WM-Tagebuch, Tag 1: Rechtfertigungen für das nicht zu Rechtfertigende.

Na, schon jemand in WM-Stimmung? Während ich diese Zeilen schreibe, rieselt vor meinem Hamburger Bürofenster der Schnee. Erstmals in diesem Herbst musste ich die Heizung anstellen. Vor einer Woche habe ich noch für die 11Freunde das Spiel SC Freiburg gegen Union Berlin analysiert. Nun läuft im Hintergrund die Vorberichterstattung zum Spiel Katar gegen Ecuador. Es ist ein unwirkliches Gefühl, dass in wenigen Minuten die 22. Fußball-Weltmeisterschaft startet.

Seit nunmehr zwölf Jahren steht fest, dass die Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in Katar stattfindet. Zum Zeitpunkt der Vergabe regte ich mich über die Fifa auf. Wie konnte sie ein Turnier an einen Wüstenstaat vergeben, dessen Temperaturen eine WM gar nicht zulassen? Der über keine nennenswerte Fußballtradition verfügt? Dessen Nationalmannschaft zum Zeitpunkt der Vergabe auf Rang 113 der Weltrangliste stand? Ungläubiges Kopfschütteln war die erste Reaktion.

Erst mit der Zeit wurde sichtbar, dass dies die kleinsten Kritikpunkte an einer WM in Katar sein würden. Ich muss zugeben: Ich wusste vor der Vergabe wenig über das kleine Emirat. Seitdem habe ich Vieles gelernt – und wenig davon verbesserte meine Meinung über das Land. Wie die Kataris hinter den Kulissen mit Schmeicheleien und Schmiergeldern arbeiten, um Einfluss auszuüben auf die großen Sportgremien. Wie das Kafala-System in den Golfstaaten funktioniert und wie dies Wanderarbeitern ihrer Rechte beraubt. Weshalb die Währung Aufmerksamkeit für die Kataris eine Existenzgarantie ist, gegenüber seinem einzigen Nachbarn und ärgstem Gegenspieler, Saudi-Arabien.

Ich bin ehrlich: Keines dieser Dinge hätte ich je erfahren, würde diese Weltmeisterschaft in den USA oder Südkorea stattfinden. Katar wäre ein weiteres von vielen Ländern auf der Erde, über das ich viel zu wenig weiß. Dieses neu erworbene Wissen vernebelt den Blick auf das Fußballturnier. Angesichts von Menschenrechtsverstößen, toten Gastarbeitern und Korruption auf allen Ebenen verkommt der Fußball zu einer noch größeren Nebensache, als er ohnehin schon ist.

Kann man angesichts dieser Vorkommnisse guten Gewissens ein Turnier verfolgen? Die Antwort lautet: „Nein!“ In einer gerechteren Welt wäre die Weltmeisterschaft nie an Katar vergeben worden. Niemand hätte mitten in der Wüste Arbeiter ausgebeutet, um acht Stadien zu bauen, die nach der Weltmeisterschaft keinerlei Verwendung mehr finden. All das sollte eigentlich nicht passieren.

Nun ist all das passiert. Und die Frage, die man als Reporter gestellt bekommt, lautet: Wie gehst du damit um? Ich könnte es mir einfach machen. Ich würde das Turnier ja boykottieren! Aber das geht leider nicht, denn ihr wisst ja: Es ist mein Beruf. So einfach möchte ich mich aber nicht davonstehlen. Transparenz ist das wichtigste Werkzeug eines jeden Journalisten. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich diese Weltmeisterschaft auch verfolgen würde, wenn mich meine wirtschaftliche Lage nicht dazu zwänge. Ich möchte meine Gründe in diesem Text ausführen – und damit meinen Senf auf ein Thema kippen, das schon im Senf zahlreicher Kommentatoren ertrinkt. Dieser Text dient damit auch weniger der allgemeinen Diskussion. Das Schreiben war eher ein Versuch, meine eigene Haltung mit mir selbst zu klären. Ich wollte einfach mal alles herausschreiben, was ich bezüglich Katar denke und fühle.

Das rationale Argument: Ein Boykott wird überschätzt

Ich muss zuallererst gestehen: Ich glaube nicht an die Effektivität von Boykotten im Allgemeinen. Noch weniger glaube ich daran, dass der konkrete Boykott der WM in Katar etwas an der Menschenrechtssituation vor Ort oder am Gebaren der Fifa ändert. Ja, es gibt wirklich gute Gründe für einen Boykott (dazu später mehr). Doch mich stört an manchem Vertreter der Pro-Boykott-Fraktion, dass er die Macht des einzelnen Konsumenten in Deutschland völlig übergewichtet. Dadurch entsteht eine Fallhöhe, die die Debatte massiv erschwert.

