Datenanalyse ist im Fußball vollends angekommen. Nur weiß die Öffentlichkeit davon nichts.

Vergangene Woche bin ich nach London gereist. StatsBomb lud zu ihrer jährlichen Konferenz, und als Journalist ergatterte ich ein Gratisticket. StatsBomb ist eine Firma, die sich der statistischen Analyse des Fußballs verschrieben hat. Die Firma erhebt und interpretiert Statistiken zu den großen Fußballspielen unserer Zeit. Ihre Daten und Produkte wie „StatsBomb 360“ sollen Fußballvereinen dabei helfen, Leistungen besser zu bewerten.

Die Rednerliste der Konferenz umfasste ein „Who is who“ der Statistik-Community. Tom Worville, früher TheAthletic und nun bei RB Leipzig, erzählte vom Perspektivwechsel, den er in den vergangenen Monaten vollführen musste. „New York Times“-Autor Rory Smith stellte sich der Frage, wie die Zukunft der Statistikanalyse aussieht. William Spearman, eins der Masterminds hinter den Erfolgen des FC Liverpool, erfreute die Zuhörerschaft mit einer Daten-Analyse seiner privaten Drei-gegen-Drei-Liga.

Eine Frage stellte sich auf dieser Veranstaltung niemand: Können Daten im Fußball überhaupt weiterhelfen? Diese Debatte, die in der Öffentlichkeit mit hoher Emotionalität geführt wird, war in London komplett abwesend. Das liegt in der Natur der Sache: Eine Konferenz voller Datenanalysten wird kaum propagieren, dass ihre eigene Lebensgrundlage eigentlich Quatsch sei. Der Schäfer findet immer einen Grund, warum Schafszucht das zukunftsträchtigste Geschäft von allen ist.

Doch die Abwesenheit dieser Debatte spricht auch für das neu gewonnene Selbstbewusstsein der Datenanalyse-Community. Rory Smith beschreibt es in seinem Buch „Expected Goals: The story of how data conquered football and changed the game forever”. Die Debatte, ob Daten im Fußball helfen, ist in den höchsten Zirkeln des Fußballs längst beendet. Die Nerds haben gewonnen. Es geht nicht mehr um die Frage, ob Daten überhaupt genutzt werden sollten – sondern wie man sie möglichst gewinnbringend nutzen kann. Der Fußball habe seinen eigenen „Moneyball“-Moment bereits hinter sich, so Smith: Der FC Liverpool sei ein Klub, in dem Datenanalyse jeden Aspekt der Vereinsarbeit unterstütze, von der Spielanalyse über die Einkaufspolitik bis hin zum Marketing.

Liverpool ist weder der erste noch der letzte Klub, der intensiv in diesen Bereich investiert. Jeder große Verein leistet sich eine eigene Abteilung für die Datenanalyse. Wer sich auf der Konferenz im Publikum umsah, erblickte Vertreter praktisch jedes Premier-League-Vereins, aber auch Trainingsanzüge des FC Santos oder von Spezia Calcio. In den Networking-Pausen war an überraschend vielen Tischen die deutsche Sprache zu vernehmen. Unter anderem waren Mitarbeiter des DFB, von Borussia Dortmund und Eintracht Frankfurt zugegen.

Veröffentlichte Realität versus Expertenwissen

Nun würde man diesen Siegeszug der Datenanalyse im Fußball nicht vermuten, wenn man die Entwicklung nicht im Detail verfolgt. Die Konzepte, die unter Datenanalysten seit einem Jahrzehnt kursieren, kommen nur langsam in der Öffentlichkeit an. Die Bundesliga blendet mittlerweile nach den Spielen Expected-Goals-Werte ein, außerdem werden Laufdaten sowie die Sprintgeschwindigkeit herangezogen. Da hört der Spaß aber auch auf. Passes per Defensive Action, Expected Assists, Pitch Control: All diese Modelle sind nur in Experten-Zirkeln bekannt.

Das ist zunächst einmal nicht dramatisch. Joachim Löw sagte einst: „Ein Fußball-Fan muss nichts von der falschen Neun verstehen.“ Damit hat er selbstredend Recht. Das Schöne am Fußball ist, dass er sich auf zig unterschiedliche Arten genießen lässt. Man kann im Stadion genauso laut pöbeln, wenn man nie etwas von Datenanalyse gehört hat. Die Zahl der Menschen, die Datenanalyse im Fußball für nützlich erachten, dürfte im einstelligen Prozentbereich liegen. Das bedeutet nicht, dass Datenanalyse im Fußball unnütz ist. Es bedeutet zunächst einmal nichts Anderes, als dass die meisten Menschen keine Ahnung von Fußballanalyse haben.

