Eschers EM-Tagebuch, Tag 18: England, das neue Deutschland

Herzlich Willkommen zur bislang längsten Ausgabe des Tagebuchs! Es gibt viel zu besprechen. Was war das für ein Fußballfest am gestrigen Abend! Zwei 3:3-Ergebnisse nach regulärer Spielzeit, zwei Verlängerungen, ein Elfmeterschießen. Die Europameisterschaft liefert. Zugleich beschert uns das Achtelfinale den Triumph des Kollektivs über die Einzelspieler. Außerdem geht es heute ausführlich um das Spiel Deutschland gegen England und dort vor allem um die Trainer. Ich beleuchte die unterschiedlichen Herangehens- und Denkweisen von Joachim Löw und Gareth Southgate.

Ein Tag des Fußballs – und des Kollektivs

Nachdem Vladimir Petkovic seine Schweizer Mannschaft für die Verlängerung heiß geredet hatte, marschierte er noch einmal zu Granit Xhaka. Wild gestikulierend diskutierte der Coach mit seinem Kapitän. Xhaka hörte nicht nur zu, er antwortete ebenso gestenreich. Zusammen wandten sich Trainer und Kapitän an Admir Mehmedi, und wenige Sekunden später debattierte die halbe Mannschaft. Kevin Mbabu und Haris Seferovic sahen zunächst aus der Ferne zu, doch dann interessierte auch sie, was ihre Teamkollegen bereden. Plötzlich stand die gesamte Elf auf dem Feld, ohne dass sie jemand hier herbestellt hätte. Eine Mannschaft als lebender Organismus. Der Traum eines jeden Teambuilding-Seminarleiters.

Wir erleben in diesem außergewöhnlichen Achtelfinale der Europameisterschaft vieles. Tolle Spiele, natürlich. Mittelgroße Fußballnationen, die Europas Giganten ärgern oder gar aus dem Turnier werfen. Spieler, die gefühlt jeden Pass an den Mann bringen und selbst die schlechtesten Zuspiele noch verwerten können. Ein Turnier auf taktisch und technisch höchstem Niveau.

Vor allem aber erleben wir Siege des Kollektivs über Individualspieler. Diese Duelle ziehen sich wie ein roter Faden durch diese Europameisterschaft. Teams, die eine gemeinsame Spielidee verfolgen, triumphieren über Mannschaften, die nur ihren Einzelspieler vertrauen.

  • Österreich stellte Italien schachmatt mit einem starken Matchplan – ehe die Italiener doch die eine Verlagerung spielen konnten, die ihr Plan vorsah.
  • Die Tschechen warfen mit strikter Manndeckung die Niederländer aus dem Turnier, die sich mehr böse Blicke zuspielten als gelungene Pässe.
  • Die Dänen wachsen mit jeder Aufgabe, die man ihnen stellt. Vor allem aber wirken sie mit jedem Spiel mehr wie eine Einheit, mehr wie aus einem Guss. Ihre Disziplin hilft ihnen, jeden Matchplan und jede taktische Umstellung des Trainers perfekt auszuführen.
  • Die Spanier erdrückten die Kroaten mit ihrem Ballbesitz, vergaßen kurz ihre Stärken und waren dann in der Verlängerung doch das clevere Team.
  • Und dann, als Sahnekirsche oben drauf: Die Schweiz eliminierte Weltmeister Frankreich.

Kollektiv bekommt dabei eine neue Bedeutung. Es steht nicht mehr zwangsläufig dafür, dass ein kleiner Zwerg sich mit einer geschlossenen Defensivleistung (und viel Glück) einem stärkeren Gegner erwehrt. Kein Team hat im Achtelfinale solch einen Fußball gespielt.

Es geht darum, eine Spielidee gemeinsam zu entwickeln und zu verfolgen. Die erfolgreichen Teams setzen nicht nur auf Verteidigung, sondern präsentieren Ideen für das Spiel mit dem Ball. Sie gehen in jedes Spiel mit einem Matchplan, der zu den eigenen Stärken und den Stärken des Gegners passt. Kurz: Sie bauen nicht auf die Formel „Stabilität + Individualleistung = Turniersieg“, die Portugal 2016 und Frankreich 2018 zum Erfolg getragen hatte.

Letztlich ist diese Europameisterschaft nur die konsequente Weiterführung der vergangenen Champions-League-Spielzeiten. Auch hier gewannen Teams, deren Individualkönner sich einer kollektiven Spielidee verschrieben. Auch hier sahen wir dramatische, offensiv geprägte Fußballspiele, viel mehr Tore und auch viel mehr Torchancen boten als in der Vergangenheit.

