Eschers Tagebuch, Tag 16: Taktische Meisterleistungen

Was war das für ein Auftakt in die K.O.-Phase dieser Europameisterschaft! Die Spiele zwischen Dänemark und Wales sowie Österreich und Italien boten tollen Fußball – vor allem aus taktischer Sicht. In meinem EM-Tagebuch seziere ich die ersten Achtelfinals. Wieso war Dänemarks Umstellung so gut? Was haben die Österreicher richtig gemacht? Und was können andere Nationen daraus lernen?

Über Umstellungen und Lösungen im Ballbesitz: Dänemark

Zunächst einmal muss ich Abbitte leisten. Mein Vorausblick auf das Spiel Wales gegen Dänemark hätte falscher kaum sein können. Das langweilige 0:0-Spiel, das ich vorhergesagt habe, entpuppte sich als schnelles, von Strafraum zu Strafraum wogendes Spektakel, in dem Dänemark nach einiger Zeit die Oberhand gewann. Sie verdienten sich den Viertelfinal-Einzug – auch dank einer taktischen Meisterleistung.

Die Partie war keine zehn Minuten alt, als Dänemark erstmals taktisch umstellte. Zuvor hatten sie herbe Probleme, in Ballbesitz zu gelangen. Mit ihrer 5-2-3-Formation hatten sie eine Unterzahl im Mittelfeld gegen das walisische 4-3-3. Aus dem Zentrum spielten die Waliser immer wieder den schnellen Pass nach Rechtsaußen zu Gareth Bale.

Dänemark reagierte. Andreas Christensen löste sich aus der Fünferkette und rückte vor ins Mittelfeld. Die Dänen konterten somit die Drei-gegen-Zwei-Überzahl und schufen eine Drei-gegen-Drei-Gleichzahl. Das Defensivstabil der Dänen wirkte gleich viel stabiler.

Was folgte, war der feuchte Traum eines jeden Fußballanalysten – und der noch feuchtere Traum des Trainers, der sich die Umstellung ausgedacht hatte. Nur wenige Minuten nach der Umstellung fiel das 1:0, und zwar nach einem Angriff, der in seiner Reißbrett-Artigkeit ein direktes Produkt der taktischen Umstellung war.

Die Dänen nutzten geschickt die Mannorientierungen des walisischen Mittelfelds aus. Bereits zuvor zog das dänische Dreier-Mittelfeld das walisische Dreiermittelfeld auf sich. Die Aufgabe von Mikkel Damsgaard lautete, sich hinter das walisische Dreiermittelfeld zu schleichen und sich in der entstehenden Lücke anzubieten.

Nicht immer bedeuten solche taktischen Kniffe, dass ein Spieler freisteht. Auch in dieser Szene steht Damsgaard initial nicht frei; Ramsey deckt den Passweg zu ihm ab. Die Positionierung von Damsgaard und Delaney sorgt aber dafür, dass Ramsey eine Entscheidung treffen muss. Tief fallen lassen und zu Damsgaard orientieren? Nach vorne rücken und zu Delaney orientieren? Ramsey macht von Beidem ein bisschen – und damit nix richtig. Als Delaney den Ball erhält, rückt Ramsey halbgar heraus. Er ist dadurch nicht mehr rechtzeitig bei Damsgaard, als dieser den Ball von Maehle erhält. Die Dänen können den Angriff schnell zu Ende spielen, am Ende trifft Dolberg. Dieser taktische Vorteil, ja, sogar der ganze Spielzug entstand erst durch die Umstellung der Dänen.

Zugleich möchte ich damit zu einem größeren Punkt überleiten. Dieser Tage wird in Deutschland wieder viel debattiert, wie sich Ballbesitz in Chancen ummünzen lässt. Das Gesprächsthema ergibt sich zwangsläufig, betrachtet man die deutschen Spiele gegen Frankreich und Ungarn. Deutschland hatte viel Ballbesitz, aber wenige Chancen. Wie ließe sich das ändern?

Es wird in dieser Debatte viel mit Begriffen und Mantras gearbeitet, die wenig konkret und in der Praxis auch wenig hilfreich sind. Die beliebtesten Sprüche lauten: „Es fehlt die Bewegung“ (ja, wohin denn bewegen?) und „Es braucht mehr Läufe in die Tiefe“ (wie Christoph Kramer im ZDF so schön sagte: Wenn man am gegnerischen Strafraum in die Tiefe sprintet, landet man im Aus).

Solche Pauschallösungen sind im Fußball selten nützlich. Die Angreifer im Spiel stehen im Spiel vor konkreten Situationen, in denen sie konkrete Lösungen finden müssen. Sich einfach irgendwie zu bewegen oder in die Tiefe sprinten, hilft da wenig. Es braucht Lösungen, die handgemacht sind für den Gegner und für die eigenen Stärken der Mannschaft.