Die brutale Wahrheit ist: Für den Erfolg dieser Weltmeisterschaft ist es vollkommen unerheblich, wie viele Menschen in Deutschland zuschauen. Die Tickets sind verkauft, die TV-Rechte vermarktet, die Sponsoring-Verträge abgeschlossen. Selbst wenn kein einzelner Deutsche zuschauen würde, werden Milliarden Menschen auf der Welt das Turnier verfolgen. Die Fifa wird erklären, das Turnier sei „das beste aller Zeiten“ gewesen, ganz egal, ob wir das auch so empfinden. Sie nimmt mit diesem Turnier Rekordsummen ein, unabhängig davon, ob ich einschalte oder nicht. Und die europäischen Sponsoren, die in den vergangenen Jahren absprangen, wurden bereits durch chinesische oder saudische Firmen ersetzt.

Selbst die Debatten, die wir hierzulande zu dem Thema führen, wirken nicht weiter als bis zu den Grenzen der westlichen Öffentlichkeit. Ich bin weit genug herumgekommen auf der Welt, um zu wissen, dass sich nur wenige Menschen darum scheren, was wir über ihre Art zu leben denken. Viele der Werte, die wir hoch gewichten, sind für viele andere Menschen wenig greifbar oder gar unwichtig. Für einen Senegalesen macht es keinen Unterschied, ob die WM in Katar oder in Deutschland stattfindet. In Katar wird er ausgebeutet, nach Deutschland kommt er gar nicht erst. Die wenigsten Menschen auf der Welt interessieren sich für Menschenrechtsverstöße in Katar oder die Korruption innerhalb der Fifa.

Das Argument der Boykott-Befürworter richtet sich daher auch nicht gänzlich in die Gegenwart, sondern in die Zukunft. „Wenn jetzt keiner zuschaut, wird die Fifa die WM nicht mehr an Staaten wie Katar vergeben!“ Das halte ich für naiv. Solange die Fifa in ihrer jetzigen Struktur besteht, wird sie weiter so handeln, wie sie es tat. Die WM an Katar zu vergeben, war nie eine rationale Entscheidung. Kein Spieler oder Trainer sprach sich dafür aus, kein Fan forderte sie, kein Wirtschaftsunternehmen hielt sie für clever. Niemand erhoffte sich, dass gerade dort besonders viele Menschen zuschauen. Es war eine politische Entscheidung, die von einer Handvoll Männern in einem Hinterzimmer getroffen wurde. Sie fiel, weil die katarischen Machthaber diese Männer umgarnten und bestachen. Sie blieb bestehen, weil diese mächtigen Männer bei einer Aberkennung der Weltmeisterschaft um ihre Privilegien fürchteten.

Die traurige Wahrheit ist: Weder die Fifa noch Gastgeber Katar lassen sich einen für Zustand boykottieren, den wir für erstrebenswert halten. Sie operieren innerhalb von Machtstrukturen, auf die der einzelne Konsument wenigen bis gar keinen Einfluss hat. Solange die Mehrheit der Mitgliedsverbände an der Fifa verdient und die mächtigen Männer nicht um ihre Position fürchten müssen, bleiben sie ganz oben. Solange Katar sich eine goldene Nase verdient mit dem Verkauf von Gas, werden sie weiterhin mit Geldscheinen wedeln und nach Einfluss streben. Diese Ohnmacht ist brutal, aber sie ist leider real in einer komplexen Welt voller unsichtbarer oder sichtbarer Seilschaften.

Das bedeutet nicht, dass wir die Hoffnung auf Wandel aufgeben sollten. Einer meiner liebsten politischen Sätze stammt von John F. Kennedy: Er glaube nicht an „eine plötzliche Revolution der menschlichen Natur, sondern an eine stetige Evolution der menschlichen Institutionen.“ Solch ein Prozess dauert Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte. Es ist ein Prozess, den man – so man ihn denn anstoßen will – nicht über einen Boykott erzwingen kann. Sondern der viel Überzeugungsarbeit, noch mehr politischen Willen und auch Zugeständnisse benötigt. Es sind bittere Fragen, die wir uns stellen müssen. Wie lassen sich unsere Werte und der offene Handel mit der Welt in Einklang bringen? Wie kann man für einen positiven Wandel in Katar sorgen, ohne die Leute dort vor den Kopf zu stoßen? Wie soll ein Sportsystem aussehen, das wir gerecht finden? Wie kann man konkret den Menschen vor Ort helfen? Aber auch: Was muss sich an unserer Lebensweise ändern für eine gerechtere Welt?