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Die Gründe, welche hinter dem tollen Fußball dieser Euro stecken, sprengen den Rahmen dieses Tagebuch-Eintrags. Ich hatte ohnehin geplant, vor oder nach den Viertelfinals über die Trends dieser Europameisterschaft zu schreiben. Es wird viel gehen um das taktische und vor allem das technische Niveau der Teams, aber auch Themen wie Dreierketten und Defensivfehler müssen vorkommen. Das alles wird seinen Platz finden.

Aber nicht heute. Es steht ein anderer Leckerbissen auf dem Speiseplan: das Spiel Deutschland gegen England. Es dürfte eine Weiterführung dessen sein, was wir in diesem Achtelfinale bereits mehrfach erlebt haben: Auf der einen Seite eine hochtalentierte Elf, die (bisher) über ihre Einzelspieler und (noch) nicht als Kollektiv funktioniert. Auf der anderen Seite eine Mannschaft, deren Trainer in den vergangenen Jahren alles auf die Mission Titelgewinn ausgerichtet hat.

Wenn es so weitergeht wie gestern, erwartet uns ein Spektakel. Wenn sich aber die Tendenz der ersten Achtelfinals bestätigt, nämlich dass das Kollektiv am Ende über die Einzelspieler triumphiert: Dann dürfte es nicht gut ausgehen für Deutschland.

England, die neuen Deutschen

Nationale Stereotypen üben einen hohen Reiz aus. Nicht nur, aber auch im Fußball. Die Welt lässt sich schön auf kleine Formeln herunterbrechen. Ein Spiel dauert 90 Minuten – und am Ende gewinnen immer die Deutschen! Vor dem Spiel gegen England reproduzieren viele Medien dieses und alle anderen Klischees der vergangenen Jahrzehnte. Deutschland, die Turniermannschaft. Deutschland, die Elfmeter-Nation. Deutschland, der Angstgegner Englands.

Englands Coach Gareth Southgate erklärte auf der Pressekonferenz vor dem Achtelfinale: „Wir haben Jungs, die in den 2000ern geboren sind… Die Geschichte ist irrelevant für sie.“ Dass es selbst für diese Jungspunde nicht gänzlich irrelevant ist, räumte er wenige Sätze später ein. Er gab dem Ganzen aber einen besonderen Dreh: „Dieses Team hat einige historische Leistungen in den vergangenen Jahren erreicht. Sie haben ihre eigene Geschichte geschrieben und so blicke ich auf das Spiel. Es ist eine Chance.“

Historische Leistung, eigene Geschichte, Chance: Southgate liebt diese Begriffe. In den vergangenen Jahren war es sein erklärtes Ziel, das Selbstbild seiner Nationalelf zu drehen. Southgate war selbst dabei, als England 1996 im Halbfinale an Deutschland scheiterte. Er verschoss den entscheidenden Elfmeter. Fünfzehn Jahre später begann er seine Tätigkeit beim englischen Verband – und sah aus nächster Nähe, wie England in einem Turnier nach dem nächsten scheiterte.

In den vergangenen Jahren hat Southgate klar gemacht, dass die Zeiten des desorganisierten englischen Fußballs vorbei sein sollen. Nie wieder soll eine englische Mannschaft mit individuellem Hurra-Fußball an taktisch cleveren Gegnern scheitern. Nie wieder sollte sie mit Exzessen abseits des Platzes mehr Aufsehen erregen als mit Leistungen auf dem Rasen. Nie wieder solle sich ein Spieler in einem Trainingscamp wie in einem „Fünf-Sterne-Gefängnis“ führen, wie Steven Gerrard es einst formulierte. Er wollte die Klischees des englischen Fußballs widerlegen.

Was Southgate geschaffen hat, ist eine englische Nationalmannschaft, die ungleich seriöser und professioneller auftritt als noch vor fünf, zehn Jahren. Das Spielsystem des Teams mag kein Spektakel bieten, es ist aber angepasst an den Modus und die Begebenheiten eines K.O.-Turniers. Southgate läuft nicht den Meinungen der Fans hinterher, sondern stellt seine vermeintlich beste Elf auf.

Der Perfektionismus des Trainerteams nimmt schon fast pedantische Züge an. In ihrem Trainingsquartier haben die Engländer eine exakte Replik des Rasens des Wembley Stadiums gepflanzt: dieselbe Saatgutmischung, dieselbe Halmlänge, sogar das Mähmuster ist eins-zu-eins wie am Spielort in London. Southgates Medienteam kontrolliert jede Message, die nach außen dringt. Unter perfekt machen es die Engländer nicht mehr.

Für solch eine reibungslose Organisation war in der Vergangenheit Deutschland berüchtigt. Tatsächlich haben sich die Engländer viel von den Deutschen abgeschaut. Southgate spricht in höchsten Tönen über die Mentalität der deutschen Mannschaft, die in der Vergangenheit stets alle Widerstände überwunden habe.

