Eschers EM-Tagebuch, Tag 27: We are someone again

Herzlich Willkommen zu meinem EM-Tagebuch! Heute stehen die Engländer im Fokus – mal wieder, muss man sagen. Aber Gareth Southgates Bestreben, das Klischee des englischen Fußballs aufzubrechen, lässt mich einfach nicht los. Außerdem stelle ich mir die Frage, wer Spieler des Turniers werden könnte, und echauffiere mich ein bisschen über das Thema Elfmeter.

England ist wieder wer

Fußball und Politik-Vergleiche sind stets schief, weil Fußball letztlich Fußball ist, und Politik bleibt Politik. Joachim Löw und Angela Merkel mögen Parallelen verbinden. Sie üben jedoch völlig unterschiedliche Tätigkeiten aus. Trotzdem will ich mich an einer Parabel zwischen Fußball und Politik versuchen.

Mit der englischen Nationalmannschaft ist es wie mit dem Brexit. Wer Boris Johnsons Brexit-Politik anhand der Signale nach Außen und der politischen Entscheidungen analysieren will, verfehlt den Kern der Sache. Sämtliche britischen Denkmuster und Handlungsweisen und Gefühle bezüglich des Brexits sind nach innen, auf die Nation gerichtet. Es geht um die Frage: „Wer wollen wir sein?“ Details wie Handelsbeziehungen und komplexe Vertragswerke sind für die Briten (bzw. vornehmlich für die Engländer) ebenso zweitrangig wie die Frage, für wie stupide der Rest der Welt diese ganze Brexit-Kiste hält.

Englands Fußball bei der Europameisterschaft 2021 auf die Frage abzuklopfen, ob er der Menschheit Spaß bereitet oder ob die Mannschaft nun verdient im Finale steht, geht vollends an der Sache vorbei. Southgates Mission ist es nicht, der Welt eine großartige Fußballmannschaft oder einen verdienten Europameister zu schenken. Sein Ziel lautet, die englischen Geister der Vergangenheit zu vertreiben.

Diese Geister sind vielfältiger Natur. England verliert jedes Elfmeterschießen. England ist keine Turniermannschaft. England bricht beim ersten Anflug von Druck ein. Die Egos der englischen Spieler sind größer als ihr Teamgedanke. Die englische Öffentlichkeit sieht die eigene Mannschaft größer, als sie eigentlich ist. England wird nie ein Turnier gewinnen.

Mit all diesen Vorurteilen bin ich, Jahrgang 1988, aufgewachsen. All diese Vorurteile musste sich jeder Engländer im Verlaufe seines Lebens anhören. Und diese Vorurteile hatten allesamt einen wahren Kern. In den Nuller Jahren gehörte Englands Nationalmannschaft zu den talentiertesten dieses Planeten. Trotzdem kamen sie nie über ein Viertelfinale eines großen Turniers hinaus. Im Zweifel war im Elfmeterschießen Schluss. Seit 1966 haben die Engländer kein Finale mehr erreicht, seit 1996 kein Halbfinale.

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Southgate hat alle diese Vorurteile abgeräumt. Wieder und wieder hat er betont, dass die Geister der Vergangenheit nicht auch die Geister der Zukunft sein müssen. Es begann 2018, als England mit viel Leidenschaft (und etwas Losglück) erstmals seit 22 Jahren ein Halbfinale eines großen Turniers erreichte. Auf dem Weg dorthin setzten sie sich gegen Kolumbien im Elfmeterschießen durch; erst zum zweiten Mal in der eigenen Geschichte gewannen sie ein solches Elfmeterschießen.

Southgate setzt diesen Weg 2021 eiskalt fort. Englands Kader mag aus großartigen Einzelkönnern bestehen, gerade in der Offensive. Das ist aber nicht Southgates Fokus. Er möchte Stabilität. Er stellt lieber Bukayo Saka auf anstelle von Jadon Sancho oder Phil Foden, weil Saka seine Aufgabe im Pressing besser erfüllt. Southgates Team soll als Einheit auftreten.

England will vor allem Gegentore vermeiden. Im sechsten Turnierspiel mussten sie zwar ihren ersten Gegentreffer hinnehmen. Damsgaards Freistoß war für Torhüter Jordan Pickford nicht zu parieren. Aus dem Spiel heraus sind die Engländer jedoch weiter unbezwungen. Das muss man kurz unterstreichen: Weder die Ballkünstler aus Kroatien noch die individuell hochklassig besetzten Deutschen noch die kollektiv angreifenden Dänen konnten die englische Abwehr aus dem Spiel bezwingen.