Diese Fragen auf ein simples „Boykott: Ja oder nein?“ herunterzubrechen, verengt die Debatte, ja, es macht sie teilweise sogar unmöglich. Momentan bewerten manche Menschen ihre Mitmenschen daran, ob sie die WM schauen oder nicht. Doch jeder kann Fußballspiele schauen und sich zugleich für einen Wandel in der Welt einsetzen. Man kann das Turnier boykottieren, aber schon nach dem Abpfiff sich nicht mehr um die Lage in Katar scheren. Wir sollten ehrlich zu uns selbst sein: Die Zukunft der Welt, ja nicht einmal der Erfolg dieser Weltmeisterschaft entscheidet sich daran, ob der eigene Nachbar Polen gegen Mexiko einschaltet. Dieses Eingeständnis würde so manche Schärfe aus der Debatte nehmen.

Das persönliche Eingeständnis: Neugier ist größer als das Gewissen

Die Boykott-Befürworter, die bis zu diesem Punkt durchgehalten haben, werden bereits erkannt haben, dass dies keine ausreichenden Gründe sind, die gegen einen Boykott sprechen. Vielmehr argumentiere ich gegen die Überschätzung der eigenen Macht, wenn man das Turnier boykottiert. Wer diese Prämisse akzeptiert, kann immer noch einen gewaltigen Grund für einen Boykott anführen. Es muss schließlich nicht gleich darum gehen, die Welt zu verändern. Der Boykott dient schlicht und ergreifend dazu, dem eigene Gewissen eine Stimme zu verleihen. Die Korruption, die Toten auf den Baustellen, die Ausbeutung der Menschenrechte: Das schlechte Gewissen wiegt für vielen Menschen schwerer als die Freude, Fußball zu schauen.

Ich sympathisiere mit dieser Sichtweise. Sehr stark. Fußball ist mein liebstes Hobby. Ich habe mir schon die Nächte mit der Analyse von Spielen um die Ohren geschlagen, als ich dafür noch gar kein Geld erhalten habe. Ich würde auch Wales gegen Iran sezieren, wenn sich niemand dafür interessiert. Doch selbst ich muss gestehen: Fußball mag die wichtigste Nebensache der Welt sein, doch er ist eine Nebensache.

Hier kommt das persönliche Gewissen eines jeden Einzelnen ins Spiel. Gewissensfragen sind immer schwierige Fragen. Kann ich es mit meinem Gewissen vereinbaren, dass tausende Menschen ausgebeutet wurden und teilweise sogar starben, nur damit binnen 28 Tagen 64 Fußballspiele stattfinden? Eigentlich nicht. Schaue ich sie trotzdem? Ja. Das ist die Komplexität des Menschen. Er kann Dinge tun, von denen er weiß, dass sie falsch sind.

Ich kann diesen Konflikt für mich persönlich erklären. Ich stamme aus dem klassischen Bildungsbürgertum. Ich bin mit dem Wert aufgewachsen, dass über die Welt etwas zu erfahren bedeutet, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Urteile lassen sich erst bilden, wenn man ein Thema in seiner Tiefe und Komplexität durchdrungen hat. So ist eine meiner liebsten Eigenschaften an mir selbst meine Neugier. Etwas zu studieren bedeutet für mich immer auch, mich kritisch damit zu befassen.

Bei Katar ist es nicht anders. Ich weiß, dass diese WM niemals in Katar hätte stattfinden dürfen. Doch nun tut sie es, und ich will unbedingt wissen, wie das abläuft. Kann in diesem Land Fußballbegeisterung entstehen? Welche Fans reisen dorthin? Wie will sich der Gastgeber gegenüber der Welt verkaufen? Wie wirken sich die klimatischen Bedingungen tatsächlich auf die Spieler aus? Kann eine solche WM den Anschein des Normalen überhaupt herüberbringen? Und ja, ich gebe offen zu: Langsam, aber sicher erwacht auch meine sportliche Neugier. Die Weltmeisterschaft bleibt noch immer das größte Ereignis, das der Sport Fußball zu bieten hat. Wer hier gewinnt, steigt in das Pantheon des Fußballs auf. Die brutale Wahrheit lautet, dass es für einen sportlichen Wettbewerb egal ist, wo dieser stattfindet. Wichtig ist, dass die Besten der Welt zusammenkommen, um sich zu messen. Auch das wird in Katar der Fall sein.