Das Problem: Die Meinung, „Zahlen nützen im Fußball nichts“, findet sich nicht nur in den Stadien, sondern auch in den Sportredaktionen dieses Landes. So manch ein Experte, der Woche für Woche bei Sky, Dazn oder im Doppelpass seine Meinung herausschreit, dürfte diesen Satz unterschreiben. Kaum einer könnte schlüssig erklären, was Spearman bei Liverpool oder Worville bei RB Leipzig den ganzen Tag so macht.

Die Experten mögen einem Gefühl Ausdruck verleihen, das viele Menschen teilen. Sie stehen damit aber zugleich auf Kriegsfuß mit der reellen Arbeit, die alle großen Fußballklubs der Welt leisten. Natürlich lässt sich weiterhin verargumentieren, dass Fußball sich nicht allein durch Zahlen verstehen lässt. (Das ist übrigens ein Strohmann-Argument: Niemand behauptet, Fußball lasse sich allein durch Zahlen analysieren. Sie sollen nur bei der Analyse helfen.) Man muss nur ganz offen festhalten, dass die Verantwortlichen und die Geldgeber der großen Vereine längst zu einem anderen Schluss gekommen sind. Jedes Mal, wenn Didi Hamann oder Mario Basler sich über Fußball-Statistiken lustig machen, müsste eigentlich ein Disclaimer eingeblendet werden: „Fußballvereine der Bundesliga investieren jährlich einen siebenstelligen Betrag in Datenanalysen.“

Es liegt hier ganz offensichtlich ein Missverhältnis vor: zwischen der öffentlichen und veröffentlichten Meinung auf der einen Seite – und dem Elitenkonsens auf der anderen Seite. Dieses Phänomen gibt es nicht nur beim Thema Datenanalyse. In den vergangenen zehn Jahren habe ich mir jedes Mal nach Taktikanalysen anhören müssen, ich würde das Spiel überinterpretieren. Doch immer wenn ich mit Trainern in den oberen deutschen Ligen rede – also den Leuten, die wirklich etwas zu entscheiden habe -, merke ich schon nach wenigen Sekunden: Ich habe eigentlich sehr wenig Ahnung von Taktik. Da geht es dann um Körperhaltungen beim Aufdrehen, um die Datenerhebung eines erfolgreichen Gegenpressings oder um die Frage, welches Führungsauge ein linker Innenverteidiger haben sollte. Fußball ist auf der allerhöchsten Ebene eine kleinteilige Suche nach dem „marginal gain“, nach der kleinsten möglichen Verbesserung. Es ist eine Welt der Spezialisten, voller Mediziner und Trainingswissenschaftler und Statistiker, von denen nicht wenige an Elite-Universitäten wie Oxford oder Stanford studiert haben.

Ergibt alles, was Fußballvereine tun, tatsächlich Sinn? Wahrscheinlich nicht. Doch wer bin ich, darüber zu richten? Bevor man über etwas richtet, sollte man etwas verstehen – und da wird es schwierig. Die Art, wie in der Breite über Fußball gedacht wird, hat sich massiv entfernt von der tatsächlichen Arbeit der Vereine. Im Inneren der Szene wird ganz anders über Fußball gesprochen, als die mediale Aufbereitung suggeriert.

Was ist die Aufgabe der Medien?

Der Sportjournalismus ist hier in einem inneren Konflikt. Er hat den Anspruch, die Welt so zu beschreiben, wie sie ist – nach dem berühmten Slogan „Sagen, was ist“. Er muss das Publikum aber auch abholen, wo es ist – nicht zuletzt, um Einnahmen zu generieren für das Fortbestehen des eigenen Angebots. Wahrheit und Popularität müssen nicht zwangsläufig Gegensätze sein. Das Spannungsfeld zwischen Information und Unterhaltung sorgt aber dafür, dass häufig der einfache Weg gewählt wird. Dann wird eben der Anruf von Uli Hoeneß beim Doppelpass ausgeschlachtet. Und wer will es den Internetportalen auch verdenken? Die Artikel über Hoeneß dürften zu den meist geklickten der vergangenen Woche gehören. Es ist das, was das Volk will. Und Volkserziehung ist nun einmal nicht die Aufgabe des Journalismus, erst recht nicht des Sportjournalismus.

Und doch geht etwas verloren. Was bleibt von einem Volkssport, wenn Profis sich zunehmend entkoppeln vom Volk? Wenn die Konzepte, die Vereine nutzen, überhaupt nicht mehr in der Öffentlichkeit diskutiert werden? Wenn Sportjournalisten teilweise gar nicht mehr das Interesse haben, diese Zusammenhänge zu verstehen? Es gibt nicht wenige Mitglieder meiner Zunft, die ihr Nichtverständnis des Expected-Goals-Wert stolz vor sich hertragen. Ignoranz als Tugend.

