Eschers EM-Tagebuch, Tag 31: Ein verdienter Sieger

Alles hat ein Ende, selbst diese wunderschöne Europameisterschaft! Zum Abschluss resümiere ich, warum Italien ein verdienter Sieger ist und wieso den Engländern trotzdessen eine rosige Zukunft bescheinige.

Italien: Der verdiente Sieger

Es hätte einfach nicht gepasst. Vier Wochen Europameisterschaft liegen hinter uns. Vier Wochen mit offensivem Fußball. Mit einigen spektakulären Partien, mit vielen Toren, mit überraschend offensiv denkenden Teams und Trainern. Spannung und Spektakel waren in der K.O.-Phase die Regel, nicht die Ausnahme. Es war das torreichste Turnier seit über zwanzig Jahren; Weltmeisterschaften miteinberechnet.

Hätte England dieses Turnier gewonnen, wäre es keineswegs unverdient gewesen: Die Engländer stellten die defensiv stabilste Mannschaft. Im gesamten Turnierverlauf haben sie kein einziges Tor aus dem Spiel heraus kassiert. Selbst die Italiener konnten sie in dieser Hinsicht nicht bezwingen. Stabilität hinten, individuelle Klasse vorne, passende Matchpläne von draußen: Eigentlich sprach alles für England. Gareth Southgate hat eine klassische Turniermannschaft zusammengestellt, die sich von Spiel zu Spiel gesteigert hat.

Und doch: Es hätte einfach nicht gepasst. Nicht zu diesem Turnier. Die Italiener verkörperten all das, was an dieser Europameisterschaft Freude bereitete: Dass sie im Zweifel immer nach vorne verteidigt haben. Dass sie einen genauen Plan hatten, wie sie ihren Ballbesitz einsetzen wollten. Dass sie technische Klasse mit Leidenschaft und Kampf kombinierten. Dass sie Spiele gewannen, weil sie mehr Chancen als der Gegner herausspielten, nicht weil sie weniger zuließen.

Ich habe in meinem Tagebuch oft beschrieben, wie Southgate in England die Geister der Vergangenheit vertrieben hat. Auch Roberto Mancinis Italiener waren ein Projekt, das alte Klischees abstreifen sollte. Mancinis Spielsystem war keine komplette Abkehr des traditionellen italienischen Stils. Im Zweifel können die Italiener am eigenen Strafraum verharren und Druck aufsaugen, wie sie im Halbfinale bewiesen.

Doch Mancini reicherte das Ordnungs-vernarrte Spiel der Italiener mit neuen Elementen an; nicht als Selbstzweck, sondern einfach weil es zu den Spielern passte. Wessen Doppelsechs aus Marco Verratti und Jorginho besteht, sollte auf Ballbesitz spielen. Wer Leonardo Spinazzola als Linksverteidiger aufstellt, muss ihn nach vorne sprinten lassen. Wer keinen mitspielenden Stürmer hat, muss eben über einrückende Außenstürmer oder vorrückende Achter vor das Tor gelangen. Italiens Mannschaft ließ in sämtlichen Spielphasen einen klaren Plan, ein klares System erkennen. Mancini mag nicht wie Southgate einen komplexen Philosophiewechsel vorangetrieben haben. Er hat aber wie kein anderer Trainer eine Mannschaft gebaut, die größer war als die Summe ihrer Einzelteile.

Wird ein Spiel im Elfmeterschießen entschieden, ist es so eine Sache mit der Frage, ob der Sieg letztlich verdient war. Wenn ein Spiel nach 120 Minuten Unentschieden ausgehen, muss eine Entscheidung her. Irgendwie. Und doch lassen sich Argumente finden, warum keineswegs die falsche Mannschaft gewonnen hat. Die Italiener waren im Finale das offensiv bessere Team. Sie hatten mehr Abschlüsse, deutlich mehr expected goals und am Ende auch ein Mehr an Leichtigkeit. Die italienischen Spieler feixten vor dem Schießen mit Torhüter Gianluigi Donnarumma. Die englischen Schützen blieben unter sich.

Für den Fußball ist es ein gutes Zeichen, dass Italien gewonnen hat. Andere Nationen orientieren sich am Sieger. Mancini hat bewiesen, dass nicht die besten Einzelspieler zwangsläufig ein Turnier gewinnen, sondern das am besten funktionierende Spielsystem. Vielleicht animiert dieser Sieg andere Trainer, sich ein maßgeschneidertes Spielsystem für die eigene Mannschaft zu überlegen. Ein Spielsystem, das nicht nach der Formel funktioniert: „Stabilität plus individuelle Einzelspieler gleich Turniersieg.“ Zu wünschen wäre es. Dann wären vielleicht auch die kommenden Turniere so hochklassig wie diese Europameisterschaft.