Meine natürliche Neugier lässt mich fremdeln mit der Boykottkultur, so wie sie in den sozialen Medien heute vorherrscht. Dort wird der Mensch stark auf seinen Konsum beschränkt. Wer Betrag X für Film Y ausgibt, unterstützt Frauenfeindlichkeit! Wer die WM in Katar schaut, hat die Toten dort auf dem Gewissen! Dass Konsum in einer kapitalistischen Welt unausweichlich ist, dass Konsum nicht gleichzusetzen ist mit Glorifizierung, dass Konsum manchmal sogar bitter notwendig ist, um eine Sache überhaupt erst durchdringen und von allen Seiten begreifen zu können: Das kommt mir häufig zu kurz.

Gerade Katar ist ein Beispiel, warum Hinschauen wichtig ist. Wollte das Land tatsächlich die weltweite Öffentlichkeit für sich gewinnen, ist der Versuch krachend gescheitert – zumindest bei mir. Ohne die Weltmeisterschaft wäre ich nie im Leben auf die Idee gekommen, mich mit einem Land zu beschäftigen, das kleiner ist als Schleswig-Holstein. Ich habe meine kritische Haltung gegenüber dem Land überhaupt erst entwickelt, weil es die WM ausrichtet. Ich werde auch in Zukunft weiter hinschauen, wenn es um notwendige Reformen vor Ort geht, um die Machtspiele am Golf und um Veränderungen der Fifa.

Und ja – um endlich am Ende einer viel zu langen Orgie an Rechtfertigungen anzukommen – ich werde auch bei dieser WM zuschauen. Ich kann jeden verstehen, der von dieser Entscheidung von mir persönlich enttäuscht ist; der gehofft hatte, mein Gewissen würde über meine Neugier siegen. Solange mir Boykott-Befürworter nicht weismachen wollen, ich sei mit meinem Konsum für alle Übel der Fußball-WM verantwortlich, sympathisiere ich mit jedem Menschen, der sich aus Gewissensgründen kein Spiel anschaut. Sie schaffen es, ihr Gewissen so stark zu gewichten, wie es mir und den übrigen Zuschauern dieser WM nicht gelingt.

Meine WM-Pläne

Ich persönlich stehe aber dazu, das Turnier zu schauen und darüber zu berichten. Diese Zeilen sollten eher der Selbsttherapie dienen als der Überzeugung von irgendjemandem da draußen, meine Position anzunehmen. Ein Sorry also an alle, die sich durch diesen zweitausend Wörter langen Schwall gearbeitet haben.

An dieser Stelle wird es – wie schon bei der EM 2021 – ein Tagebuch geben. Hier finden sich sportliche, aber auch politische und gesellschaftliche Beobachtungen zur Weltmeisterschaft. Wer sich auch die kommenden Tage durch viel zu lange Texte mit Schachtelsätzen und pseudo-tiefgehender Analyse quälen will, ist herzlich eingeladen, mein Tagebuch zu verfolgen. Wer möchte, kann es hier als Newsletter abonnieren. Ab morgen beginnt dann die Berichterstattung zum Turnier. Neben meinem Tagebuch werde ich kurze Einschätzungen auf Twitter teilen, Analysen für das ZDF und 11Freunde schreiben und Videobeiträge für die Rocketbeans und 90Min.com anfertigen.

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Ich würde gerne viel Spaß mit dieser WM wünschen. Aber das wäre falsch. Meine Hoffnung lautet, dass diese WM die Gräben der Welt nicht noch weiter vertieft. Denn am Ende ist klar: Es ist nur Fußball.

Das Titelbild zeigt eine Satellitenaufnahme Dohas. Das Bild stammt von der Axelspace Corporation, Lizenz: CC BY-SA 4.0.

2 thoughts on “WM-Tagebuch, Tag 1: Rechtfertigungen für das nicht zu Rechtfertigende.

  1. Man merkt, es wirkt. Das ist wie beim Klima. Erst, wenn die anderen alle mitmachen, bringt es was.
    Der Boykott ist die Klarstellung unverhandelbarer Basis menschlichem miteinander.
    Die Boykott-Boykottierer haben es halt verpasst, 12 Jahre lang ALLE gemeinsam und massiv für die angemessene Vermenschlichung der Weltmeisterschaft einzustehen, auch mit dem Druckmittel Boykott. Oder es bewusst verschlafen und sind jetzt von ihrer eigenen urnatürlichen menschlichen inneren Stimme in „Selbsttherapie“ geschickt worden.

    Gehirn gegen Bauch und Herz quasi.

    Nur vereint gibt es Weiterentwicklung, getrennt nennt man das Zentrifugalkraft und Zerrissenheit.

    1. Weshalb ist das Thema Boykott gerade jetzt und in Bezug auf die Fußballweltmeisterschaft in Katar so präsent? Wäre ein Boykott nicht bereits 2022 anlässlich der Olympischen Winterspiele in Peking und 2018 anlässlich der Fußballweltmeisterschaft in Russland angebracht gewesen?

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