Eschers EM-Tagebuch, Tag 21: Schienenspieler, runter von der Schiene!

Herzlich Willkommen zu meinem EM-Tagebuch! In unregelmäßigen Abständen möchte ich an dieser Stelle meine Gedanken zur Fußball-Europameisterschaft 2021 teilen. Vor den Viertelfinals frühstücke ich ein paar allgemeine Themen ab. Es gibt Lob für die TV-Berichterstattung und etwas Kritik am Begriff „Schienenspieler“. Zwar sind Außenverteidiger die wichtigsten Spieler bei vielen Nationen – aber sie sind eben keine Schienenspieler!

EM-Berichterstattung: Tiefgründig und frisch

Jüngst erinnerte mich Twitter daran, dass ich bereits seit zwölf Jahren Mitglied dieses Netzwerks bin. Die wenigsten meiner Follower dürften die Anfänge meiner Twitter-Laufbahn miterlebt haben. Um das Jahr 2010 herum fing ich an zu bloggen und tapste meine ersten Schritte im Sportmedien-Geschäft. Meine liebste Beschäftigung war aber eine andere: Die TV-Fußball-Berichterstattung auf Twitter zerfleischen. Meine Tweets waren voll jugendlicher Hochnäsigkeit gegenüber dem Establishment.

Die TV-Sender gaben jedoch auch ein einfaches Ziel ab. Gerade ARD und ZDF taten alles dafür, damit Fußballnerds wie ich ihre Berichterstattung verachten. Man nehme die WM 2010 als Beispiel: Oliver Kahn wirkte bei seinen ersten Versuchen als Experte noch verlorener als Bastian Schweinsteiger im Jahr 2021. Gerhard Delling und Günter Netzer mimten die alten Herren aus den Muppets, nur mit noch mehr Gezeter und noch weniger konstruktivem Inhalt. (Dass irgendjemand sich dieses Duo zurückwünscht, lässt sich meinerseits nur durch nostalgische Verblendung erklären.) Taktikanalysen gab es damals im Fernsehen keine, geschweige denn irgendeine Analyse, die hinausging über Sätze wie „Ihre Körpersprache war schlecht“.

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Fast Forward elf Jahre. Im ZDF zanken sich Christoph Kramer und Peter Hyballa, ob die deutsche Mannschaft ein besseres Positionsspiel oder mehr „small deep runs“ gebraucht hätte. In der ARD sezieren Stefan Kuntz und Almuth Schult die Abwehrfehler vor Gegentoren, anstatt einfach nur auf die Mentalität zu verweisen. Die Co-Kommentatoren Thomas Broich, Sandro Wagner und Arane Hingst analysieren das Spielgeschehen während der Partie besser, als ich es nach Abpfiff könnte. Begriffe wie „abkippende Sechs“ oder „falsche Neun“ sorgen nicht mehr für Augenrollen bei den Expertinnen und Experten, sondern werden routiniert eingebaut.

Die EM-Berichterstattung im Jahr 2021 ist nicht nur überraschend tiefgründig, sondern vor allem erfrischend. Jahrelang kam es mir vor, als würden dieselben fünf Experten von Studio zu Studio gezerrt, um dann ihre immergleichen Meinungen abzusondern. Es ist schön, neue Gesichter zu sehen und damit auch neue Meinungen zu hören. Die Öffentlich-Rechtlichen haben sich hier von DAZN inspirieren lassen. (Fiesere Gemüter würden sagen: Sie haben Geld in die Hand genommen und DAZN die Experten weggekauft). Per Mertesacker oder Almuth Schult mögen nicht so routiniert auftreten wie Stefan Effenberg, der den Job seit über zehn Jahren macht. Dafür habe ich das, was sie zu sagen haben, nicht bereits tausendfach gehört.

Mir gefällt zudem, dass eine gewisse Lockerheit in die TV-Studios einkehrt. Die Sender versuchen, das Ran-NFL-Erfolgsmodell zu kopieren. Teilweise scheitert es krachend, etwa Jessy Wellmers und Bastian Schweinsteigers Versuch, die Dynamik von Florian Schmidt-Sommerfeld und Patrick Esume zu kopieren. Manchmal aber vermitteln die Experten tatsächlich das wohlige Gefühl, sie würden auch zusammen Fußball schauen, wenn sie dafür keinen dicken Scheck bekämen.