Southgates England soll keine sich selbst überschätzende Fußball-Mittelklasse-Nation sein, die beim leisesten Anflug von Druck zusammenbricht. Er will eine perfekt geölte Maschine bauen, vor der die Gegner sich fürchten. Ein Sieg über Deutschland wäre ein Meilenstein, um seine Geschichte fortzuschreiben. Und um alte Klischees zu widerlegen.

Löws finale Mission

Die Geschichte vom Nationaltrainer, der das Selbstbild einer Fußballnation umkrempeln will, dürfte jedem Deutschen bekannt vorkommen. Joachim Löw mag schon so lange Nationaltrainer sein, dass wir ihn wie selbstverständlich als Teil des Establishments wahrnehmen. Als er 2004 mit Jürgen Klinsmann und Oliver Bierhoff begann, war er jedoch ein Außenseiter. Ein Trainer, der mit neuen Methoden und Denkweisen den deutschen Fußball revolutionierte.

Man mag sich nicht mehr daran erinnern, doch damals mussten Löw und Klinsmann gegen viele Widerstände ankämpfen. Es gab Schlagzeilen, weil die Beiden ihren Spieler das Grätschen verboten und plötzlich mit Fitness-Methoden aus den USA arbeiteten. Ihr taktischer und persönlicher Stil galt als zu offensiv, zu risikoreich für die deutsche Fußballnation. Nicht wenige hätten am liebsten so weitergemacht wie immer.

Im Kern war Löws Mission die umgekehrte Variante dessen, was Southgate heute versucht: Er musste einer Turniermannschaft beibringen, lockerer zu werden. Dass es im 21. Jahrhundert nicht mehr genügt, sich auf Mentalität und Kampfeskraft zu verlassen. Er entfesselte die Offensive, ließ zuerst sensationell-schnellen Konterfußball und später verschnörkelten Ballbesitzfußball spielen. Löw mag der Nation nur einen Titel geschenkt haben, dafür aber auch zahlreiche Abende mit Fußball, der begeisterte oder einem die Haare raufen ließ. Langweilig und stabil, das war die deutsche Nationalmannschaft nie. (Übrigens auch nicht bei ihrem WM-Sieg 2014, auch wenn da gerne anderes behauptet wird.)

In Deutschland fühle ich vor dem heutigen Achtelfinale zwei Schwingungen: Die eine Seite, die den Untergang nahen spürt, vielleicht sogar herbeisehnt. Die sieht, wie sich die Methode Löw und das offensive Spiel in den vergangenen Jahren abgenutzt haben. Aber auch eine andere, optimistische Seite. Die sagt: Irgendwie ist es immer gut gegangen unter Löw.

Und es stimmt ja auch: 2010 hätte vor dem Turnier niemand einen Pfifferling auf Deutschland gesetzt, 2014 nach dem Achtelfinale auch nicht. Erst vor zwei Wochen waren wir nach dem 0:1 gegen Frankreich gefühlt ausgeschieden, ehe das 4:2 gegen Portugal neue Hoffnung weckte. Am Ende hatte Löw stets noch den einen Pfeil im Köcher.

Dieser Pfeil könnte eine Überraschung in der Startelf sein. Was England macht, erscheint recht ausrechenbar: Fünferkette, hohes Pressing in der Anfangsphase, dann tiefer Rückzug. Löw könnte versucht sein, den Engländern eine Viererkette entgegenzustellen – einfach, weil die Engländer damit nicht rechnen und Vabanque-Spieler Löw so etwas macht.

So oder so: Die Rolle, die Löws Mannschaft in seinem vielleicht letzten Spiel einnimmt, ist eine gänzlich andere als vor 17 Jahren, als er zum DFB kam. Die deutsche Elf wird offensiv auftreten, anrennen, auf den Torerfolg spielen. Es wäre eine Ironie des Schicksals, wenn Löw ausgerechnet gegen Southgate ausscheidet – einen Trainer, der seine Nationalmannschaft auf dem umgekehrten Weg zum Erfolg führen will.