Und genau dabei hat die dänische Umstellung geholfen: Die Dänen haben eine numerische Überzahl im Zentrum geschaffen, die sie ausnutzen konnten. Damsgaard bewegt sich nicht um der Bewegung willen. Sein Lauf ins Zentrum folgt einem bestimmten Plan. Der Plan geht nur auf, da Damsgaards Bewegungen auf das taktische Umfeld abgestimmt sind und zu den Bewegungen seiner Mitspieler passen.

Der zweite wichtige Punkt: Für eine angreifende Mannschaft muss es immer darum gehen, Verteidiger zu Entscheidungen zu zwingen. Das beste Ballbesitzsystem und die beweglichste Angriffsreihe helfen nichts, wenn die gegnerischen Verteidiger ihren Stiefel herunterspielen können. Wenn ein Verteidiger keine Wahl treffen muss, warte ich als angreifende Mannschaft einfach nur darauf, dass er von sich aus einen Fehler begeht – und das passiert im modernen Fußball recht selten. Wenn ein Verteidiger vor der Wahl steht, X oder Y zu tun, kann ich ihn zu einem Fehler provozieren.

Ramseys Positionierung ist hier das ideale Beispiel: Die Dänen besetzen den Raum um ihn herum so, dass er wählen muss. Dass er sich nicht richtig entscheiden mag, ob er nun Damsgaard, Delaney oder den Raum decken soll, trägt maßgeblich zum dänischen Torerfolg bei. Je öfter die Verteidiger Entscheidungen treffen müssen und je schwieriger diese Entscheidungen sind, umso größer die Chancen auf einen Fehler.

Damit wären wir wieder bei den Dänen. Sie zwangen die Waliser zu zahlreichen Fehlern, nicht zuletzt aufgrund der taktischen Klasse des Trainerteams. Im Spielverlauf stellten sie noch auf 5-3-2 und 5-4-1 um. Der Viertelfinaleinzug war zu keiner Zeit gefährdet.

Über einen starken Matchplan und späte Wechsel: Österreich

Das größte Kompliment, das man den Österreichern nach diesem wunderbaren Fußballabend machen kann: Sie ließen die Italiener aussehen wie Italiener. Niemand singt nach dieser Partie Lobeshymnen über die „neuen Italiener“, über deren schönes Spiel und die Ästhetik ihrer Angriffe. Stattdessen fiel die Squadra Azzurra zurück in überwunden geglaubte Klischees. Sie schimpften, sie gestikulierten, sie rollten theatralisch auf dem Boden. Am Ende stellten sie sich hinten herein, nur um die Führung über die Zeit zu rücken. Italien war wieder Italien.

Meine fehlgeleitete Prognose für das Spiel Wales gegen Dänemark kränkt mich in meiner Analystenehre. Deshalb verzeihen Sie mir, liebe Leserinnen und Leser, den folgenden Anfall von Arroganz. Aber die Dynamik der Partie Österreich gegen Italien habe ich überraschend gut vorhergesagt.

Tatsächlich hatte sich das Trainerteam um Franco Foda etwas ausgedacht, um die Italiener zu stoppen. Auf deren starker halblinker Seite stellte Foda ein Pressing-Triumvirat auf: Konrad Laimer, Xaver Schlager und der herüberrückende Marcel Sabitzer verdichteten den Raum um Marco Verratti und Jorginho. Auf ihrer Lieblingsseite mussten die Italiener ihren Ballbesitz meist in toten Zonen ausspielen.

Nach Ballgewinnen konnten die Österreicher wiederum auf ihre starke halblinke Seite setzen. Sabitzer und Linksverteidiger David Alaba hielten die Kugel und sorgten dafür, dass die Italiener vergleichsweise wenig Ballgewinne im Gegenpressing erzielten.

Die Österreicher deckten zudem eine Schwachstelle im italienischen Spiel auf, die bislang ungeprüft blieb: Bei hohem Pressing neigen die Italiener dazu, etwas hektisch den vertikalen Pass zu spielen. Manchmal funktionierte das überraschend gut, als sie mit Lupfern die Dreierreihe in der Offensive fanden. Oft ließen sich die Italiener aber zu hoffnungslosen Kontern verleiten und verloren schnell wieder den Ball.

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Die Österreicher werden nach dem starken Auftritt zurecht gelobt. Ich möchte an dieser Stelle den Scheinwerfer etwas drehen und eine andere Frage beleuchten: die späten österreichischen Wechsel. Erst in der 90. Minute zog Trainer Franco Foda seine erste Wechseloption. Bis zur Halbzeitpause der Verlängerung hatten die Österreicher erst zwei Wechsel getätigt. Sie spielten also praktisch 105 Minuten lang mit ihrer Startelf – und das, obwohl sie eine höchst lauf- wie kampfintensive Taktik gewählt hatten.

Muss Foda sich nun den Vorwurf gefallen lassen, nicht früher reagiert zu haben? Das sind immer „Hätte, würde, könnte“-Spielchen. Vielleicht hätte Österreich noch ein weiteres, reguläres Tor erzielen können, wenn sie fittere Spieler auf dem Platz gehabt hätten. Vielleicht wäre vor dem 0:1 ein fitterer Spieler besser in den Zweikampf mit Federico Chiesa gelangt als der ausgepowerte Konrad Laimer. (Ich sah beim Gegentor aber ohnehin eher einen Stellungsfehler von Alaba.)