Die Frage, ob der Finaleinzug eines Teams verdient sei, ist stets müßig. Keine einzige Partie mit englischer Beteiligung war ein Spektakel. Spätestens nach Sterlings leichtem Fall gegen Dänemark (manche nennen es Schwalbe), dürften die kontinentaleuropäischen Sympathien eher an Italien hängen. Aber eine Fußball-Europameisterschaft ist kein Sympathie-Wettbewerb, und eine Mannschaft, die so gut presst und so ausgewogen angreift und so stark verteidigt, schafft in der Regel den Sprung ins Finale.

Southgate hat seine Mission längst erfüllt. Er hat mit all den alten, englischen Klischees aufgeräumt. Er hat seiner Nation eine Mannschaft geschenkt, die endlich, endlich die reelle Chance auf einen Titel hat. Die Mannschaft macht die Nation stolz. Wie sagt man „Wir sind wieder wer?“ auf Englisch?

Ein Turnier ohne herausragenden Spieler

Individuelle Awards im Fußball sind Mist, und doch fesseln sie die Massen, mich inklusive. Manchmal verraten sie auch etwas über den Fußball eines Turniers. In den vergangenen Turnieren war der Sieger dieser Kategorie häufig alternativlos. 2012 führte kein Weg an Andres Iniesta vorbei. 2016 gewann mit Antoine Griezmann der Torschützenkönig des Turniers auch den Preis als bester Spieler. 2018 konnte nur Luka Modric diese Auszeichnung erhalten, nachdem er seine Kroaten praktisch im Alleingang ins Finale geführt hatte.

2021 fällt diese Wahl deutlich schwerer. Es gibt nicht den einen Fußballer, der seine Mannschaft getragen und alle anderen Spieler überragt hat. Sollte Harry Kane keinen Doppelpack im Finale erzielen, erhält Cristiano Ronaldo die Torjäger-Krone. Ronaldo ist aber kein Kandidat für die Auszeichnung Spieler des Turniers. Auch sonst gibt es viele „Könnte ihn bekommen“-Kandidaten, aber keinen aus der Gewichtsklasse „Der muss es werden“.

Das ist kein Zufall. Die Halbfinalisten zeichneten sich allesamt durch ihre kollektive Spielidee aus, nicht durch einen oder mehrere herausragende Einzelkönner. Die Engländer verzichten sogar zumeist darauf, ihre individuelle Klasse im Sturm voll zu entfesseln. Kontrolle und Stabilität sind ihnen wichtiger als Spektakel und Einzelaktionen. Egal, ob Italien, Spanien oder England: Alle Teams hatten Erfolg, weil sie sich der Spielidee ihres Trainers untergeordnet haben.

Für Dänemark gilt das in gleichem Maße, und doch lassen sich hier am Ehesten Argumente finden, warum einzelne Spieler herausragten. Das beginnt schon in der Abwehr: Andreas Christensen wechselte häufiger die Positionen als jeder andere EM-Spieler. Seine Mischrolle aus Innenverteidiger und Sechser brachte die nötige Würze ins dänische Spiel.

Weiter geht es im Mittelfeld. Pierre-Emile Hojbjerg stellte sein ganzes Talent unter Beweis. (Manch ein Bayern-Fan dürfte eine kleine Träne vergossen haben.) Ob mit oder ohne Ball, ob im hohen oder tiefen Pressing, ob als Spieleröffner oder Chancenaufleger: Er war in allen Spielphasen präsent und wichtig für sein Team.

Im offensiven Mittelfeld entpuppte sich Mikkel Damsgaard als Entdeckung des Turniers. Er verfügt nicht nur über eine feine Technik, sondern auch über ein erhabenes Raumgefühl. Intelligent und blitzschnell sah und besetzte er Lücken in der gegnerischen Formation. Nicht nur einmal umspielten die Dänen das gegnerische Pressing über ihn. Noch plagen Kinderkrankheiten das Spiel des 21-Jährigen, etwa die minimal zu langsame Entscheidungsfindung am Ball. Den Titel als bester junger Spieler des Turniers dürfte er trotzdem sicher haben.

Und noch ein weiterer dänischer Akteur ragte aus der Masse heraus: Kasper Hjulmand. Während seine Trainerkollegen ihre Teams fast immer konservativ aufstellten und während des Spiels nur selten umstellten, griff er ständig ins Geschehen ein. Seine taktischen Wechsel gingen fast immer auf. Selbst als die Engländer im Verlaufe des Halbfinals die Partie immer mehr dominierten, half er seinem Team mit einer Umstellung auf ein 5-3-2, wenigstens etwas stabiler zu stehen.