England: Das Imperium wird zurückschlagen

Gareth Southgate erinnert mich immer an eine Mischung aus Joachim Löw und Jürgen Klinsmann. Als das Trainergespann 2004 zum DFB kam, traf es auf eine Nationalmannschaft, die sich am Boden befand. Zwei Jahre vor der Weltmeisterschaft im eigenen Land war Deutschland in der Gruppenphase der EM gescheitert. Die Mannschaft wirkte überaltet und gefangen in ihrer Idee, deutsche Tugenden würden irgendwie alles richten.

In den kommenden Jahren taten Klinsmann und Löw alles dafür, der Mannschaft und auch der Fußballnation Deutschland diese deutschen Tugenden auszutreiben. Groß war die Aufregung, als sie amerikanische Fitness-Coaches anstellten und den Spielern das Grätschen verboten. Auch nach dem Aus von Klinsmann nach der WM 2006 betonte Löw stets, dass sich das deutsche Spiel wandeln müsse. Mit den alten deutschen Tugenden gewinne man keinen Blumentopf mehr. Es reichte nicht mehr, zu kämpfen und sich auf seine Historie als Turniermannschaft zu berufen.

Southgates Geschichte in England verläuft ähnlich. Er kam, als sich der Verband nach der EM 2016 und einem Skandal um den neuen Trainer Sam Allardyce am Boden befand. Mit wissenschaftlicher Genauigkeit machte er sich daran, den englischen Fußball zu erneuern. All die Geister und Klischees der Vergangenheit trieb er aus. Plötzlich gewann England Elfmeterschießen, 2018 gegen Kolumbien. Bei der jetzigen Euro besiegten sie Deutschland und avancierten zum defensiv stabilsten Team. All das war das Gegenteil von typisch England.

Und doch beschleicht einen das Gefühl: Ein Titel im Jahr 2021 käme zu früh für diese englische Mannschaft. Löw hat erst im vierten Anlauf den großen Wurf geschafft. Die Engländer stellten den zweitjüngsten Kader des Turniers. Die Startelf im Finale war im Schnitt zwei Jahre jünger als die Elf der Italiener. Praktisch allen Spielern ist zuzutrauen, bei der WM 2022 in der gleichen, wenn nicht sogar in besserer Verfassung anzutreten.

Den Spielern auf dem Feld würde ich die fehlende Erfahrung gar nicht attestieren. Sondern eher dem Trainerteam. Miguel Delaney formulierte es treffend: Southgate und sein Trainerteam wollten die EM per Blaupause gewinnen. Auf fast schon wissenschaftliche Art haben sie ihr System gebastelt: Stabilität hier, ein paar Anpassungen an den Gegner, passende Standards dort. Fertig ist der Turniersieger.

Dass zu viel Planung im Fußball nicht immer zum Erfolg führt, bewies spätestens das Elfmeterschießen. Southgates Trainerteam hat alle Regeln befolgt, die laut neuesten Forschungen Erfolge im Elfmeterschießen versprechen. Spieler im Alter von 23 oder jünger treffen im Schnitt häufiger. Spieler, die keine 120 Minuten in den Knochen haben, ebenfalls. Also brachte Southgate Marcus Rashford und Jadon Sancho kurz vor dem Elfmeterschießen. Doch ein Elfmeterschießen im Finale einer Europameisterschaft ist kein Laborversuch. All die eingewechselten und jungen Spieler scheiterten. Italiens alte Hasen trafen.

Es soll nicht darum gehen, Trainer oder Spieler für ein verlorenes Elfmeterschießen zu schelten. Das ist die Krux des Elfmeterschießens: Eine Mannschaft muss verlieren. Es steht eher symbolisch für Southgates Ansatz, alles kontrollieren und regeln und planen zu wollen. Schon nach dem 1:0 beschlich einen das Gefühl, eine weniger kontrollierte und erfahrenere Mannschaft hätte die italienische Unruhe bestraft. Sie hätte wahrgenommen, wie Verratti, Bonucci und Emerson sich auf dem Feld anmeckern. Sie hätte sich dem eigenen Matchplan widersetzt und den Druck hochgehalten. Die englische Mannschaft tat es nicht, und so tankten die Italiener mit jedem gelungenen Pass Selbstvertrauen.

Spätestens in der zweiten Halbzeit spürte man, dass die eine Mannschaft im Fußball schon alles erlebt hatte, während das andere Team noch grün hinter den Ohren war. Aus deutscher Sicht kamen Erinnerungen hoch an 2008, an 2010 und an 2012, als das neue Deutschland an erfahrenen Gegnern und ausgefuchsteren Spielideen scheiterte.