Es macht es nicht leichter, dass die meisten Protagonisten im Fußball sich nicht zu den Veränderungen äußern. Im Gegenteil: Wie oft habe ich es mittlerweile erlebt, dass ein Mitarbeiter eines Fußballklubs im Privaten schwärmt, was für ein tolles Datentool sie gebastelt haben – nur um dann im nächsten Bild- oder Kicker-Interview zu erklären, dass Zahlen im Fußball überschätzt seien. Viele haben Angst davor, in der öffentlichen Meinung als zu progressiv zu gelten. Niemand will wie Ralf Rangnick sein Leben lang „Professor“ genannt werden.

Die alternde Gesellschaft

Nun kann man völlig zurecht argumentieren: Es ist nur Fußball. Wenn die Leute bei einem Hobby keine Lust haben, Vorträgen auf Universitätsniveau zu lauschen, ist das ihr gutes Recht. Fair enough. Doch nicht nur der Fußball ist wahnsinnig komplex geworden. Wer sich in irgendein Thema hereinliest, erkennt schnell, wie stark sich die Welt im 21. Jahrhundert im Wandel befindet. Arbeitsprozesse in der Industrie laufen teils vollständig autonom, die Finanzmärkte werden von Computer-Algorithmen beherrscht, Krieg wird nicht von Menschen, sondern von hochpräzisen Waffensystemen entschieden. Die oft beschworene Zukunft ist längst Gegenwart.

Unsere alternde Gesellschaft tut sich schwer damit, den Wandel zu erfassen. Fast jeder vierte Deutsche befindet sich in Rente, 2030 dürfte es jeder dritte sein. Unter den Wahlberechtigten liegt ihre Zahl noch höher. Naturgemäß zehrt solch eine solche Gesellschaft stärker von der Vergangenheit als eine Nation, in der junge Menschen in der Überzahl sind. Viele ziehen sich zurück in die vermeintliche Einfachheit des Gestern. Deshalb funktioniert alles, was Hoeneß sagt, medial so gut. Hoeneß klingt nach Macht, nach Einfluss, nach Früher. Zu Hoeneß hat jeder eine Meinung, dazu braucht man keine tiefergehende Analyse.

Dabei wären Diskussionen um die tatsächlich stattfinden Veränderungen wichtiger denn je. Nicht alles, was unter dem Deckmantel des Fortschritts geschieht, bringt die Gesellschaft tatsächlich nach vorne. Doch wir führen kaum Debatten über Sinn und Unsinn von Automatisierung, über die Abhängigkeit der Finanzmärkte von Algorithmen, ja nicht einmal so richtig über Umverteilung in Zeiten der Klimakrise. Stattdessen geht es um Winnetou und Layla.

Ich bin etwas abgeschweift. Eigentlich wollte ich nur sagen: Datenanalyse im Fußball ist gekommen, um zu bleiben. Das kann man gut finden oder schlecht. Man sollte es aber zumindest zur Kenntnis nehmen – und sich überlegen, wie man die Konzepte auch für Menschen zugänglich machen kann, die über kein abgeschlossenes Statistik-Studium verfügen.

Das Artikelbild zeigt die Bühne bei der StatsBomb Conference 2022. Das Bild habe ich selbst geschossen (, wie man an der Qualität unschwer erkennt.)

7 thoughts on “Datenanalyse ist im Fußball vollends angekommen. Nur weiß die Öffentlichkeit davon nichts.

  1. Schöner Artikel. Ja, die Dinge verstehen würde gut tun. Fußball ist da nur ein simples Abbild der Gesellschaft, man kann an ihm weite Teile der Welt und ihrer Struktur erklären. Und was daran alles so kaputt ist. Aber ich will da auch nicht abschweifen.

    Ich hab dank Klopp und Tuchel früh erlernt, mal nicht nur auf das Ergebnis zu achten. Auch nicht nur auf Fehlpässe, sondern auch die Spielzüge und Stellungen, die zu der Situation führen. Das es sehr selten darum geht, dass „die Spieler keinen Bock hatten“, sondern meistens eher darum, dass sie einen falschen Plan für das Spiel hatten.

    Ich bin heute noch überrascht, wie sehr so typische Alleinspieler wie Bellingham verehrt werden und Spieler, die im Grunde auch sehr gut sind, aber anhand ihrer Skills auf Strukturen und Mitarbeit angewissen sind, gehasst werden.