Die individuellen Lichtblicke auf dänischer Seite strahlen zwar nicht hell genug, um als bester Spieler oder bester Trainer ausgezeichnet zu werden. Sie zeigen aber, dass die Dänen ein starkes Fundament besitzen, um auch 2021 in Katar wieder angreifen zu können. Zumindest sind sie auf dem besten Wege dorthin: Ihre Qualifikationsgruppe führen sie an.

Kurze Beobachtungen

  • Ich werfe einfach mal eine These in den Raum: Würden wir uns bei der EM 2032 befinden und nicht bei der EM 2021, wäre Sterlings Elfmeter nie und nimmer gepfiffen worden. Der Schiedsrichter wäre bei so einer wichtigen Entscheidung von selbst an den TV-Bildschirm gesprintet und hätte sich die Szene in Ruhe angesehen. Aktuell erleben wir die letzte Generation Profischiedsrichter, die noch ohne VAR sozialisiert wurde. Viele von ihnen sehen es als Schwäche, vom VAR überstimmt zu werden, und fürchten um ihre Autorität auf dem Platz. Einige stehen dem VAR sogar skeptisch gegenüber. Die nachfolgende Schiedsrichter-Generation wird wie selbstverständlich mit dem VAR und dessen technische Möglichkeiten aufwachsen. In einer solchen Situation wird sie sagen: „Leute, das ist das Halbfinale einer EM. Natürlich schaue ich mir das nochmal an.“
  • Ach ja, wo wir schon beim Thema Elfmeter sind: Ceterum censeo supplicium esse delendam. Das werde ich fortan bei allen strittigen Elfmeter-Entscheidungen sagen. Das Problem ist und wird immer der Elfmeter an sich sein. Solange keine gottgleichen Geschöpfe Spiele pfeifen, wird es immer Fehlentscheidungen geben. Die Frage sollte nicht sein: Wie eliminieren wir Fehlentscheidungen? Sondern: Wie sorgen wir dafür, dass eine schlechte Entscheidung kein ganzes Spiel entscheidet? Der Elfmeter ist einfach zu mächtig. Jedes noch so harmlose Foulspiel im Strafraum wird mit einer 75-prozentigen Torchance für den Stürmer geahndet, selbst wenn ein Stürmer sich vom Tor wegbewegt und gar keine Schussmöglichkeit besteht. In praktisch jeder Angriffssituation ergibt es aus statistischem Blickwinkel Sinn, auf Elfmeter zu gehen. Aber zu dem ganzen Komplex werde ich irgendwann noch einen längeren Artikel schreiben.
  • Man kann sich völlig zurecht über die himmelsschreiende Ungerechtigkeit des Sterling-Elfmeters aufregen. Eine ganz besondere Form der Korinthenkackerei ist es aber, nach einer solch diskussionswürdigen Szene mit erhobenem Zeigefinger darauf hinzuweisen, dass einige Sekunden vorher ein zweiter Ball auf dem Feld gelegen hatte. Nun, regeltechnisch hätte das Spiel sicherlich unterbrochen werden müssen. Genauso ist es gesetzesmäßig vollkommen korrekt, nach einem Banküberfall zu monieren, dass das Fluchtauto im Parkverbot stand. Manchmal führt ein zu hohes Maß an Penibilität dazu, dass man die falschen Prioritäten setzt – und am Ende echauffiert man sich dann über eine Petitesse anstatt über eine grobe Fehlentscheidung.
  • Auf Social Media habe ich vereinzelt das Argument vernommen, dass die Engländer im Turnierverlauf einen unfairen Vorteil hatten. Sie hätten fünf von sechs Spiele zu Hause gespielt und das auch noch vor teils voller Kulisse. Der Rest musste dauernd reisen oder durfte höchstens vor viertelvollen Stadien spielen. Das Argument mit dem Reisen stimmt in der Tat. Gerade gegen Dänemark hat man deutlich gespürt, dass ein Team aus Rom anreisen musste und das andere aus Baku. Das Argument mit den Heimspielen finde ich wiederum krude. In jedem Turnier hat eine Nation Heimvorteil. Diesmal hatten mehrere Länder die Chance, zumindest bis zum Viertelfinale zu Hause zu spielen. Und volle Stadien sind im Fußball nicht die Ausnahme, sondern die Regel, die nur Corona-bedingt gebrochen wurde. Große Turniere leben von dieser Heimatmosphäre! England hat die entsprechenden Leistungen in der Gruppen- und der K.O.-Phase gebracht und sich diesen Heimvorteil erarbeitet.

Leseempfehlungen

Spielverlagerung.com. Penalties and the magician: How Spain came close to reaching the final.

The Athletic. The evolution of England’s penalty preparations: From lottery to ‘systematic focus‘.

Werkstatt-Verlag. Kleine Geschichte von „Danish Dynamite“.