Für Foda dürfte es hingegen eine schwere Wahl gewesen sein. Was machst du, wenn deine Spieler gerade das Spiel ihres Lebens abliefern? Wenn jeder einzelne seine taktische Rolle perfekt ausführt? Wenn es weder von der taktischen noch von der individuellen Leistung her Ansatzpunkte für eine Verbesserung gibt? Wenn jede Veränderung das Gleichgewicht dieser Mannschaft potentiell stören könnte?

Viele Trainer hätten trotzdem gewechselt. Nicht selten habe ich das Momentum eines Spiels kippen sehen, nachdem ein Trainer zwei oder drei Wechsel vornahm. Klar, müde Spieler auszuwechseln, scheint immer eine gute Entscheidung zu sein. Zu selten wird aber einkalkuliert, dass auch die eingewechselten Spieler einige Minuten brauchen, ehe sie im Spielfluss sind – falls sie überhaupt ins Spiel finden. Den richtigen Moment abzupassen, ist gar nicht so einfach.

Ich fand es daher nachvollziehbar, dass Foda seine Jungs hat machen lassen. Dass er seine Startelf so lange laufen ließ, bis die Spieler vom Feld kriechen mussten. An Foda lag es keinesfalls, dass Österreich im Achtelfinale ausschied. Eher haben wir dem ÖFB-Trainer zu verdanken, dass wir ein so großartiges Spiel erleben durften.

Kurze Beobachtungen

  • Haben Sie eine Minute Zeit, um über unseren Herrn und Erlöser Joakim Maehle zu sprechen? Er hat gestern wieder eine großartige Leistung gezeigt als Linksverteidiger Dänemarks. Eine Position, die er bei seinem Klub nicht spielen kann, weil hier bereits Robin Gosens aufläuft. Was wieder einmal beweist, wie unfassbar gut das Scouting von Atalanta Bergamo funktioniert. Dass sie die Außenpositionen mit zwei der interessantesten, aber auch unbekanntesten Figuren des europäischen Spitzenfußballs füllen: Wahnsinn.
  • Der dänische Sieg erinnert mich daran, als ich zusammen mit Michiel de Hoog im Schalker Büro von Christian Heidel saß. Wir sprachen über Hjulmand, den Heidel 2014 nach Mainz geholt hatte. Wortreich erklärte uns Heidel, was für ein ausgewiesener Fachmann Hjulmand sei. Heidel mochte den Prozess, den er als Nachfolger von Tuchel angestoßen hatte. Er hätte ihn dennoch entlassen müssen, denn – nach Meinung Heidels – wäre Mainz mit Hjulmand abgestiegen. Dieses Schicksal blüht ihm als dänischer Nationaltrainer nicht. Das Märchen geht weiter.
  • Sieben Stunden und vierzig Minuten: So lange dauert ein Flug von Amsterdam nach Baku. Diesen Flug darf nun die dänische Mannschaft antreten, um dort gegen die Niederlande oder Tschechien zu spielen. Der Sieger dieses Viertelfinals darf wiederum zurückreisen nach London zum Halbfinale. Der Gegner dort fliegt aus Rom ein. Das Team, das aus Baku anreist, erhält nicht einmal einen Tag länger Pause. Das dürfte sich noch als echter Wettbewerbsnachteil herausstellen. Und stellt die Frage auf, in wessen Interesse solche Planungen eigentlich sind. Im Interesse der Sportler sicher nicht.
  • Während ich gestern einen eher ruhigen EM-Tag vorausgesagt habe, gehe ich heute von mehr Spektakel aus. Die vier Teams, die heute antreten, überzeugten allesamt offensiv mehr als defensiv. Die Tschechen könnten durchaus die Lücken des niederländischen Manndeckung-Systems finden – und umgekehrt. Belgien und Portugal wiederum setzen auf individuelle, nicht auf kollektive Klasse. Ich hoffe auf Spektakel und Tore. Meine Quote bei solchen Vorhersagen ist aber nicht allzu gut. Darum dürften wir heute zwei langweilige Spiele sehen.

Leseempfehlungen

Grace Robertson: Why International Teams Don’t Play the Way You Expect.

The Guardian: Can Belgium’s world-beaters win a major trophy? It may be now or never.

90Plus: Mit 80 Spielen zur EM 2021: Die Belastung der Spieler in der Datenanalyse.

Das Titelbild mit der dänischen Flagge stammt von Erik Lyngsøe auf Pixabay.

One thought on “Eschers Tagebuch, Tag 16: Taktische Meisterleistungen

  1. Wenn die Dänen ims Halbfinale kommen, haben sie seit dem Achtelfinale zwei Tage mehr Pause als ihr Gegner. Also die UEFA-Planer haben das – soweit bei den Spielorten möglich – schon ziemlich gut gemacht.

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