Kurze Beobachtungen

  • Emotionslose Spanien-Kroatien-Analyse, Teil 1: Missgünstige Menschen wären geneigt, mir meine gestrige Analyse der spanischen Elf vor den Latz zu knallen. Drei Gegentore gegen Kroatien! Verlängerung! Kontrollverlust! Ich bleibe cool und verweise darauf, dass Spanien den Gegner 105 von 120 Minuten klar dominierte. Einzig in der Schlussviertelstunde der regulären Spielzeit verloren sie den Faden. Das lässt sich sogar in Zahlen belegen. Bis zum 3:1 hatten die Spanier 70% Ballbesitz, zwischen dem 1:3 und dem 3:3 jedoch nur 35%. Sie wollten Konter erzwingen, anstatt den Kroaten mit Spielkontrolle den Zahn zu ziehen. In der Verlängerung berappelten sie sich wieder, sammelten erneut 70% Ballbesitz und erzielten zwei Tore. Unnötig spannend gemacht, würde ich nüchtern analysieren.
  • Emotionslose Spanien-Kroatien-Analyse, Teil 2: Beim Stande von 1:3 sah sich Kroatiens Coach Zlatko Dalic gezwungen, jeden nur halbwegs offensiven Spieler aufs Feld zu schicken. Es funktionierte. Doch beim Stande von 3:3 hatte Kroatien plötzlich eine viel zu offensive Elf auf dem Feld. Was zu der kuriosen Situation führte, dass Josip Brekalo plötzlich Rechtsverteidiger spielen musste. Auf der rechten Seite kam der Wolfsburger in dieser Saison selten zum Einsatz, und als Außenverteidiger gar nicht. Beide Treffer in der Verlängerung fielen nach einer Spielverlagerung auf Brekalos Seite. Gerade beim ersten Treffer machte er so ziemlich alles falsch, was man als Außenverteidiger in dieser Situation falsch machen kann. Die offensive Aufstellung, die Kroatien in die Verlängerung geführt hatte, war zugleich der Grund, warum sie die Verlängerung verloren.
  • Bislang hat uns diese Europameisterschaft nur wenige taktische Experimente beschert. Dänemark und Österreich waren die einzigen Teams, die regelmäßig ihre Formation angepasst haben. Viele Trainer setzen auf eingespielte Abläufe und scheuen das Element der Überraschung. Zugleich bedeutet das aber auch, dass wir bisher noch nicht allzu viele richtig miese Anpassungen erleben mussten. Der gestrige Abend war eine Ausnahme. Frankreichs Idee, dem Schweizer 3-4-3 ein eigenes 3-4-3 entgegenzustellen, ging in die Hose. Aber mal so richtig gründlich. Die Umstellung half den Schweizern, direkte Zuordnungen herzustellen und das Aufbauspiel der Franzosen lahmzulegen. Da zudem sämtliche Spieler der Fünferkette ihre Rollen schlecht ausführten und teilweise katastrophale Leistungen zeigten, konnten die Franzosen die erste Halbzeit komplett vergessen. Das war vielleicht nicht der gewichtigste, aber ein Faktor für das französische Ausscheiden. Es unterstreicht die Linie der risikoscheuen Trainer: Ein taktischer Fehler kann in einem K.O.-Turnier den Unterschied machen.

Leseempfehlungen

11 Freunde: Jogi Bonito. Ein Nachwort.

The Guardian: Luis Enrique’s Spanish revolution takes nerve-shredding step forward

Miasanrot EM-Blog: So kommt Deutschland ins Viertelfinale.

Das Titelbild, das Gareth Southgate und Harry Kane zeigt, stammt von Кирилл Венедиктов, Lizenz: CC BY-SA 3.0.

2 thoughts on “Eschers EM-Tagebuch, Tag 18: England, das neue Deutschland

  1. Liebe dieses Tagebuch! Lese jeden Tag eifrig.

    Mini Korrekturvorschlag: Ende 5. Absatz in „England, die neuen Deutschen“ sagst du, Southgate stellt seine „vermeintlich“ beste Mannschaft auf. Vermeintlich heißt man hat sich „vermeint“, es enthält also eine Wertung, dass Southgate eben nicht wirklich seine stärkste 11 aufstellt, weil er falsch einschätzt, wer dazu zählt.
    Aus dem Kontext vermute ich, dass das nicht beabsichtigt war, sondern eher sowas wie die „vermutlich beste Mannschaft“ gemeint war. Oder ich bin blöd, dann vergiss was ich gesagt habe.

    Beste Grüße, freue mich auf den Eintrag morgen.

  2. Holy Shit. Ich selbst bin absolut kein Fußball-Fan, schaue aber die EM mit wachsender Begeisterung. Dies liegt nicht zuletzt an diesem Blog – die Geschichten um die jeweiligen Kontrahenten und deren „Meta-Game“ sind jeweils so gut herausgearbeitet, dass ich einfach Live und in Farbe wissen MUSS, wie das Spiel läuft und wie der in deinen Artikeln stets eloquent herausgearbeitete Spannungsbogen ausgeht. Vielen Dank Tobias Escher, du bist Großartig.

    P.S.
    Ich weiß jetzt, was Vabanque heißt und ich werde nicht zögern, es einzusetzen!

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