Thema Expected Goals: Die meisten Menschen überschätzen, wie wahrscheinlich ein Torerfolg im Fußball ist. Es gehen schlicht deutlich mehr Schüsse vorbei oder werden gehalten, als letztlich im Tor landen. Saudi-Arabiens 1:1 ist ein gutes Beispiel dafür: Wenn man das Tor sieht, denkt man, es ist unvermeidlich. Dabei schließt der Spieler aus spitzem Winkel ab und wird dabei auch noch von einem Gegenspieler gestört. Er muss den Ball perfekt in die lange Ecke setzen, ansonsten ist der Torwart dran. In dieser Situation kann man sogar argumentieren, dass ein besserer Torwart den Ball gehalten hätte. Insofern: Ja, in dieser Szene scheint es so, dass die Wahrscheinlichkeit des Torerfolgs bei maximal zehn Prozent lag.

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