Möchte man auf ganz hohem Niveau kritisieren, könnte man der TV-Expertenriege eine gewisse Einförmigkeit unterstellen. Konflikt ist das Salz in der Suppe einer jeden Talkrunde. Das muss keinen Krawall bedeuten, sondern kann einfach heißen: „Du siehst das so, ich sehe das so!“ Zu häufig vertreten alle Teilnehmer der Runde dieselbe Meinung, und dann geraten die Sendungen zu einer großen Kopfnick-Veranstaltung.

Trotzdem: Es überwiegen die positiven Aspekte der Berichterstattung. Viel seltener als in der Vergangenheit bin ich genervt, wenn ich die Berichterstattung einschalte. Und das liegt definitiv an der Berichterstattung und nicht an der Milde des Alters. Dass ich mich durchaus noch immer über schlechte Berichterstattung zu echauffieren weiß, habe ich in den vergangenen Tagen bewiesen.

Schienenspieler, runter von der Schiene!

Kommt es nur mir so vor, oder feiert der Begriff Schienenspieler gerade seinen Durchbruch? Hyballa, Broich, Wagner: Sie alle werfen mit dem Begriff um sich, als wäre er seit Jahren fest etabliert. Ist er wahrscheinlich auch, nur hat er noch nicht den großen Sprung vom abgeschotteten Profibereich in die breite Medienlandschaft gefunden. Vielleicht ist er aber einfach nur an mir vorbeigegangen.

Schienenspieler, so habe ich es mir erschlossen, bezeichnet einen Außenspieler, der den Flügel herauf- und herunterrennt. Er soll die gesamte Länge des Platzes beackern: vom eigenen bis zum gegnerischen Strafraum. Er fährt quasi auf Schienen den Flügel entlang.

Dass dieser Begriff gerade bei dieser Europameisterschaft Hochkonjunktur erlebt, dürfte am Trend zur Fünferkette liegen. Innovativ ist die Fünferkette nicht; in der Bundesliga hat die Mehrzahl aller Teams vergangene Saison auf eine Fünferkette gesetzt. Bei dieser Europameisterschaft ist dieser Trend aber auch bei Nationalmannschaften so richtig angekommen. Fünf der acht Viertelfinalisten haben ihre Achtelfinal-Partien mit einer Fünferkette begonnen.

Bei den Fünferketten-Formationen kommt den Außenverteidigern die Aufgabe zuteil, weit nach vorne zu rücken. Sie sollen Breite schaffen in der vordersten Angriffslinie. Die Fünferkette ermöglicht es den Außenverteidigern, äußerst offensiv aufzutreten: Hinten sichern drei Verteidiger ab, es entsteht keine riesige Lücke in der Abwehrkette. Gerade bei den Spitzenteams sind die Außenspieler mehr Außenstürmer denn Außenverteidiger.

In vielen Teams ragen die Schienenspieler aus ihrer Mannschaft heraus. Deutschlands gesamte Spielidee beruhte darauf, dass Joshua Kimmich mit seinen Flanken Robin Gosens am zweiten Pfosten findet. Aber auch bei Dänemark, der Ukraine oder Belgien fallen die Außenspieler mit guten Leistungen auf.

Das ist in der Tat eine herausragende Stärke vieler Teams: Sie binden ihre Außenverteidiger so hoch im Angriffsspiel ein, dass sie am gegnerischen Strafraum den Ball erhalten. Die Außenverteidiger werden zu Angreifern. Das unterstreicht die Statistik: Zwölf Tore gingen laut Whoscored.com auf das Konto der „Schienenspieler“, 16 Tore haben sie vorbereitet. Die Außenverteidiger sind dabei längst nicht mehr reine Breiten- und Flankengeber. Sie starten diagonal, trauen sich in den Strafraum, suchen den Abschluss. Im Achtelfinale bereiteten bei England und bei Italien Außenverteidiger das wichtige 1:0 vor, Belgiens 1:0-Siegtreffer war sogar eine Koproduktion der Außenverteidiger.

Gerade aus diesem Grund stört mich die Metapher „Schienenspieler“. Die Außenverteidiger der heutigen Schule laufen eben nicht mehr nur wie ein Zug auf einer festen Schiene. Das Paradebeispiel ist Dänemarks Joakim Mæhle. Er bewegt sich immer wieder leicht ins Zentrum. Nicht nur schaltet er sich so aktiv in den Spielaufbau ein, er bringt sich am Strafraum auch immer wieder in Schussposition.