Das Titelbild zeigt das Wembley Stadium. Es stammt von M(e)ister Eiskalt, Lizenz: CC BY-SA 3.0.

4 thoughts on “Eschers EM-Tagebuch, Tag 27: We are someone again

  1. England will diesen EM-Titel. Um jeden Preis. Finde ich grundsätzlich auch irgendwo ok, auch wenn es vielleicht einen Trend einleiten könnte, dass man auf den Geist des Sports pfeift und dafür jede Regellücke ausnutzt. Ich meine damit weniger den Ergebnisfußball oder den Elfmeter – sondern eher diese Beobachtung, dass England konsequent auf Zeitspiel setzt, wenn das Ergebnis gerade passt. Und das mit einer Nonchalance und Kaltblütigkeit durchzieht, dass es weh tut. Sie „dürfen“ das auch, es macht auch Sinn, wenn man in Führung liegt und weiß, dass man ganz gut verteidigen kann. Sie spielen, um zu gewinnen – aber wenn sie am gewinnen sind, dann sind sie gemein und hässlich und lassen die anderen nicht mitspielen. Tiefe U-Zirkulation mit dem Ball oder „Konter an die Eckfahne“ ausspielen. Das ist schon was.

    Persönlich verstehe ich immer noch nicht, warum solcher Zynismus nicht noch häufiger auftritt. Bspw. der geschundene Elfmeter: Ein Klassiker. Aber so ein bisserl erwarte ich immer noch, dass Teams gezielt Bälle auf Hände und Ärme des Gegners spielen, um dadurch weitere Elfmeter und Freistöße zu generieren.

    Und zum VAR: Guter Punkt, dass die nächste Generation Schiedsrichter mit diesem Medium besser umgehen können wird. Ob das besser wird, wird man dann sehen, aber die Chancen sind da. Und vermutlich wird die Technik auch schneller/besser. Bspw. kein Monitor am Spielfeldrand, sondern vielleicht hat der Schiedsrichter ein Klapp-Display zur Hand und kann dort nachschauen.

    Generell stört die Überprüferei schon sehr. Das schon penetrante Überprüfen jedes Tors dämpft die Freude darüber sehr, weil man dauernd das gefühlt hat, beim Orgasmus bewertet zu werden und danach verlassen wird von seinem Partner, wenn dabei was nicht ok war. Einerseits ist es wichtig bei einem Low-Scoring-Spiel wie Fußball, andererseits wird die Sahne auf dem Kuchen schal, wenn jeder bedeutende Moment nicht direkt abgefeiert werden kann, sondern man oftmals erst aufs Tischgebet warten muss. :-\

  2. „ Die Mannschaft macht die Nation stolz. Wie sagt man „Wir sind wieder wer?“ auf Englisch?“

    It deffo was
    Football coming home 🏡 😊😊😊😊

    So drückten es unsere englischen Bekannten aus.

    LG, Nina

  3. Die Deutschen haben bei ihren Titelgewinnen ebenfalls selten bis nie den schönsten Fußball gespielt. Und hier in Deutschland hat das auch niemanden gestört. Hauptsache gewonnen. Weltmeister der Herzen waren 54 die Ungarn und 74 die Niederländer. Und 90 keine Ahnung aber nicht Deutschland. Selbst 2014 Hat Deutschland nur 2 Spiele (Portugal und Brasilien) richtig tollen Fußball gespielt. Deshalb sollten wir uns nicht zu sehr ärgern, falls die Engländer am Sonntag den Pokal nach oben strecken. Vielleicht sollten wir uns eher ärgern, dass die Engländer so ungefragt viele Elemente unsere Vergangenheit kopiert haben 😉

  4. Zu deinem Argument, dass England ja eine regulären Heimvorteil besäße und das ja bei Turnieren wie der Europameisterschaft eben normal wäre: Ja, es gibt in jedem Turnier einen Heimvorteil. Aber diese EM unterscheidet sich durch die Corona Situation von allen anderen Turnieren dadurch, dass das Stadion nicht nur voll besetzt ist sondern, dass der Anteil der Auswärtsfans verschwindend gering ist. Man möge nur an das Deutschland Spiel denken. Das ist tatsächlich ein Novum. Auch im Halbfinale bei der WM 2014 gegen Brasilien hatten sich verhältnismäßig viele deutsche Fans eingefunden, obwohl der Weg länger ist. Und bei Europameisterschaften generell sind die Wege zur Anreise für Fans nicht so lang, ergo auch der Anteil der Auswärtsfans höher. Von diesem Standpunkt ist es durchaus gerechtfertigt zu sagen England besitze einen im inter-EM- Vergleich größeren Heimvorteil als andere Nationen.

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