  2. Wir im Westen sind stolz auf unsere analytischen Fähigkeiten. Im einer stabilen Welt – wie der Physik – hat das zu ernormen Fortschritt und Wohlstand geführt. Fußball ist aber nicht wie Physik (relativ stabile Gesetze über die Zeit), sondern ein lebendiges (dynamisches) System. Wenn etwas Teams erfolgreich macht, werden andere darauf reagieren und sich anpassen. Das Erfolgsrezept ist dann höchstwahrscheinlich bald keines mehr.

    Wir wissen inzwischen auch, dass in einem dynamischen System die Suche nach dem „marginal gain“ und immer komplexere Modelle nicht zwingend besser sind, als einfache Heuristiken mit wenigen Faktoren (vgl. u. a. N. Wiener, von Foerster, Gerd Gigerenzer und Nassim N. Taleb). In der Wissenschaft kann man zw. Analyse und Synthese unterscheiden. Vielleicht ist ein Grund warum Carlo so erfolgreich ist, dass er die Synthese besonders gut beherscht, da er eine gute Intuition (wesentlich für Heuristiken) hat.

    Analyse ist damit natürlich nicht obsolet, aber ich würde mich auf Kern-Faktoren konzentrieren und anhand dieser regelmäßig meine Intution überprüfen. Dass Hersteller von Analyse-Tools und Chefs von Analyse-Abteilungen andere Interessen haben, ist klar und nicht verwerflich.

    Die Probe der Erkenntnis ist allerdings nicht der Zuschauer. Können die Erkenntnisse den Profi-Spielern vermittelt werden? Welche Beispiele gibt es dafür? Die Distanzsschüsse wurden genannt, aber dafür brauche ich keine xG-Statistiken. Mein Jugendtrainer in den 90ern hat schon gesagt, dass wir nicht so häufig Draufbolzen sollen. Da wäre meine Anforderung an die Berichterstatter, mir überzeugendere Beispiele zu nennen inkl. Test der Zeit (statistische Relevanz).

    1. Lieber PeterVincent,
      fantastischer Beitrag! Ich habe in letzter Zeit ebenfalls über die Verbindung zwischen Fußball und der Kybernetik nachgedacht. Was kann ich von einem komplexen dynamischen System lernen? Wie kann ich es beeinflussen? Gibt es Ultrastabilität/Antifragilität im Fußball? Ich würde mich gerne mit Ihnen austauschen. Wenn Sie Interesse haben, melden Sie sich doch bitte bei Tobias Escher. Er kann einen Kontakt herstellen.

  3. Ich freue mich sehr, dass es hier mal wieder etwas Frisches zu Lesen gibt! 🙂 Toller Artikel, vielen Dank dafür!
    Da bald eine WM startet, frage ich hier mal nach: Wird es hier ein WM-Tagebuch geben? Natürlich gerne mit irgendeinem Bezahl-Modell, wie in den Kommentaren am Ende der EM 2021 schon mal angesprochen wurde? Oder anders formuliert: Hat das vor einem Jahr genannte „herumdenken, wie ich Spaß und Geldverdienen verbinden kann“ zu einem Ergebnis geführt?

    1. Hallo Andre, vielen Dank für die Nachricht und das Lob! Zu deiner Frage: Ja, ich plane ein WM-Tagebuch. Ich werde die WM nicht in Gänze boykottieren (werde mich dazu aber zu gegebener Zeit auch noch einmal äußern). Ein Bezahl-Modell plane ich für die WM aber nicht, da gibt es das Tagebuch frei verfügbar. Ich würde das Tagebuch aber gerne nach der WM weiterführen und Artikel wie den oben stehenden regelmäßig herausbringen. Dann wird es eine Bezahl-Variante geben. Grüße!

  4. Ein Stück weit tut sich hier auch die Frage nach dem Huhn und dem Ei auf. Berichten die meisten Sportmedien nur oberflächlich über die Feinheiten des Spiels und eher auf emotionaler Ebene, weil die Lesenden eben nur das wollen? Oder sind Fußballfans einfach oft überfordert wenn es um Taktik und Datenanalyse geht, weil der Sportjournalismus (hierzulande) zu wenig darüber berichtet?

    Vielleicht würden mehr Fans sich für diese Dinge interessierten, wenn in verständlicher Weise darüber berichtet wird, anstatt die Dinge unter den Tisch fallen zu lassen? Schaut man,sich Pressekonferenzen im Fußball und die Fragen, die die Medienvertreter*innen stellen an, fragt man sich, ob heutzutage nicht jeder Bezirksliga-Trainer das Spiel besser verstanden hat, als viele, die mit Sportjournalismus ihr Geld verdienen. Vielleicht braucht es mehr Taktiknerds wie Tobias Esfher und weniger Phrasendrescher wie Mario Basler in den Fußball-Talkshows?

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