Für die deutsche Nationalmannschaft waren diese Niederlagen Lernprozesse. Nicht nur die Spieler wuchsen daran, sondern auch der Trainer. 2014 ließ Joachim Löw die Zügel merklich lockerer, wollte nicht mehr alles nach Schema F machen und kontrollieren. Wenn Southgate tatsächlich der neue Löw werden will, muss auch er diese Lehre aus diesem Turnier ziehen. Ein Titel lässt sich nicht am Reißbrett gewinnen.

Meine Elf des Turniers

Ich schreibe zwar immer wieder, dass Auszeichnungen für Einzelspieler in einer Mannschaftssportart Mist sind. Aber irgendwie komme ich davon nicht los. Scheltet mich nicht! Auch ich bin nur ein Mensch, der Helden auf ein Podest heben möchte.

Bei den vergangenen Turnieren habe ich praktisch immer eine Mannschaft des Turniers gekürt. Die Idee dahinter lautet, den besten Spieler für jede Position zu benennen. Schwierig wird es bereits beim Superlativ „beste“. Was zeichnet den besten Spieler aus? Gute Einzelleistungen oder Konstanz? Wie will man einen Spieler überhaupt bewerten, ohne seine Rolle in der Kabine und in den taktischen Planungen seines Trainers zu kennen? Vielleicht sollte Leonardo Spinazzola ja gar nicht so offensiv auftreten, sondern er hat sich einfach den Anweisungen seines Trainers widersetzt. (Fürs Protokoll: Das war ein Scherz. Natürlich war das Teil des Plans.)

Die Elf des Turniers funktioniert für mich als Format so gut, weil sie enorm subjektiv ist. Es ist nicht die Elf des Turniers, sondern meine Elf. Man erkennt auf den ersten Blick meine fußballerischen Vorlieben und welche Spieler bei mir einen Bonus besitzen.

Im Tor fiel die Entscheidung nicht schwer. Gianluigi Donnarumma ließ sich im Turnierverlauf kaum etwas zu Schulden kommen und avancierte gleich zweimal zum Elfmeter-Helden. Trotz zweier großartiger Einzelleistungen von Lukas Hradecky geht der Titel bester Torhüter nach Italien. Ob man dafür zum Spieler des Turniers gekürt werden sollte, ist eine andere Frage.

In der Abwehr blickt die ganze Welt auf Giorgio Chiellini. Kein Wunder: Er hat herausragend verteidigt und sich gleichzeitig den Titel „Meiste Memes der EM“ gesichert. Mir geht da jedoch sein Abwehrpartner Leonardo Bonucci zu sehr unter. Er hat nicht nur mindestens genauso gut verteidigt wie Chiellini, sondern einige großartige Vertikalpässe gespielt. Neben Bonucci steht in meiner Elf Andreas Christensen, allein schon aus dem Grund, dass er die taktisch interessanteste Rolle aller Innenverteidiger ausführen durfte.

Die Außenverteidiger-Positionen sind fest in englischer Hand. Luke Shaw hat auf den letzten Metern noch Spinazzola und Joakim Maehle überholt, nicht nur aufgrund seines Tors im Finale. Er war der wohl balancierteste Außenverteidiger, der in allen Spielphasen positiv auffiel. Ohne Verletzung wäre der Titel indes an Spinazzola gegangen. Auf rechts setzte sich der stets stabile Kyle Walker durch; hier war die Konkurrenz aber auch kleiner, weshalb auf der Bank zwei Linksverteidiger sitzen.

Im Mittelfeld beginnt die Qual der Wahl. Ein ganzes Dutzend Spieler hätten sich eine Nominierung verdient – allerdings aus völlig unterschiedlichen Motiven.

  • Kategorie Konstanz: Hier liegt eindeutig Pedri vorne, aber auch Jorginho und Pierre-Emile Hojbjerg agierten durchgehend auf einem hohen Niveau, ohne Ausreißer nach unten oder oben in die absolute Spitzenklasse.
  • Kategorie Glanzlichter: Paul Pogba hatte einige der individuell großartigsten Momente dieser EM, schwankte aber genauso wie seine französische Mannschaft. Ähnliches gilt für (den nicht fitten) Kevin de Bruyne und Nicolo Barella.
  • Kategorie Kategorie-Spieler: Manche Mittefeldspieler ragten in einer Facette des Spiels besonders heraus. Declan Rice war wohl der beste Defensivsechser. Jeder Gegenspieler scheiterte an ihm. Sergio Busquets und Marco Verratti wiederum waren defensiv wenig auffällig, verteilten aber die Bälle auf überragendem Niveau.
  • Kategorie Teamspieler: Manche Spieler fielen nicht durch Einzelaktionen oder als Rollenspieler auf, sondern weil sie nahezu unverzichtbar waren für ihre Teams. Granit Xhaka führte die Schweiz ins Viertelfinale, Tomas Soucek seine Tschechen ebenfalls.