Die Rolle der Außenverteidiger ist vielfältiger geworden. Manche sind Fokusspieler im letzten Drittel, etwa Kimmich oder Oleksandr Zinchenko. Andere agieren als inverse Flügelstürmer und ziehen vor dem Strafraum in die Mitte, so etwa Thorgan Hazard oder Steven Zuber. Wiederum andere starten diagonal in den Sechzehner als Flankenabnehmer wie Robin Gosens oder Denzel Dumfries. Eine fest verlegte Schiene gibt es für Flügelspieler längst nicht mehr.

Und wenn man den Begriff Schienenspieler schon verwendet, sollte man bitte auch konsequent sein. Ein Sechser sollte fortan Drehkreuzspieler heißen, ein Wandstürmer Kopfbahnhof und ein grätschender Innenverteidiger eine Bahnschranke. So käme mal etwas Zug in die Fußballsprache!

Kurze Beobachtungen

  • Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber mein Herz für Außenseiter erschöpft sich spätestens im Viertelfinale. So schön es ist, wenn die Tschechen und die Schweizer die Arroganz ihrer Gegner bestrafen: Im Halbfinale möchte man dann doch erleben, dass sich die besten Spieler des Kontinents gegenüberstehen. Gerade bei Tschechien und der Ukraine denke ich mir: Es ist großartig, dass sie so weit gekommen sind. Aber die bisherigen Leistungen schreien nicht nach Titelkandidat. Doch der Fußball ist kein Wunschkonzert – und das ist auch gut so.
  • Dänemark habe ich ausdrücklich aus der Rechnung herausgenommen. Für viele waren sie schon vor dem Turnier ein Geheimfavorit – und das völlig zurecht, wenn man ihren Kader betrachtet. Gerade im direkten Vergleich mit Tschechien wird deutlich, wie viele Spieler von gehobenem Niveau in der dänischen Startformation stehen. Es sind wenig Weltklasse-Spieler, aber sehr viele Akteure, die Stammspieler bei 1B-Klubs sind. Dass sich ihr Trainer Kasper Hjulmand im Verlaufe des Turniers als Taktikfuchs entpuppt hat, macht sie gleich doppelt stark. Ich setze auf Dänemark – und das nicht aus fußballromantischen, sondern aus ganz rationalen Gründen.
  • Es gibt nur eine relevante Frage vor dem Spiel zwischen Spanien und der Schweiz: Wie wollen die Spanier Superstar Steven Zuber stoppen? Mit vier Assists ist er bester Vorlagengeber dieses Turniers. Tatsächlich muss Spanien sich überlegen, wie sie die Vorstöße der Schweizer über die Flügel kontern möchte. Ähnlich übermütig wie die Franzosen werden sie aber kaum in die Partie gehen. Zumal sich mir die Frage stellt, ob die Schweizer genug defensive Disziplin besitzen gegen Spaniens geduldige Positionsspiel-Angriffe. Ja, das Spiel gegen Frankreich war geil – aber die Schweizer haben drei Tore hinnehmen müssen, wie bereits in der Vorrunde gegen Italien. Das kann ein böses Erwachen geben.

Leseempfehlungen

The Athletic: One of Germany’s brightest coaches analyses England’s Wembley win and explains why Kane, Rice and Phillips deserve special mention.

Zeit Magazin: Manuel Gräfe: „Man braucht mehr Rückgrat, Joshua Kimmich Rot zu zeigen als einem Spieler von Arminia Bielefeld“

Süddeutsche: Machtkampf beim DFB: Versuch der Reinwaschung.

Das Titelbild „Fernsehkamera von Sky während eines Fußball-Spiels“ stammt von Steindy, Lizenz: GNU Free Licensing.

3 thoughts on “Eschers EM-Tagebuch, Tag 21: Schienenspieler, runter von der Schiene!

  1. Ich kann Ihnen nur beipflichten. Auch ich konnte mir die „Analysen“ in der Pause und nach den Spielen lange nicht antun. Aber bei dieser EM ist das Niveau diesbezüglich stark gestiegen.

  2. Das Duo Wellmer-Schweinsteiger (nicht Wilmer) ist leider sehr schwach. Bastian Schweinsteiger hat leider nicht viel Interessantes zu sagen. Ich erwarte von ihm keine großen Taktikanalysen, dafür sind andere da, aber er könnte Einblicke aus seiner Profizeit geben (Entscheidungsfindung als Spielgestalter usw.). Er hat ja auf sehr hohem Niveau als 6er/8er gespielt.
    So bleibt es bei schlechten Wortspielen, was vor allem an Wellmer liegt.

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