Am Ende habe ich eine Mischung der Kategorien nominiert: Busquets aus persönlicher Liebe und aufgrund seiner Ballbesitz-Fähigkeiten, Pogba aufgrund seiner überragenden Einzelleistungen und Pedri aufgrund seiner Konstanz. Man hätte aber genauso gut Rice, Xhaka und Hojbjerg oder Verratti, de Bruyne und Jorginho wählen können.

Im Sturm fiel mir die Auswahl wieder leichter. Federico Chiesa setzte sich auf rechts klar durch. Auf links hat Raheem Sterling die Nase leicht vor Lorenzo Insigne, trotz seiner Fallsucht. Insigne blieb mir in der K.O-Runde zu blass. Im Sturm zeigte Harry Kane das kompletteste Spiel. Er glänzte nicht nur im Strafraum, sondern auch als Spielgestalter aus dem Zehnerraum. Dass er in der K.O.-Phase aufblühte, während Patrik Schick und Romelu Lukaku ihre besten Spiele in der Vorrunde gezeigt hatten, gab letzten Endes den Ausschlag zugunsten von Kane.

Danke!

Ich möchte mich an dieser Stelle bei allen Leserinnen und Lesern bedanken, besonders für die Zuschriften nach meinem gestrigen Tagebuch. Bereits gestern habe ich geschrieben, wie viel Spaß mir das Schreiben der Einträge bereitet hat. All good things come to an end. Dieses Tagebuch endet mit diesem 24. Eintrag.

Gestern hatte ich laut überlegt, ob man dieses Tagebuch auch jenseits der EM fortführen und wie man es finanzieren könnte. Ihr, liebe Leserinnen und Leser, habt viele Ideen geliefert. Ich werde mich jetzt erst einmal eine Klausurtagung mit mir selbst ansetzen und dann überlegen, wie ich weiter vorgehe. Ob ich in den kommenden Wochen überhaupt Zeit finde, weitere Einträge auf dieser Seite zu schreiben, steht noch in den Sternen. Bald beginnt die Schreibphase für mein nächstes Buch, und in zwei Wochen startet ja bereits Werder in die Zweite Liga. Die Sommerpause ist kurz.

Das ist das Schöne am Fußball: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Hoffentlich heißt es bald auch: Nach dem Tagebuch ist vor dem Tagebuch.

Das Titelbild stammt von Reimund Bertrams auf Pixabay.

5 thoughts on “Eschers EM-Tagebuch, Tag 31: Ein verdienter Sieger

  1. Die Begeisterung für den nationalen Fußball liegt mir wohl in meinen (italienischen) Genen. Nachdem ich auf den Blog über das Bohndesliga EM Studio aufmerksam geworden bin, habe ich mich sehr auf die letzten Tagebucheinträge gefreut.
    Vielen Dank für die interessanten und verständlichen Erläuterung, es hat viel Spaß gemacht 🙂

  2. Lieber Tobias,
    ich denke, dass Southgate den Ausgang des Elfmeterschießens „verbockt“ hat.
    Sancho und Rashford spielten bei ihm während der Euro keine Rolle, Saka hatte keinen guten Tag. Die drei Jungstars fürs Elfmeterschießen zu nominieren finde ich „fahrlässig“ und psychologisch aüßerst fragwürdig!
    Wo sind die Routiniers und Führungsspieler?

    Mit lieben Grüßen aus Österreich

    Manfred Uhlig
    Trainerausbildner Fußball

  3. Auch von mir ein herzliches Dankeschön für die lockere und auch mit Selbstironie gewürzte Berichterstattung, hier und auf Twitter. Habe immerhin zwei Leute aus dem Bekanntenkreis mit Dir vertraut gemacht. 🙂

    Eine besondere Würdigung bekommt dabei ein Tweet, der mich beglückte, der aber bei Wortspielverächtern bleibende #CZEDEN hinterlassen hat. *applaudier*

  4. Danke für die sehr interessanten Einträge während dieser EM.
    Bei Donnarumma fällt mir immer auf, dass er ziemlich schwach am Ball ist. Er hat sehr oft lange Bälle direkt auf Gegenspieler gespielt und ist auch beim ein oder anderen kurzen Pass mit einem blauen Auge davon gekommen. Er war meines Erachtens zwar immer noch einer der besten Torhüter des Turniers, aber sicher nicht der beste Spieler.

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